
Psychobiologie von Bindung und Trauma – Teil 2: sichere, unsichere und desorganisierte Bindung
Autor*innen:
em. Univ.-Prof. DDr. Dipl.-Psych. Hans-Peter Kapfhammer
PD Dr. Lahousen Theresa
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Medizinische Universität Graz
Korrespondiernder Autor:
em. Univ.-Prof. DDr. Dipl.-Psych. Hans-Peter Kapfhammer
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Frühe aversive, traumatische oder emotionale Mangelerfahrungen bedingen unterschiedliche Grade von Sicherheit in den jeweils gefundenen Bindungsmustern, denen wiederum charakteristische Merkmale der neurobiologischen Regulation zugeordnet werden können.
Charakteristika der sicheren Bindung
In diesen frühen affektiven Austauschprozessen des „Selbst mit dem anderen“ zielt die interaktionelle Affekteinstimmung auf drei wesentliche Ziele (Stern 1985):
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auf eine zuverlässige Zustandstransformation des Kleinkindes aus einem aversiv erlebten Zustand (z.B. Hunger) in einen wohligen, befriedigten Zustand (z.B. Sättigung, Tröstung),
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auf eine spielerische interaktive Verhaltensabfolge von Baby und Mutter in beiderseitiger Entspanntheit,
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auf eine tiefe affektive Einstimmung und einen gemeinsam geteilten, positiv erlebten Gefühlszustand.
Vertrauen, Reziprozität, Intimität und Liebe sind die höher strukturierten psychologischen Qualitäten des affektiven Erlebens in einem solchen primären Beziehungskontext. In einer neurobiologischen Perspektive stellen diese gelingenden affektiven Austauschprozesse nicht nur die Basis von Bindung dar, sie sind motivational auch auf das Engste mit dem Belohnungssystem gekoppelt (Insel u. Young 2001). Die Hauptbahn dieses neuronalen Netzwerks zieht von der limbischen Struktur der Area tegmentalis ventralis zum Nucleus accumbens im ventralen Striatum und steht in enger Beziehung mit der Amygdala einerseits und dem präfrontalen Kortex andererseits. Gleichzeitig ist hiermit das evolutionär höchststehende System der Stressregulation interaktiv eingeübt worden:
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In einer hierarchischen Abfolge werden bei einer drohenden Gefahr zunächst über den evolutionär jüngsten Anteil, den ventralen Vaguskomplex, der Nucleus ambiguus und hierüber jene motorischen Hirnnerven aktiviert, die eine soziale Orientierungsreaktion, eine Kopfwendung hin zu einem vertrauten Gesicht, eine Kontaktsuche mit Vokalisierung und sprachlicher Mitteilung erlauben.
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Erst wenn diese Antwort des sozialen Kontaktsystems zu keinem Sicherheitssignal führt, werden sympathikotone Reaktionsmuster von Flucht und Angriff mobilisiert.
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In traumatischen Situationen, die eine Ausweglosigkeit, einen Zustand von Hilflosigkeit unterstreichen, kommt es hingegen rasch auch zu einer Aktivierung jener phylogenetisch ältesten Reaktionsanteile, nämlich des dorsalen Vaguskomplexes, der wesentlich motorisch-aggressive Abwehrbewegungen blockiert, eine Immobilisierung, eine passive Vermeidung, ein Freezing in einem dissoziativen Zustand bewirkt (Porges 2011).
In der weiteren Verhaltensorganisation wird das Bindungssystem also sowohl mit dem Belohnungssystem und dem Furcht-Angst-System als auch mit höhekortikalen Instanzen der Verhaltensauswahl und der Modulation der Reaktionsintensität verbunden. Die im Laufe der frühen affektiven Austauschprozesse zwischen Baby und Mutter gesammelten Erfahrungen werden als affektiv-kognitive Modelle von Bindung vor allem über den rechtshemisphäral gelegenen orbitofrontalen Kortex gesteuert und prägen lebenslang als unbewusste neuronale Blaupause auch künftige interpersonale Beziehungen und Partnerschaften. In akuten Zuständen des affektiven Einsseins von Mutter und Baby, aber auch der Intimität und Verliebtheit unter Partnern wird der enge Zusammenhang zum Belohnungssystem erkennbar. Diese innigen affektiven Austauschprozesse werden, wie bereits geschildert, einerseits durch die zentralen Hormone Oxytocin und Vasopressin gefördert, andererseits durch die Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und Opioide vermittelt. Allerdings werden als Kehrseite dieser höchst belohnend erlebten affektiven Interaktionen höhere kortikale Areale vorübergehend deaktiviert („Liebe macht blind“) (Bartels u. Zeki 2004; Zeki 2007; Acevedo et al. 2012). D.h., während affektive Empathie vor allem in diesen akuten Zustände des „Einsseins“ gebahnt wird, benötigt kognitive Empathie quasi „ruhigere Momente“, um auf eine notwendige selbstreflexive Fertigkeit und die sie vermittelnden präfrontal kortikalen Strukturen zurückgreifen zu können (Luyten u. Fonagy 2015).
Diese höher strukturierten Fertigkeiten einer kognitiven Empathie und Mentalisierung werden vom Kind erst allmählich während einer langwierigen soziokognitiven und affektiven Entwicklung im Kontext einer sicheren Bindung erworben. Die reifste Entwicklungsstufe impliziert hierbei die Fähigkeit, sich selbst als Akteur in motivischen Begriffen innerseelischer Zustände begreifen zu können. Sie basiert auf der festen Erkenntnis, dass auch andere bedeutsame Interaktionspartner von eigenständigen subjektiven Motivlagen in ihrem Handeln bestimmt werden und dass sie hierin auch durch subjektiv motivierte, intentionale Handlungen von einem selbst beeinflusst werden können.
