
©
Getty Images/iStockphoto
Die Blase im Fokus
Leading Opinions
30
Min. Lesezeit
22.03.2018
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Gibt es die «alternde Blase» wirklich oder ist sie ein Mythos? Diese Frage beantwortete Prof. Dr. med. Marcus Drake, Bristol/Grossbritannien, im Rahmen des «Brennpunkts Urologie». Prof. Dr. med. Daniel Eberli, Zürich, befasste sich mit Muskelstammzellen in der Therapie der Stressinkontinenz. Ob eine urodynamische Untersuchung vor einer invasiven Behandlung einer Prostatahyperplasie oder von Blasenentleerungsstörungen sinnvoll ist, klärte Prof. Dr. med. Stephan Madersbacher, Wien.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die Behandlung von Blasenentleerungsstörungen nimmt in einer immer älter werdenden Bevölkerung einen breiten Raum ein. Denn: Inkontinenz oder Blockaden der Blasenentleerung aufgrund einer gutartig vergrösserten Prostata treten mit zunehmendem Alter vermehrt auf.</p> <h2>Kein Mythos: die «alternde Blase»</h2> <p>Die Prävalenz der überaktiven Blase («overactive bladder», OAB) steigt mit zunehmendem Alter an, wie Prof. Marcus Drake erklärte. Während sie in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen bei 18– 24 % liege, betrage sie ab 75 Jahren 31– 42 % , sagte er. Im Vergleich zu jüngeren Patienten haben ältere Menschen oft stärkere Beschwerden. Sie leiden häufiger gleichzeitig an kognitiven Störungen, die die willentliche Kontrolle der Blase erschweren oder unmöglich machen. Ausserdem weisen sie generell mehr Komorbiditäten auf, die die Miktion beeinflussen, etwa Diabetes, Herzkrankheiten oder Schlafapnoe.<sup>1–3</sup> Kohortenstudien zeigten zudem, dass die Kontraktionsfähigkeit der Harnblase im Alter zwischen 50 und 80 Jahren nachlässt, was dafür verantwortlich ist, dass die Miktion verzögert und oft unvollständig ist. Dieser Effekt ist bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern (35 vs. 15 % ).<sup>4</sup> Dass die Blase altere, sei daher kein Mythos, sondern Realität, betonte Drake.<br /> Gerade bei älteren Patienten liegen oft mehrere Störungen gleichzeitig vor, etwa ein starker Harndrang kombiniert mit einem schwachen Harnstrahl und Restharnempfinden. Die Schwierigkeit sei, so Drake, eine effektive und sichere Therapie für diese Patienten zu finden. Bei der üblichen OAB-Behandlung mit Antimuskarinika hätten viele Ärzte die Sorge, eine akute Harnretention auszulösen. Dass dieses Problem kleiner ist als bisher angenommen, zeigten die Studien NEPTUNE und deren Verlängerung NEPTUNE II, in denen der Muskarinrezeptor-Antagonist Solifenacin und der Alpha-Rezeptorblocker Tamsulosin bei Männern mit Harnentleerungsstörungen eingesetzt wurden.<sup>5, 6</sup> Innerhalb eines Jahres entwickelten weniger als 1 % der Probanden eine akute Harnretention.<sup>6</sup><br /> Therapieoptionen bei persistierender OAB untersuchte die BESIDE-Studie, in der die Kombination aus dem Beta-3-Adrenozeptor- Agonisten Mirabegron und Solifenacin gegen eine Solifenacin-Monotherapie getestet wurde.<sup>7</sup> Es zeigte sich, dass die Kombination einen positiven Effekt hat und auch bei älteren Patienten gut wirkt. Allerdings beeinflussen die Medikamente auch andere Organsysteme, z.B. den Darm, die Blutgefässe und das Gehirn, da die angesteuerten Rezeptoren nicht ausschliesslich in der Blase vorhanden sind. Vor allem bei älteren Menschen müssten deshalb kardiovaskuläre Nebenwirkungen, etwa Bluthochdruck oder Tachykardie, beachtet werden, betonte Drake. In der BESIDE-Studie wurden kardiovaskuläre Wirkungen jedoch selten beobachtet (<2 % der Probanden).<sup>7</sup><br /> Wichtiger sind die Muskarinrezeptoren im Gehirn, die die kognitive Funktion beeinflussen. Eine aktuelle Studie erfasste die Auswirkungen der Antimuskarinikatherapie bei Patienten, die zu Studienbeginn keine kognitiven Störungen aufwiesen, sowie bei Patienten mit leichten Einbussen und solchen mit bestehender Demenz. Die Autoren konnten zeigen, dass die Substanzen die Kognition aller drei Kollektive verschlechterten.