Akut zentral-vestibulärer Schwindel: Die Mischung macht’s
Autor:
Dr. Felix Schwarz
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: felix.a.schwarz@meduniwien.ac.at
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Schwindel ist ein sehr häufiges und unspezifisches Symptom, das bei ordentlicher und umfassender Abklärung jedoch sehr wohl einer klaren Ursache zuzuordnen ist. Hierzu ist jedoch ein Wissen um die Ätiologie und Pathomechanismen, die zu Schwindel führen können, notwendig.
Keypoints
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Ein akut vestibuläres Syndrom ist ein >24h anhaltender Schwindel mit den Begleitsymptomen von Übelkeit/Erbrechen zusammen mit Gangunsicherheit/Fallneigung und/oder Augenbewegungsstörungen.
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Eine Differenzierung zwischen akuten peripher-vestibulärem und akut zentral-vestibulärem Syndrom lässt sich nur in Zusammenschau aller Befunde machen. Hierzu eignet sich z.B. die HINTS-Testbatterie.
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Nur die peripheren Arten von Nystagmus sind definiert. Alles, was von diesen Definitionen abweicht, muss als zentral gewertet werden. Selbst ein peripher anmutender Nystagmus mit pathologischem KIT, der andere Zeichen einer mesenzephalen oder zerebellären Beteiligung hat, muss als zentral gewertet werden.
Schwindel und Okulomotorik
Grundsätzlich handelt es sich bei Schwindel um eine Art Fehlermeldung bei inkongruenten Afferenzen aus den verschiedenen für unser Gleichgewicht wichtigen Organsystemen.
Ätiologisch wird die Ursache von Schwindelsymptomen in vier Gruppen unterteilt: peripher-vestibulärer und zentral-vestibulärer Schwindel, kardiovaskulärer Schwindel und somatoformer Schwindel. Dieser Artikel beschäftigt sich vor allem mit dem akut aufgetretenen zentral-vestibulären Schwindel, soweit das isoliert und ohne Berücksichtigung der peripher-vestibulären Mechanismen möglich ist.
In der Schwindeldiagnostik spielen, abgesehen von einer ausführlichen Anamnese, die Augen bzw. die Okulomotorik eine entscheidende diagnostische Rolle. Klinisch wird der Patient mit verschiedenen Provokationsmanövern auf pathologische Augenbewegungen untersucht. Diese pathologischen Augenbewegungen unterteilen sich in Defizite der Blickhaltefunktion, der langsamen Blickfolge und der schnellen Einstellbewegung. Diese Funktionsprüfungen sind der Bildgebung, vor allem in der akuten Diagnostik, überlegen.
Eine akut entstandene vestibuläre Asymmetrie wird vom Körper als ständige Beschleunigung gedeutet, und entsprechende reflektorische Reaktionen werden generiert. Diese Reaktionen können klare Hinweise auf den Läsionsort liefern.
Ein Nystagmus, ein Zeichen der vestibulären Dysfunktion, besteht aus zwei Phasen:einer langsamen Phase,in der das Auge von dem Ziel abdriftet, und einer darauf folgenden schnellen Wiedereinstellung auf das Ziel. Hinweise auf den peripheren Ursprung eines Nystagmus können anhand von definierten Gesetzen gefunden werden. Die Alexander-Gesetze oder Ewald’schen Gesetze beschreiben die Eigenschaften eines Nystagmus, der aus dem peripheren Gleichgewichtsorgan kommt. Sollte der Nystagmus sich von dem in den Gesetzen beschriebenen unterscheiden, ist er als zentral-vestibulär zu interpretieren.
Die langsame Blickfolge ist wichtig, um bei aktiver oder passiver Bewegung oder in Ruhe ein entferntes sich bewegendes Ziel auf der Fovea halten zu können.
Um auch isolierte Bewegungen unseres Kopfes oder Rumpfes kompensieren zu können, steht uns der vestibulookuläre Reflex (VOR) zur Verfügung, der reflexmäßig die Fovea, den Ort des schärfsten Sehens, auf dem unbewegten Ziel stabil hält. Bei dem Reflex kommt es zu Ausgleichsbewegungen der Augen in Gegenrichtung der Körper- oder Kopfbewegungen bei Bewegungen unseres Kopfes. Eine verlangsamte Reaktion des VOR wird als Einstellbewegung beim sogenannten Kopfimpulstest (KIT) sichtbar und zeigt eine Schädigung des N. vestibularis an (Abb. 1).
Abb. 1: Kopfimpulstest: Zur richtigen Durchführung wird der Kopf des Patienten durch den Untersucher mit kleiner Amplitude (5–10°), aber hoher Beschleunigung (3000–4000°/s) gedreht
Sakkaden sind schnelle Augenbewegungen, um ein Blickziel in der Umgebung rasch zu erfassen. Sie müssen physiologisch möglichst schnell auslösbar sein, genau das Ziel ansteuern können und in der Horizontalen und Vertikalen funktionieren. Sakkadenstörungen selbst erzeugen keine Schwindelsymptomatik, können aber auf eine zentrale Genese hinweisen.