Charakteristika der unsicheren Bindung
Selbstverständlich verlaufen nicht alle frühen Interaktionen zwischen Mutter und Baby immer optimal, wie auch spätere Beziehungserfahrungen nicht immer konfliktfrei sind. Kennzeichen einer sicheren Bindung ist, dass es der Mutter-Kind-Dyade gelingt, mehrheitlich zu der oben geschilderten affektiven Einstimmung und befriedigenden affektiven Transformation zurückzufinden und schmerzliche Unterbrechungen in der Beziehung wirksam zu überwinden. Eine unsichere Bindung hingegen resultiert, wenn diese frühen affektiven Abstimmungsprozesse mehrheitlich nicht gelingen. Dies mag das Resultat einer emotional labilen und wahrscheinlich auch selbst unsicher gebundenen Mutter sein, oder aber mit einem inhärent schwierigen Temperament des Kindes zusammenhängen.
Ein sicheres und ein unsicheres Bindungssystem entfalten sich je differenziell. Einen prägnanten Hinweis erlangt man, wenn man sicher gebundene versus unsicher gebundene Mütter miteinander in einer Verhaltensbeobachtung vergleicht, wie sie auf Bilder von ihrem eigenen Baby versus auf solche eines fremden Babys in jeweils unterschiedlichen Affektzuständen (glücklich versus „in distress“) blicken. Der auffälligste Unterschied unterstreicht: Bei unsicher gebundenen Müttern führt der Anblick ihres Babys im wohlig ausgeglichenen Zustand im Vergleich zu einer signifikant geringeren Aktivierung ihres Belohnungssystems und der zugehörigen neuronalen Beziehungsrepräsentationen (fMRI: Aktivierung des rechten ventralen Striatums; Aktivierung des ventromedialen PFC). Bei sicher gebundenen Müttern wird das Belohnungssystem selbst dann bedeutsam aktiviert (fMRI: Aktivierung des rechten ventralen Striatums), wenn sie auf ein Bild ihres Babys in einem weinenden, unglücklichen Zustand schauen. Unsicher gebundene Mütter haben sich hingegen hier vom Belohnungssystem weitgehend abgekoppelt; stattdessen findet sich bei ihnen in dieser Untersuchungsbedingung eine prominente Aktivierung des rechten dorsolateralen PFC, was man als ein verstärktes Bemühen interpretieren kann, wie denn mit dieser irritierenden Situation umzugehen sei. Sicher gebundenen Müttern gelingt die herausfordernde Aufgabe, ihr unglückliches Baby zu trösten, intuitiv mit der Gewissheit, einen harmonischen Zustand für das Baby herstellen zu können. Ganz offenkundig sind die differenziellen mütterlichen Leistungen von der Höhe der gemessenen Oxytocin-Spiegel abhängig (Strathearn 2011). Oxytocin reguliert das allgemeine Blickverhalten der Mutter gegenüber ihrem Baby auch in einer Life-Situation, und zwar sowohl der intentionale Blick zum Gesicht des Babys als auch weg vom Gesicht des Babys. Sicher gebundene Mütter verfügen über einen hohen situativen Oxytocin-Spiegel und halten einen intensiven Blickkontakt mit ihrem Baby über eine längere Dauer als unsicher gebundene Mütter mit niedrigeren Oxytocin-Konzentrationen, die zudem auch eine signifikant höhere Rate des Abbruchs des Blickkontakts und des Wegsehens aufweisen (Kim et al. 2014 a). Die Amygdala ist wesentlich an der Erkennung und affektiven Bewertung von emotionalen Gesichtsausdrücken beteiligt. Sie wird sowohl durch negative als auch durch positive emotionale Gesichtsexpressionen aktiviert. In einer Gruppe von Erstmüttern wird allgemein die Amygdala durch den Anblick des eigenen Babys stärker als bei dem eines fremden Babys aktiviert. Die Aktivierung fällt ferner beim Anblick des Babys in einem glücklichen Zustand generell intensiver aus als in einem unglücklichen Zustand (Strathearn u. Kim 2013). Relevant erscheint, dass unsicher gebundene Mütter eine deutlich reduzierte Amgydala-Aktivierung („blunted response“) zeigen, wenn sich ihr Baby in einem Zustand mit subjektivem Disstress befindet, was als Anzeichen eines emotionalen Abschottens gewertet werden kann (Kim et al. 2014 b).
Die neurobiologische Ausgangslage unsicherer Bindungsprozesse in der frühen Mutter-Kind-Dyade unterscheidet sich somit wesentlich von jener in einer sicheren Bindungssituation. Mehrere Aspekte können schematisch hervorgehoben werden (Kim 2015): Nicht nur verlaufen zahlreiche Interaktionen in einem unsicheren Bindungssystem in einem geringeren Umfang mentalisiert. Sie werden insgesamt auch als weniger belohnend von beiden Partnern erlebt. Die wesentlich über Oxytocin gesteuerte Koppelung von Bindungs- und Belohnungssystem ist deutlich beeinträchtigt und vermittelt gleichzeitig auch einen geringeren Schutz gegenüber stressvollen Situationen. Eine über epigenetische Mechanismen gebahnte Sensibilisierung der HPA-Achse legt den Grundstein für eine langfristig erhöhte Stressanfälligkeit. Eine reduzierte Produktion von BDNF bedeutet wiederum ungünstigere Voraussetzungen hinsichtlich der für eine höhere Strukturierung affektiver und kognitiver Funktionen benötigten Neuroplastizität in der weiteren Entwicklung.