<sup>8</sup> Deshalb sollten die kognitiven Funktionen bei allen Patienten unter Antimuskarinika, besonders aber bei älteren Menschen regelmässig überprüft werden, schloss Drake.</p> <h2>Muskelstammzellen bei Stressinkontinenz</h2> <p>Prof. Daniel Eberli berichtete über die Therapie der Stressinkontinenz mit Muskelstammzellen. Weltweit leiden etwa 200 Millionen Menschen an einer Stressinkontinenz, wobei Frauen rund fünfmal häufiger betroffen sind als Männer.<sup>9</sup> Therapeutisch stehen unter anderem Schlingen und Netze zur Verfügung, die jedoch aufgrund unerwünschter Wirkungen in Verruf gekommen sind. Andere Optionen sind «bulking agents» und künstliche Sphinkter. Keine dieser Therapien behebt jedoch die Ursache der Stressinkontinenz – Schäden am Blasensphinkter. Hier verspricht die Stammzelltherapie Abhilfe. Sie wurde bisher in Tierversuchen an unterschiedlichen Spezies getestet.<sup>9</sup> Eingesetzt wurden verschiedene Zellarten, denn es gebe nicht die beste Zellart, erklärte Eberli. An der Universitätsklinik Zürich werden sogenannte Muskelprecursorzellen genutzt, die bereits gewebespezifisch sind. Diese werden in den defekten Blasensphinkter injiziert und regenerieren die Muskelfasern. Zusätzlich werden die Muskeln mit elektromagnetischen Impulsen stimuliert, damit sie nicht atrophieren. Es zeigte sich, dass dies die Heilung des Muskelgewebes verbessert.<sup>10</sup><br /> In weiteren Studien versuchten Eberli und sein Team zu klären, welchen Einfluss Alter und Geschlecht auf das Anzüchten von Muskelstammzellen haben. Sie fanden heraus, dass Muskelprecursorzellen von Männern und Frauen jeden Alters gewonnen werden können. Am besten geeignet sind die Zellen von jungen Frauen, da sie sich am stärksten vermehren und am besten kontrahieren (Abb. 1a, b).<sup>11</sup><br /> Am Universitätsspital Zürich wurde eine Kombination aus Elektrostimulation und Stammzellinjektion entwickelt (von der EU gefördert). Bei dem Verfahren mit dem Namen MUSIC wird eine Biopsie aus dem Wadenmuskel entnommen und die Zellen werden vermehrt. Anschliessend werden die Zellen in den Blasensphinkter injiziert und die Bildung neuen Muskelgewebes mit elektromagnetischer Stimulation unterstützt.<sup>12</sup> Noch laufen die Vorbereitungen, erklärte Eberli, doch bereits in diesem Frühjahr sollen die ersten Patientinnen mit Muskelstammzellen gegen Stressinkontinenz behandelt werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Uro_1801_Weblinks_s15_abb1.jpg" alt="" width="2187" height="815" /></p> <h2>Urodynamik vor invasiven Eingriffen</h2> <p>Sollte bei Männern mit benigner Prostatahyperplasie (BPH) und «lower urinary tract symptoms» (LUTS) vor einer Resektion eine urodynamische Untersuchung erfolgen? Prof. Stephan Madersbacher wog in seinem Vortrag Pro und Contra ab.<br /> Als ein Argument für die Urodynamik führte er eine Studie an, in der mehr als 1400 Männer mit BPH/LUTS vor der Resektion urodynamisch untersucht wurden. Dabei zeigte sich, dass nur etwa ein Drittel der Männer, die routinemässig einer transurethralen Prostataresektion (TURP) zugeführt werden, an einer Obstruktion leiden. Der häufigste urodynamische Befund war in dieser Studie die Detrusorüberaktivität.<sup>13</sup> Die Urodynamik kann also beim Stellen der Indikation für eine TURP helfen, wie auch die Ergebnisse einer französischen Studie zu den Langzeitergebnissen des Eingriffs zeigen: 60 Monate nach einer TURP nahmen 40 % der Patienten wieder Medikamente gegen ihre BPH. Als einen der Gründe dafür vermuten die Autoren, dass die Indikation nicht richtig gestellt worden war.