Interpretation
Wichtig ist es, all die Symptome im Zusammenhang zueinander zu interpretieren. Nur bei absolut 100%iger Übereinstimmung der Symptome mit Hinweis auf eine akut peripher-vestibuläre Störung ist diese anzunehmen. Das geringste Abweichen sollte eine kraniale Bildgebung mittels MRT nach sich ziehen.
Als Entscheidungshilfe hierfür existiert die Untersuchung mittels HINTS – ein Akronym, das für „head impulse (Kopfimpuls) test“, Nystagmus und „test of skew“ steht. Nach Testung all dieser Funktionen kann in Zusammenschau eine Entscheidung bzgl. der Ursache des Schwindels getroffen werden.
Zentren der Okulomotorik
Medulla und Pons
Alle Afferenzen aus dem peripheren Gleichgewichtsorgan gehen im ipsilateralen N. vestibularis ein. Dieser liegt im Hirnstamm auf Höhe des Überganges zwischen Pons und Medulla. Ebenso gehen hier die Afferenzen aus dem Tractus vestibulospinalis von kaudal ein, der Informationen an den Ncl. vestibularis bzgl. Kopf- und Körperhaltung bringt.
Ebenfalls in der Medulla finden sich die Blickzentren für willkürliche horizontale Augenbewegungen. Hier werden die horizontalen Sakkaden initiiert bzw. wird die horizontale Blickhaltefunktion gesteuert.
Weiter kranial im Bereich des Mesencephalons sitzen die entsprechenden Blickzentren für die willkürlichen vertikalen Augenbewegungen. Genau wie in der Medulla werden hier vertikale Sakkaden initiiert und die vertikale Blickhaltefunktion wird generiert.
Bei einer Ischämie im Bereich der Arteria cerebelli posterior inferior (PICA) kann es also zu Schädigungen dieser Funktionen kommen und einem daraus resultierenden Symptomkomplex, der als Pseudoneuritis bezeichnet wird, da er leicht mit dem klinischen Bild einer Neuritis vestibularis verwechselt werden kann.
Das liegt daran, dass im Falle der Schädigung eines der Blickhaltezentren sowohl ein horizontaler Spontan- (SPN) als auch Blickrichtungsnystagmus (BRN) entstehen kann. Wichtig ist hier, dass im Falle einer zentralen Ursache der BRN die Richtung wechseln kann. Auch zu beachten ist, dass im Falle einer peripheren Ursache der SPN vom fraglich geschädigten Ohr zur Gegenseite des pathologischen KIT wegschlagen muss. Ein rein vertikaler oder torsioneller Nystagmus ist aber prinzipiell immer als zentral und pathologisch zu werten (Abb. 2).
Abb. 2: Zentraler und peripher-vestibulärer Nystagmus (modifiziert nach Kim JS 2004). A: Hier werden die durch die einzelnen Bogengänge initiierten Arten von Nystagmus dargestellt. B: Erklärung, warum ein vertikaler bzw. rein torsioneller Nystagmus als zentral zu werten ist:(B1) Nur eine Kombination aus der isolierten Stimulation des rechten und linken anterioren Bogenganges kann peripher zu einem Upbeatnystagmus, bzw. des posterioren Bogenganges zu einem Downbeatnystagmus führen. (B2) Ein rein torsioneller Nystagmus kann nur in Kombination der isolierten Stimulation des ipsilateralen posterioren und anterioren Bogenganges entstehen. All diese Fälle (B1 und B2) sind äußerst unwahrscheinlich. (B3) Muster eines klassischen peripheren Nystagmus bei Ausfall der linken Seite. Durch den Ausfall links gleichen sich die kontralateralen Bogengänge nicht mehr aus, der SPN schlägt nach rechts mit torsioneller Komponente
Weitere Red Flags sind durch eine ausgiebige weitere Prüfung der Okulomotorik auszuschließen. So kann bei Schädigung deroben genannten Blickzentren eine Verlangsamung der Sakkaden beobachtet werden. Wenn Patienten aufgefordert werden, schnellvon einem Ziel zu einem anderen zu schauen, kann man hier, je nach betroffener Seite, ein „Nachhinken“ des ipsilateral zur Schädigung sitzenden Auges beobachten.
Bei einseitiger Schädigung der Afferenzen aus dem Utriculus kann es zu einer vertikalen Schielstellung kommen. Im Gegensatz zur physiologischen latenten horizontalen Schielstellung ist diese sogenannte „skew deviation“ immer hochsuspekt für eine zentral-vestibuläre Störung. Hierbei kommt es auf einem Auge zu einer vertikalen Abweichung, die oft kompensiert werden kann und klinisch erst durch den sogenannten Abdecktest demaskiert wird. Klinisch kann hier auch die Messung der subjektiven visuellen Vertikalen helfen. Nach Objektivierung ist eine Abweichung >2° als zentral pathologisches Muster zu werten, das oft mit der „skew deviation“ vergesellschaftet ist.