Das intrapsychische Erbe einer solcher Art unsicheren Bindung ist vielfältig (Fonagy et al. 2002):
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Nicht kontingente Affektspiegelungen bewirken, dass weite Bereiche der kindlichen Affektivität undifferenziert bleiben und im subjektiven Selbsterleben nicht klar repräsentiert werden. Selbst ruhige, prinzipiell positiv gefärbte Erlebnissituationen werden von der Mutter mit geringerer Freude und Einstimmung aufgenommen. Sie führen in einem geringeren Ausmaß zu jener charakteristischen glücklichen Umrahmung der prägenden Szenen des „Miteinander-eins-Seins“, die normalerweise den Grundstock von Vertrauen, Selbstwert und Intimität legen. Der vorübergehende Verlust eines ausgeglichenen psychophysischen Zustands des Kindes, in dem es zu schreien beginnt oder traurig erscheint, stellt die Mutter häufig vor konflikthafte Herausforderungen, die eine sichere Transformation des kindlichen Stresserlebens gefährden. Vor allem nicht haltende und nicht stimmig markierende Reaktionen der Mutter, die beispielsweise zu unpassend erregenden, zu ängstlich-besorgten oder aber zu ablehnenden Affektspiegelungen führen, verhindern die Entwicklung von stabilisierenden Affektrepräsentanzen der zweiten Ordnung. Sie unterminieren für das Kind eine sichere Grenzbildung zwischen Selbst und Objekt. Eine solche Affektkommunikation, die wesentlich das aktuelle, nicht eingestimmte affektive Erleben der Mutter selbst beinhaltet, wirkt wie ein „Fremdkörper“ in der reifenden Selbstorganisation des Kindes. Sie kann eine affektive Verhaltensdisposition begründen, die vor allem unter Stresseinwirkung auf eine Externalisierung in einer konkreten Beziehungssituation drängt, um wieder eine prekäre Selbstkohärenz für sich herstellen zu können. Stärker kognitiv überformte Selbstschemata von unsicher, wertlos, beschämt, schuldig versus Objektschemata von unzuverlässig, gefährlich, verwirrend, ablehnend können in weiterer Folge resultieren.
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Eine Selbstentwicklung im Sinne einer reifen affektiven und kognitiven Mentalisierung wird meist verfehlt. Stattdessen imponiert gerade in engen Beziehungen ein überwiegend teleologischer Standpunkt. Das Erreichen eines dominanten Zieles scheint oft jegliche Mittel zu rechtfertigen. Ist das subjektive Ziel in einer Situation, z. B. eine überwältigende Angst oder eine grundlegende Scham zu erledigen, dann stellen vor allem aggressive, selbst- und objektgerichtete Affekte und Handlungen eine Form von Selbstkohärenz her. Auf diese implizite destruktive Dimension des eigenen Handelns kann aber nicht selbstkritisch reflektiert und die negativen Auswirkungen auf den beteiligten Partner nicht adäquat beurteilt werden.
Primäre Bezugspersonen haben sich für das Kind in einer unsicheren Bindung als unzuverlässig, als schlecht vorhersagbar und als wenig positiv wirksam erwiesen. Es zeigt in weiterer Folge eine starke Sensitivität und Hypervigilanz gegenüber potenziellen Gefahrensignalen in der sozialen Umwelt. Situationen der innerseelischen Anspannung und interpersonalen Unsicherheit aktivieren stets das etablierte Bindungssystem und das hiermit assoziierte System der Mentalisierungsfunktionen. Nicht alle Funktionen der Mentalisierung sind jedoch in jeder sozialen Situation verfügbar und als wirksame Strategien zur affektiven Regulation und kognitiven Orientierung einsetzbar.
Vor allem bei ansteigendem Stresspegel ist eine kontrollierte affektive und kognitive Mentalisierung nicht mehr möglich. In einer neurobiologischen Perspektive können reife Mentalisierungsleistungen nur bis zu Zuständen eines mäßig erhöhten Arousals gelingen. Über eine D1-dopaminerge, α2-adrenerge und serotonerge Neurotransmission wird ein Annäherungsverhalten normalerweise gebahnt. Eine abgestimmte Verbindung von Belohnungsstruktur und präfrontalen kortikalen Strukturen erfolgt. Eine kontrollierte Aufmerksamkeit, die willentliche Entscheidung zu und Ausführung von prosozialen Handlungen können so zustande kommen. Eine kontrollierte Mentalisierung versagt hingegen in Zuständen eines hohen bzw. extremen Arousals. Hier überwiegt ein vorrangig subkortikal vermitteltes Reaktionsmuster von „Fight/Flight“ und gefahrenorientierter Vigilanz. Dieses wird wesentlich über eine D2-dopaminerge, α1-adrenerge und serotonerge Neurotransmission vermittelt, präfrontal-kortikale Systeme sind in ihrer Funktionalität hingegen massiv eingeschränkt (Mayes 2006; Arnsten 2009).