<sup>14</sup> Nicht invasive Untersuchungen wie die Uroflowmetrie, Ultraschalluntersuchungen etc. können als Alternative nicht empfohlen werden.<sup>15</sup><br /> Als Argument gegen die Urodynamik zeigte Madersbacher Ergebnisse einer Metaanalyse, wonach der Unterschied beim International Prostate Symptom Score (IPSS) bei TURP mit/ohne Urodynamik nur 3–4 Punkte ausmachte.<sup>16</sup> Es stelle sich die Frage, ob dies den Aufwand rechtfertige, sagte er. Auch die Leitlinien der EAU empfehlen die Urodynamik vor TURP nicht als routinemässige Untersuchung, sondern nur bei spezieller Indikation, etwa vor einer Re-TURP oder bei Patienten, die aufgrund einer neurologischen Krankheit wie Parkinson oder multipler Sklerose an einer Blasenentleerungsstörung leiden.<sup>17</sup><br /> Obwohl die nicht invasiven Verfahren nicht so präzise sind wie die Urodynamik, könnten sie wertvolle Hinweise liefern, erklärte Madersbacher, beispielsweise der «penile cuff test». Er hat einen hohen negativen Aussagewert: Zeigt er keine Obstruktion an, hat der Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit auch keine.<sup>18</sup> Eine andere Alternative ist das Erstellen von Nomogrammen, die einzelne Parameter wie Restharnvolumen und Q<sub>max</sub> kombinieren. <sup>19</sup> Mit solchen Methoden könne man eine Obstruktion recht gut vorhersagen, erklärte Madersbacher. Sein Fazit: Die urodynamische Untersuchung ist notwendig bei speziellen Indikationen, aber als generelle Untersuchung bei allen Patienten mit BPH/LUTS eine Verschwendung von Zeit (und Ressourcen). Und grundsätzlich sollten die Empfehlungen der EAU-Leitlinie zur Indikation für eine Urodynamik befolgt werden.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 6. Brennpunkt Urologie, 27.–28. Oktober 2017, Zürich
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Sexton CC et al.: J Am Geriatr Soc 2011; 59: 1465-70 <strong>2</strong> Ganz ML et al.: Curr Med Res Opin 2016; 32: 1997-2005 <strong>3</strong> Wagg AS et al.: BJU Int 2007; 99: 502-9 <strong>4</strong> Rosier P: ICS 2015, Abstract 267 (Kongress der International Continence Society, 6.–9. Oktober 2015, Montreal) <strong>5</strong> van Kerrebroeck P et al.: Eur Urol 2013; 64: 1003-12 <strong>6</strong> Drake MJ et al.: PLoS ONE 2017; 12: e0170726 <strong>7</strong> Drake MJ et al.: Eur Urol 2016; 70: 136-45 <strong>8</strong> Moga DC et al.: Alzheimers Dement (N Y) 2017; 3: 139-48 <strong>9</strong> Eberli D et al.: Cell Transplant 2012; 21: 2089-98 <strong>10</strong> Stölting MN et al.: Muscle Nerve 2016; 53: 598-607 <strong>11</strong> Stölting MN et al.: J Tissue Eng Regen Med 2017; 11: 447-58 <strong>12</strong> Medienmitteilung des Universitätsspitals Zürich vom 2. Mai 2017 13 Oelke M et al.: Eur Urol 2008; 54: 419-26 14 Lukacs B et al.: Eur Urol 2013; 64: 493-501 <strong>15</strong> Malde S et al.: Eur Urol 2017; 71: 391- 402 <strong>16</strong> Kim M et al.: PLoS One 2017; 12: e0172590 <strong>17</strong> Gravas S et al.: Eur Urol 2015; 67: 1099-1109 <strong>18</strong> Kazemeyni SM et al.: Korean J Urol 2015; 56: 722-8 <strong>19</strong> De Nunzio C et al.: Neurourol Urodyn 2016; 35: 235-40</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse beim Urothelkarzinom
Auf dem diesjährigen Genitourinary Cancers Symposium der American Society of Clinical Oncology (ASCO-GU-Kongress) wurden bedeutende Fortschritte in der Diagnose und Behandlung des ...
Aktuelles aus der 7. Version der S3-Leitlinie: wesentliche Leitlinienänderungen
Im Mai 2024 wurde die Prostatakarzinom-S3-Leitlinie unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU) im Rahmen des Leitlinienprogramms Onkologie in ihrer 7. ...
Neues vom ASCO GU zum Prostatakarzinom
Im Rahmen des ASCO GU 2025 in San Francisco wurden eine Vielfalt von neuen praxisrelevanten Studien zum Prostatakarzinom präsentiert. Mit Spannung wurde unter andem auch auf die finalen ...