Auch eine horizontale Abweichung beider Augen in eine Richtung nach Augenöffnung kann Hinweise auf eine Schädigung der zentralen Bahnen im Bereich des Hirnstammes geben. Hierzu fordert man den Patienten auf, einen nahegelegenen Gegenstand zu fixieren und die Augen zu schließen, bei erneutem Öffnen kommt es dann zu einer deutlichen horizontalen Einstellbewegung.
Cerebellum
Das Kleinhirn (Cerebellum) erhält Informationen sowohl aus dem Hirnstamm als auch aus höher gelegenen motorischen Zentren (Thalamus) und ist für die Feinabstimmung verschiedener Bewegungen zuständig, aber auch für Gangstabilität, Körperhaltung und Rumpfkontrolle.
Das Vestibulocerebellum mit seinen Kerngebieten des Nodulus und der Uvula auf der einen und dem Flocculus und Paraflocculus auf der anderen Seite sowie dem Nucleus fastigii ist evolutionär der älteste Teil des Kleinhirns und für die genannten Funktionen zuständig.
Versorgt wird das Kleinhirn durch die PICA, aber auch durch die Arteria cerebelli anterior inferior (AICA). Die AICA endet als A. labyrinthi und eine Ischämie kann mit einem Hörverlust einhergehen, was klinisch oft mit einer Erstmainfestation eines M. Menière verwechselt werden kann.
Die Hauptfunktion des Kleinhirns, in Bezug auf die Koordination der Augenbewegung, ist die Fixierung – also im Gegensatz zum Hirnstamm nicht die Initiierung von Augenbewegungen, um ein Objekt auf die Fovea zu bewegen, sondern um das Objekt auf der Fovea zu halten. Hierzu sind die Funktion der glatten Blickfolge und die Adaption des VOR notwendig. Beide Funktionen spielen eine entscheidende Rolle bei der visuellen Fixierung von sich bewegenden Objekten bei Eigenbewegung oder in Ruhe.
Physiologisch kommt es bei Bewegung des Objektes zu einer visuellen Abweichung von der Fovea, dem sogenannten „retinal slip“. Reflektorisch folgt eine kleine Bewegung des Auges, um das Objekt weiter auf der Fovea halten zu können. Bei Verlust dieser Funktion wird die Bewegung durch kleine Sakkaden kompensiert, was zu einer sakkadierten Blickfolge führt. Bei der klinischen Testung ist darauf zu achten, die Folgebewegung nicht zu schnell auszuführen (nicht <3 Sekunden), da bei zu schneller Prüfung die Sakkaden physiologisch einsetzen.
Gleichzeitig muss jedoch der VOR ausgeglichen werden, da er zu einer Gegenbewegung führen würde, die das Objekt weiter von der Fovea entfernen würde. Diese Suppression des VOR ist somit ebenfalls Teil der Funktion des Cerebellums.
Die Fixation des Cerebellums ist eine dem peripheren System übergeordnete Funktion, wodurch auch der dritte Teil des Alexander-Gesetzes zu erklären ist.
Weiters ist das Cerebellum auch in die Sakkadenfunktion eingebunden, nicht in die Generierung der Sakkaden und ihrer Geschwindigkeit, welche ja, wie bereits beschrieben, im Hirnstamm liegt, sondern in die Genauigkeit. Ein Über-das-Ziel-Hinausschießen (hypermetrische Sakkade) oder ein zu frühesStoppen (hypometrische Sakkade) kann hier beobachtet werden. Weitere Abnormitäten der Sakkaden wie z.B. der „ocular flutter“ sind auch mit zerebellären Läsionen zu erklären.
Wie bereits erklärt sind alle Arten von vertikalem Nystagmus als zentrales Symptom zu werten. Der Downbeat-Nystagmus (DBN) ist in vielen Fällen durch eine Schädigung des Flocculus zu erklären.
Des Weiteren ist das Kleinhirn auch für die Haltefunktion des Kopfes bzw. des Körpers zuständig, was sich klinisch in einer Ataxie der Extremitäten, des Ganges, aber auch des Rumpfes äußern kann. Neben der Ataxie ist aber auch eine Lateropulsion, also eine deutliche Fallneigung, oft mit Unvermögen zu stehen, ein deutliches Zeichen für eine zerebelläre Schädigung.
Fazit
Im Falle eines akut vestibulären Syndroms (AVS) muss möglichst schnell eine peripher- von einer zentral-vestibulären Genese unterschieden werden. Hierzu müssen eine umfassende Untersuchung und die Interpretation in Zusammenschau der Symptome erfolgen. Die kürzestmögliche Variante hierzu ist die HINTS-Testbatterie. Ein pathologischer KIT deutet auf eine periphere Genese hin, ein physiologischer KIT weist auf ein funktionierendes peripheres Organ inklusive N. vestibulocochlearis hin. Eine vertikale Schielstellung („skew deviation“) ist ein sicheres Zeichen einer zentralen Genese. Der Nystagmus kann sowohl periphere als auch zentrale Ursachen haben und muss mit den anderen Befunden gemeinsam beurteilt werden. Die Mischung der Symptome lässt den richtigen Schluss zu.
Literatur:
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