Bei Personen mit einem unsicheren Bindungsmuster ist die Schwelle eines Switches von einem kontrollierten zu einem automatisierten Modus der Mentalisierung in der Regel deutlich erniedrigt. Es stellt eine scheinbare Paradoxie der menschlichen Entwicklung dar, dass gerade unsicher gebundene Menschen, die möglichen Partnern habituell ein erhöhtes Misstrauen und eine große Ambivalenz entgegenbringen, in Situationen starken psychologischen oder sozialen Stresses ihr unbewusstes Bindungssystem besonders stark aktivieren. Dies trifft speziell für Personen mit ängstlich-ambivalenter Bindung zu. Ein stark aktiviertes Bindungssystem geht auf einer neurobiologischen Ebene aber gleichzeitig mit einer Deaktivierung von zwei neuronalen Systemen einher, die für reife Mentalisierungsleistungen von großer Relevanz wären. Es handelt sich einerseits um ein Netzwerk, das aus den medial gelegenen Anteilen des präfrontalen Kortex, dem inferioren parietalen Kortex, dem medialen temporalen Kortex und dem posterioren zingulären Kortex besteht. Dieses neuronale System organisiert unter normalen Bedingungen eine gezielte Aufmerksamkeit, das episodische, vor allem das autobiografische Langzeitgedächtnis und bei positiven und negativen Affektzuständen eine spezielle, emotionale und kognitive Aspekte integrierende Funktion. Und es betrifft andererseits ein Netzwerk, das die Pole des Temporallappens, die temporoparietale Verbindung, die Amygdala und den medialen präfrontalen Kortex funktionell zusammenschließt und hierüber Urteile über soziale Vertrauenswürdigkeit, moralische Urteile, eine Theory of Mind und eine Achtsamkeit gegenüber eigenen Gefühlen vermittelt (Fonagy u. Luyten 2015).
Das bei unsicher gebundenen Personen aktivierte Bindungssystem funktioniert daher vor allem in einem automatischen Modus. Dieser automatische Modus ermöglicht zwar rasch verfügbare Mentalisierungsschritte, die aber in der Regel undifferenziert und global sind. Er zielt darauf, in der aktuellen Beziehungssituation intensive Emotionen zu induzieren und zu teilen. Er stützt sich in der kognitiven Orientierung und affektiven Bewertung vorrangig auf äußerliche Merkmale wie z.B. auf den aktuell gezeigten emotionalen Gesichtsausdruck des Gegenübers, ohne dabei eine differenzierte innerseelische Motivanalyse vorzunehmen. Es kommt daher leicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen über die Bedeutung der aktuellen Situation. Da in diesem automatischen Reaktionsmodus vor allem ein von Selbst und Objekt geteiltes Repräsentationssystem aktiviert wird, entsteht nicht selten die Schwierigkeit, Affekte, die dem Selbst versus dem anderen zugehören, korrekt zu erkennen und als solche zu unterscheiden. In einer verstärkten Gewichtung der extern wahrgenommen Affektexpressionen des anderen resultiert leicht eine unkontrollierte Affektansteckung. Zu beachten ist dabei ferner, dass mit dem überaktivierten Bindungssystem gleichzeitig auch das „Fight-Flight“-System hoch reguliert ist, und es zu abrupten Wechseln zwischen panischer Ängstlichkeit und aggressiver Feindseligkeit kommen kann.
Personen mit „unsicher-vermeidendem“ Bindungsmuster haben gelernt, soziale Kontakte stets als potenziell gefährlich und verunsichernd einzustufen und daher eher zu vermeiden. Sie haben stattdessen kompensatorische Techniken zur Stärkung ihrer Autonomie, ihrer Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit entwickelt. Bei psychologischem Stress aktivieren sie in einem wesentlich geringeren Ausmaß ihr implizites Bindungssystem. Es gelingt ihnen länger, eine ausreichende kognitive Kontrolle in der jeweiligen Situation aufrechtzuerhalten. Allerdings sind die abrufbaren kognitiven Selbst- und Objektschemata meist rigide, mit einem starken Bias versehen und für konstruktive Konfliktlösungen in heiklen zwischenmenschlichen Beziehungen nur sehr eingeschränkt tauglich. Nicht zu verkennen ist ferner, dass für diese das Bindungssystem deaktivierenden Strategien gleichzeitig eine enorme Abwehrenergie benötigt wird. Das hiermit einhergehende erhöhte innerorganismische Stressniveau kann langfristig zu bedeutsamen Gesundheitsrisiken beitragen (Fonagy u. Luyten 2015).
Bindungstrauma
Nach Allen (2013) handelt es sich im Kern um die überwältigende Erfahrung, sich inmitten eines unerträglichen emotionalen Zustands von einer Bindungsperson alleine gelassen zu fühlen oder noch schlimmer, zu sehen, dass dieser überwältigende Disstress von der Bindungsperson selbst verursacht wird. Diese Erfahrung beeinträchtigt die grundlegende Fähigkeit, überhaupt eine sichere Bindung erreichen zu können. Sie führt zur prägenden Erwartungshaltung, dass alle Beziehungen von Misstrauen dominiert werden. Fonagy et al. (2002) weisen auf ein mehrfaches Geschehen hin: Das Trauma ist oft kumulativ, nicht selten anhaltend. Es verursacht einen überwältigenden emotionalen Disstress und unterminiert die Fähigkeit, diesen emotionalen Disstress wirksam zu regulieren. Und es ist mit der Entwicklung einer reifen Mentalisierung unvereinbar. Ein Bindungstrauma kann in der Form einer grundlegenden zwischenmenschlichen Vernachlässigung („omission trauma“) oder in der Form eines körperlichen, seelischen, sexuellen Missbrauchs („commission trauma“) erfolgen. Nicht selten treten beide Traumatypen gemeinsam auf. Bindungstraumata führen überzufällig häufig zu einer desorientiert-desorganisierten Bindung. Umgekehrt vermittelt ein desorganisiertes Bindungsmuster selbst wiederum ein erhöhtes Risiko für weiteren Missbrauch und Vernachlässigung. Bindungstraumata ereignen sich nicht in einem leeren sozialen Kontext. Massive Probleme in der elterlichen Fürsorge sind empirisch mit zahlreichen ungünstigen psychosozialen Belastungsfaktoren assoziiert, wie z.B. schwerer chronischer Ehestreit, perinataler Verlust eines früheren Babys, behindertes Baby, postpartale Depression/Psychose, psychiatrische Morbidität der Eltern, gewaltsame Umgebung (Bifulco et al. 2009; George u. Solomon 2011).
Das zentrale Thema in einem Bindungstrauma
Ein Bindungstrauma zwingt das Kind in ein Entwicklungsdilemma ohne Auswegmöglichkeit, in einen andauernden „Schrecken ohne Lösung“ (Main et al. 2005): Traumatische Angst, Furcht, Panik sind mit der Anwesenheit einer zentralen Bindungsfigur verbunden. Diese Situation aktiviert unvermeidlich aber das natürliche „Bindungssystem“ und initiiert ein Verhalten, durch intensive Suche nach Nähe eine vermeintliche Sicherheit bei der Person zu finden, die den emotionalen Disstress aber noch weiter erhöht. Die unauflösbare Entwicklungsparadoxie besteht in einer maximalen Aktivierung einer Annäherungstendenz an die traumatisierende Bindungsfigur bei gleichzeitiger Aktivierung des Fluchtsystems, ohne aber damit ein konsistentes Verhaltensmanagement erreichen zu können. Man könnte allgemein schlussfolgern: Bindungstraumata lösen nicht nur schädigende Effekte durch die jeweils konkreten traumatischen Einwirkungen aus. Sie verursachen noch grundlegendere psychologische Wunden dadurch, dass die traumatischen Erfahrungen in Bindungskontexten mit dem Erwerb einer vertrauensvollen Beziehungsfähigkeit an sich und mit der Chance auf eine freie und autonome Selbstentfaltung unvereinbar kollidieren (Allen 2005, 2013).
Die antagonistischen Verhaltensbestrebungen, die ein solches Kind in einer desorientiert-desorganisierten Bindung fortwährend bestimmen, können in dem entwicklungspsychologischen Beobachtungsparadigma von „Trennung und Wiedervereinigung“ erschreckend deutlich aufgedeckt werden. Dem komplett fehlenden Verhaltensplan aufseiten des Kindes, konsistent und wirksam mit den typischen emotionalen Herausforderungen umzugehen, entspricht in der konkreten Interaktionsszene aufseiten der Mutter, wenn traumatische Erfahrungen in erster Linie mit ihr verbunden sind, ein unkontrollierbarer Wechsel zwischen feindseliger Intrusivität und hilflosem Rückzug (O’Connor et al. 2011). In anderen sozialen Interaktionen mit der Bindungsfigur wird dieses inkompatible elterliche Fürsorgeverhalten wiederum häufig durch verzweifelte Kontrollversuche des Kindes aktiv wiederholt. Das Kind bemüht sich, sein Dilemma von Nähe und Distanz im Umgang mit der Bindungsperson dadurch zu lösen, indem es ihr gegenüber zwischen einem kontrollierend-bestrafenden versus kontrollierend-fürsorglichen Verhaltensmuster pendelt (Moss et al. 2011).
Desorientiert-desorganisiertes Bindungsmuster und erhöhtes weiteres Traumatisierungsrisiko
Bereits unsichere Bindungsmuster sind empirisch mit einer höheren Rate von traumatischen Ereignissen und Traumafolgestörungen in der weiteren Entwicklung assoziiert (London et al. 2015; Miller-Graff u. Howell 2015). Für desorientiert-desorganisierte Bindungsmuster gilt diese erhöhte Vulnerabilität gegenüber Traumatisierungen vor allem auch in anderen Bindungskontexten. Sie verschärfen die assoziierten Entwicklungsdefizite in der Mentalisierung, wie sie oben bereits für unsichere Bindungsmuster skizziert worden sind (Fonagy et al. 2002; Kapfhammer 2007):
Weitere Traumatisierungen wirken sich in vielfältiger Weise verhängnisvoll auf die affektive und soziokognitive Entwicklung aus. Sexuelle oder aggressive Missbrauchserfahrungen durch einen Elternteil etwa sind dann besonders zerstörend, wenn sie in einem bisherigen Beziehungskontext von emotionaler Vernachlässigung begründet sind. Traumatische Erfahrungen stabilisieren oft eine vorliegende Identitätsdiffusion verhängnisvoll, indem sie das Affekterleben über eine Spaltung bzw. eine Dissoziation strukturieren. Sie können eine Identifikation mit dem Aggressor fördern und in der Folge intrapsychische Beziehungsrepräsentationen von „Täter und Opfer“ in raschen Umkehrungen anlegen. Dies bedeutet nicht nur ein erhöhtes Risiko für Retraumatisierung. Sie bestärkt auch eine umgekehrte Tendenz zu einer nach außen gerichteten Viktimisierung. Diesem dominanten Verhaltensmuster liegt aber eine massive Behinderung der allgemeinen Mentalisierungsfunktionen zugrunde. Aufgrund der überwältigenden destruktiven Affekte im Trauma ist oft keine korrekte Erfassung des Geschehens zwischen Täter und Opfer möglich. Es entsteht stattdessen eine sehr undifferenzierte Repräsentation des traumatischen Geschehens, die vor allem unter Stress auf eine Externalisierung in konkreten Beziehungen drängt. Infolge traumabedingter Dissoziationen kann sie im Weiteren weder selbstreflexiv beurteilt noch eigenständig modifiziert werden. Obwohl geradezu eine Hypervigilanz gegenüber den emotionalen Gesichtsausdrücken potenzieller Täter vorherrscht, besteht gleichzeitig eine grundlegende Hemmung, sich in den mentalen Zustand von Tätern einzufühlen. Gleichzeitig ist auf einer unbewussten körperlichen Signalebene aber eine bindungsinhärente Suche nach Nähe wirksam. Dieses widersprüchliche Verhalten bestärkt ein schon etabliertes desorientiert-desorganisiertes Bindungsmuster und hält ein starkes Risiko für weitere Traumatisierung aufrecht.
Desorientiert-desorganisiertes Bindungsmuster und Trauma-induzierte Dissoziation
Eine intensive Erforschung der Konsequenzen von Bindungstraumata hat zu folgender Erkenntnis geführt: Die posttraumatische Verarbeitung beschreitet nicht nur die bekannten psychologischen und neurobiologischen Pfade im Übergang zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und hat die typischen Symptomcluster von Trauma-bezogener intrusiver Wiedererinnerung, Vermeidung und autonomem Hyperarousal zur Folge (Kapfhammer 2017 a). Sie ist wesentlich auch von Trauma-induzierten dissoziativen Prozessen bestimmt. Dissoziative Symptome resultieren einerseits aus einer fehlgeschlagenen integrierten Verarbeitung der Trauma-bezogenen Informationen („compartmentalization“), andererseits aus einem verstärkten Einsatz des evolutionär verankerten Schutzmechanismus von Depersonalisation und Derealisation („detachment“) (Holmes et al. 2005; Allen 2005, 2013). Diese Trauma-induzierten dissoziativen Prozesse beeinträchtigen unmittelbar auch die Systeme von Mentalisierung und Empathie. Sie führen hier in einem noch höheren Ausmaß zu Defiziten, wie sie bereits im Kontext unsicherer Bindungsmuster beschrieben worden sind.
Zirka ein Drittel aller PTSD-Patienten, besonders jene Personen mit einer Geschichte früher Bindungstraumata, weist einen speziellen dissoziativen Typus auf. Trotzdem leben diese Patienten im posttraumatischen Alltag nicht dauerhaft in traumatisch-dissoziativ veränderten Bewusstseinszuständen, sondern pendeln je nach Intensität und Häufigkeit von Traumatisierungen und aktuellen situativen Belastungen zwischen den Polen eines prominent dissoziativen Erlebens und eines normalen Wachbewusstseins. Zwischen diesen beiden Bewusstseinspolen können in den vier phänomenologischen Bereichen des Zeiterlebens, der Intentionalität mentaler Prozesse, des Körperbewusstseins und der emotionalen Regulation prominente posttraumatisch-dissoziative Psychopathologien differenziert beschrieben werden (Lanius 2015; Frewen u. Lanius 2015):
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In der Zeitdimension unseres Bewusstseins ist es uns möglich, willentlich aus dem Moment der Gegenwart beliebig den Blick in die Vergangenheit wie auch in die Zukunft zu richten. Hierbei kann das autonoetische Wissen, das an eine intakte Funktionalität des autobiografischen Gedächtnisses gebunden ist, jeweils klar zwischen einem aktuellen Erleben, einer rückwärtsgewandten Erinnerung oder einer zukunftgerichteten Vorstellung unterscheiden. In traumatisch veränderten Bewusstseinszuständen wird diese souveräne Leistung des Selbst durch Flashbacks vollständig suspendiert und an eine unwillkürlich wiederbelebte traumatische Aktualität fixiert. Das Zeiterleben kann in dieser Situation grundlegend verändert sein. Es ist im einen Fall fast zeitlos gedehnt, im anderen Fall oft beunruhigend beschleunigt. Auch in normalen, also nicht dissoziativ veränderten Bewusstseinszuständen des Alltags können intrusive Wiedererinnerungen auftreten und großen emotionalen Disstress verursachen. Diese Trauma-bezogenen Wiedererinnerungen verändern das autonoetische Bewusstsein von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht grundlegend, wenngleich sie es bedeutsam beeinflussen.
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Unser Bewusstsein ist im Umweltbezug intentional angelegt und in der Regel in klaren Subjekt-Objekt-Relationen organisiert. Diese 1.-Person-Perspektive kann in traumatisch-dissoziativ veränderten Bewusstseinszuständen verloren gehen, wenn eigene Gedanken oder Erinnerungen nur mehr in Form von Stimmen wahrgenommen werden können. Der selbstreferenzielle Standpunkt des bewussten Erlebens ist hier qualitativ in eine 2.-Person-Perspektive abgeändert. Im normalen Wachbewusstsein können Trauma-bezogen ebenfalls zahlreiche negative selbst- und objektreferenzielle Kognitionen und Bewertungen vorliegen. Auch wenn die grundlegenden Selbst- und Objektschemata einer Person zu den Themen Sicherheit, Vertrauen, Selbstwert, Abhängigkeit, Autonomie, Kontrolle, Intimität, Kausalität und Hoffnung zentral erschüttert sind, so ist die Grundstruktur der personalen Identität nicht unbedingt aufgespalten.
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In der Dimension des Körperbewusstseins erscheinen an beiden Polen jeweils Zustände einer Depersonalisation einerseits und eines autonomen Hyperarousals andererseits. Depersonalisation in ihrer ausgeprägten traumatisch-dissoziativen Form beinhaltet sehr häufig Zustände einer Auftrennung des nur mehr in einer 3.-Person-Perspektive von außen wahrnehmbaren, fremd erlebten eigenen Körpers und eines von körperlichen Sensationen getrennten, nur mehr mental beobachtenden Selbst („out-of-body experiences“). Auch dieses Erleben zeigt eine grundlegende Abwandlung der Identitätsstruktur an. In Zuständen eines bei normalem Wachbewusstsein getriggerten autonomen Hyperarousals wiederum können quälende und beunruhigende Körpersensationen das Akuterleben vollständig beherrschen und unter Umständen mit der Angst eines Kontrollverlusts einhergehen. Trotzdem besteht kein Zweifel darüber, dass es sich um den eigenen Körper handelt, der aktuell in Aufruhr ist. Eine Zwischenstellung nehmen jene Fälle von dissoziativen Störungen der Motorik bzw. der Sensorik/Sensation ein, bei denen der Handlungsvollzug oder die Empfindungsfähigkeit in Teilbereichen des Körpers bzw. der Körperrepräsentation einer willentlichen Kontrolle des Selbst entzogen ist.
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Schließlich werden in der Dimension der emotionalen Regulation diese beiden Pole in ganz analoger Weise durch einen Zustand der völligen emotionalen Betäubung einerseits, durch Zustände Trauma-bezogener Affektzustände von Angst, Horror, Panik, Scham und Schuld andererseits bestimmt.
Auf neurobiologischer Ebene liegt derzeit für ein desorientiert-desorganisiertes Bindungsmuster noch kein so klares Bild vor, wie es bei sicheren und unsicheren Bindungsmustern schon möglich erscheint. Desorientiert-desorganisierte Bindungsmuster werden vorrangig im Kontext diverser Bindungstraumata konzeptualisiert. Neurobiologische Forschungsansätze wurden bisher zumeist bei erwachsenen Personen durchgeführt, die schwerwiegende Traumatisierungen in frühen Entwicklungsabschnitten aufwiesen und in späteren Lebensabschnitten, oft erst in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter, eine Reihe von psychischen Störungen zeigten, die als assoziierte klinische Folgezustände zu konzipieren waren, wie z.B. eine PTBS, komplexe PTBS, dissoziative Störungen, schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen, insbesondere vom Borderline-Typ, aber auch Varianten chronischer Depressionen, Ängste, Somatisierungssyndrome, suizidaler Verhaltensweisen oder Substanz-bezogener Gebrauchsstörungen. Zwischen diesen unterschiedlichen klinischen Zuständen sind bedeutsame psychopathologische, psychodynamische und Trauma-bezogene Überlappungen festzuhalten (Ford u. Cortois 2014). Auch in neurobiologischer Hinsicht setzt sich zunehmend eine transdiagostische Sichtweise durch, die zuvor einzelnen diagnostischen Kategorien zugeordnete Befunde, z.B. des Neuroimagings, nunmehr verstärkt als allgemeinere Kennzeichen eben dieser frühen Traumaexpositionen bewertet (Teicher u. Samson 2016).
Die derzeitige empirische Datenlage des Neuroimaging unterstreicht die beiden Hauptmodi der pathologischen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen, den Modus des „autonomen Hyperarousals“ einerseits, den Modus der „dissoziativen Depersonalisation-Derealisation“ andererseits:
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In Provokationsparadigmata, die auf ein Wiedererinnern traumatischer Erfahrungen zielen, stellen sich im Modus eines autonomen Hyperarousals als konsistentestes Bild eine hyperaktive Amygdala bei hyporeaktiven ventralen Anteilen des präfrontalen Kortex, ferner ein hyperaktives dorsales anteriores Zingulum (dACC) sowie eine hyperaktive Inselregion dar. In einem allgemeinen klinischen Verständnis pathologischer Formen einer posttraumatischen Verarbeitung verdeutlichen diese Befunde, dass es bei Personen mit PTBS sukzessiv zur Umschichtung eines dominanten zentralnervösen Regulationsmodus weg von präfrontalen Strukturen verstärkt hin zur Amygdala-zentrierten Steuerung kommt (Arnsten et al. 2015).
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In einem Dissoziationsmodus der Depersonalisation bei Konfrontation mit traumatischen Erinnerungen lassen sich die Befunde zu folgendem neuronalem Aktivierungsnetz verdichten: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe stellt sich eine stärkere Aktivierung in den oberen und mittleren Gyri temporales, im Parietal- und Okzipitallappen, im mittleren frontalen Gyrus sowie im medialen präfrontalen Kortex und im ACC dar, bei insgesamt reduzierter Aktivität der Amygdala. Mit den hierüber vermittelten affektiven, kognitiven und körperbezogenen Varianten der dissoziativen Entfremdung gelingt akut zwar eine Eindämmung der autonom-nervösen Hyperaktivität im Kontext einer Traumaerinnerung. In langfristiger Perspektive entstehen hieraus aber große Probleme einer wirksamen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen (Lanius 2015).
Kontrollierte neurowissenschaftliche Forschungen bereits an Kleinkindern mit gravierender emotionaler Vernachlässigung oder diversen Formen eines emotionalen, körperlichen oder sexuellen Missbrauchs verbieten sich hingegen medizinisch-ethisch und sind zumeist auch aus praktischen Gründen kaum zu realisieren. Geeignete Tiermodelle, die approximativ eine Traumatisierung des frühen Bindungsprozesses simulieren, sind wiederum imstande, Verständnislücken zu den Auswirkungen früher Traumatisierungen zu überbrücken. Einige Aspekte sollen hier nur sehr summarisch aufgeführt werden (Teicher et al. 2016; Opendak u. Sullivan 2019).
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Effekte früher Traumatisierungen betreffen grundlegende Veränderungen auf allen Analyseebenen, die von der zellulären Signalgebung bis zur Verhaltensexpression reichen. Sie schließen eine Vielzahl von Neurotransmittersystemen, Mechanismen der Stressvermittlung (z. B. HPA-Achse, Neuroinflammation) und zahlreiche neuronale Regelkreise des Gehirns ein. Einzelne betroffene Hirnregionen weisen je eigene Reifungs- und Entwicklungspfade auf und sind wiederum für eine Unzahl von distinkten Verhaltensformen verantwortlich mit ebenfalls eigenständigen weiteren Entwicklungspfaden. Einige Gehirnareale codieren traumatische Informationen, die erst später zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang, dass einige Gehirnregionen, die im Erwachsenenalter eine zentrale Rolle in der Vermittlung traumatischer Erfahrungen spielen, wie insbesondere Amygdala, Hippokampus und vor allem präfrontaler Kortex, in frühen Abschnitten der Entwicklung noch höchst unreif sind. Frühe Traumatisierungen können aber die weitere Entwicklung dieser Strukturen in ihrer Funktionalität bahnen, ihre Auswirkungen werden aber erst sehr viel später als atypische Stressreaktionen erkennbar. Traumata in diesen frühen Entwicklungsabschnitten betreffen in erster Linie das neuronale Bindungssystem.
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Das neuronale Bindungssystem ist evolutionär so angelegt, dass es ein Baby inhärent dazu drängt, quasi unter allen, selbst unter traumatischen Umständen einen stabilen Kontakt zu einer Bindungsfigur aus Überlebensgründen aufrechtzuerhalten. Auch höchst widrige, schmerzhafte Erfahrungen werden in diese primäre Beziehungsform mit eingebunden. Von Geburt an steht eine reichhaltige noradrenerge Neurotransmission (Locus coeruleus) für diese basalen Lernvorgänge zur Verfügung. Die strukturelle und funktionelle Unreife jener Gehirnstrukturen, die in späteren Entwicklungsabschnitten ein Vermeidungsverhalten organisieren, wie insbesondere die Amygdala, verhindert zu diesem frühen Zeitpunkt eine effiziente behaviorale Strategie, sich von einer traumatisierenden Bindungsfigur zurückziehen zu können. Im Gegenteil, die Beziehung zu ihr ist trotz niedriger Qualität der elterlichen Fürsorge und wiederholter traumatischer Einwirkungen sogar besonders robust.
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Trotzdem sind jene Systeme, die in frühen Entwicklungsabschnitten noch weitgehend unreif sind, in einer Vorprägung von großer Tragweite in späteren Phasen der Reifung und Entwicklung. Sie werden prominent zu Zeiten demaskiert, in denen weitere Stressoren oder Traumata einwirken. Mit einem überaktiven System der Bedrohungswahrnehmung und -bewertung (kortikoamygdalär), einem bedeutsam reduzierten Belohnungssystem (kortikobasalganglionär) und einem stark eingeschränkten höher kortikalen Kontroll- und Exekutivsystem (präfrontaler Kortex) werden nicht nur massive Vulnerabilitäten aus der frühen traumatischen Entwicklungsgeschichte hinsichtlich weiterer Stressoren und Traumata in spätere Lebensabschnitte transportiert, es werden auch die Chancen zu deren erfolgreicher Verarbeitung drastisch reduziert.
Schlussbemerkung
Bindung und Bindungsfähigkeit zählen zu den grundlegendsten Kennzeichen der „conditio humana“. Dahinter verbirgt sich ein tief in der Phylogenese verankertes evolutionäres Prinzip. Es kann John Bowlby nur zugestimmt werden, wenn er dem Bindungssystem den Stellenwert eines primären Motivationssystems in der Individualentwicklung eines Menschen einräumt. In seinen Anfängen entfaltet sich dieses Prinzip in den Interaktionen der frühen Mutter-Kind-Dyade. In seinen evolutionär-biologischen Anteilen garantiert es normalerweise einen besonders innigen emotionalen Austausch zwischen den beiden Partnern, der Sicherheit, Geborgenheit, Wert und Vertrauen und schließlich wirksame Selbstregulation vermitteln soll. Die je typischen psychosozialen Erfahrungen hier prägen nicht nur auf neurobiologischer Ebene die Organisation und Strukturierung des sich weiter ausdifferenzierenden kindlichen Gehirns. Die je besondere Qualität dieser frühen Beziehungserfahrungen ist auch entscheidend für die weitere affektive, kognitive und soziale Entwicklung im Kontext seiner Gehirnentwicklung. Ein je erworbenes Bindungsmuster ist auf das Engste mit der Fähigkeit zu Empathie und Mentalisierung des heranwachsenden Kindes verknüpft, beides psychologische Fertigkeiten, die auch seine künftigen Beziehungen bestimmen werden. Während eine sichere Bindung einen entscheidenden Grundstock für eine gesunde Entwicklung legt, sind eine unsichere und vor allem eine desorientiert-desorganisierte Bindung mit erhöhten Risiken für zahlreiche psychische und somatische Krankheiten verknüpft. Auch wenn Traumatisierungen in der frühen Bindungssituation ein schwerwiegendes Erbe sowohl auf psychologischer und interpersonaler als auch auf neurobiologischer Ebene für das weitere Leben und die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten mitgeben, ist hierin kein absolut irreversibles Schicksal für die eigene Existenz und nachfolgende Generationen zu sehen, wie spezielle psychotherapeutische Ansätze eindrucksvoll aufzeigen können (Iyengar et al. 2019).
Den ersten Teil dieses Fachartikels, Psychobiologie von Bindung und Trauma: Grundaspekte, können Sie in JATROS Neurologie & Psychiatrie 6/2021 oder hier nachlesen:
Psychobiologie von Bindung und Trauma Teil 1: Grundaspekte
Quelle:
Diese Arbeit stellt eine modifizierte Form einer früheren Publikation dar: Lahousen T, Unterrainer HU, Kapfhammer HP: Psychobiology of attachment and trauma – some general remarks. Frontiers Psychiatry 2019; 10: 914. doi: 10.3389/fpsyt.2019.00914
Literatur:
bei den Verfassern
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