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ADHS

Auch im Erwachsenenalter daran denken!

Ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) bei Kindern kann bis ins Erwachsenenalter persistieren. Die ADHS-Prävalenz im Erwachsenenalter liegt bei etwa 2,5%.1 Es gibt Situationen, in denen besonders an ein Screening gedacht werden sollte, zum Beispiel bei der Versorgung von Suchtkranken oder in Gedächtnisambulanzen.

ADHS und Sucht

Etwa 15 bis 20% der Menschen mit einer Substanzabhängigkeit weisen auch ein ADHS auf, berichtete Dr. Mathias Luderer von der Arbeitsgruppe Substanzgebrauchsstörungen und ADHS der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Frankfurt, Deutschland. Man schätzt, dass bei 94% der auch von ADHS betroffenen Suchtkranken diese Störung nicht erkannt wird. Dabei ist eine komorbide ADHS bei Substanzgebrauchsstörungen besonders relevant. Bei der Entstehung der Abhängigkeit zeigen sich bei ADHS als Komorbidität häufig eine frühe Eskalation des Substanzkonsums und das Risiko für Begleiterkrankungen ist besonders hoch. Bei komorbider ADHS sind zudem Abbrüche der Suchttherapie und ein fortgesetzter Konsum unter der Behandlung besonders häufig und die Betroffenen haben Probleme mit unflexiblen Regeln, Abwarten, Selbstorganisation und Termineinhaltung.

Menschen mit Substanzabhängigkeit screenen

Um ein ADHS bei Menschen mit Substanzabhängigkeit nicht zu verpassen, wird nach einem internationalen Konsensus das Routinescreening auf ADHS empfohlen.2 Auch in den deutschen S3-Leitlinien zu Alkoholabhängigkeit und zu cannabisbezogenen Störungen (in Entwicklung) wird das Screening empfohlen.3

<< Bei Menschen mit Suchterkrankung sollte die medikamentöse Therapie des ADHS immer kombiniert mit einer Psycho- und gegebenenfalls Pharmakotherapie der Abhängigkeitserkrankung erfolgen.>>

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt für Erwachsene mit Alkoholabhängigkeit die Verwendung des Screening-Fragebogens „Adult ADHD Self-Report Scale“ (ASRS).4 Mit 18 Fragen werden ADHS-Symptome abgefragt. Ab 14 erreichten Punkten liegt ein ADHS-Verdacht vor. Das unterschätzt laut Luderer allerdings die ADHS-Häufigkeit – ein Drittel der Betroffenen werde damit verpasst.5

Luderer hat mit seiner Arbeitsgruppe den Test „ADHS-SB Hyperaktivität“ speziell für die Anwendung bei Patient:innen mit alkoholbezogener Störung entwickelt.6 Er kann anhand der Angaben der Betroffenen zur Hyperaktivität differenzieren, ob wahrscheinlich ein ADHS, eine Alkoholabhängigkeit oder beides vorliegt.

Insbesondere Menschen mit ADHS und ausgeprägter Hyperaktivität scheinen Alkohol als Selbstmedikation zu nutzen und auf diesem Weg eine alkoholbezogene Störung zu entwickeln. Außerdem sind Traumatisierungen und eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit mit komorbider ADHS häufiger als bei Personen ohne ADHS.7

Screening liefert noch keine Diagnose

Bei einem negativen ADHS-Screening ist die Störung unwahrscheinlich. Bei einem positiven Ergebnis im ADHS-Screening liegt ebenfalls noch keine ADHS-Diagnose vor. Dazu bedarf es einer weiteren Diagnostik. Allerdings sind die ADHS-Symptome von Menschen mit substanzbezogenen Störungen erst bei Fehlen deutlicher Symptome von Entzug und Intoxikation einzuschätzen. Wichtig ist laut Luderer die longitudinale Erfassung von ADHS-Symptomen, insbesondere in abstinenten Phasen.

ADHS-Therapie bei Substanzabhängigkeit

Für Erwachsene mit ADHS wird von der aktuellen deutschen S3-Leitlinie primär eine Pharmakotherapie empfohlen.

Bei Menschen mit Suchterkrankung sollte die medikamentöse Therapie des ADHS immer kombiniert mit einer Psycho- und gegebenenfalls Pharmakotherapie der Abhängigkeitserkrankung erfolgen. Schon nach der ersten Einnahme der ADHS-Medikation könne sich eine Verbesserung zeigen, berichtete Luderer. Retrospektive Studien weisen auf eine bessere Haltequote, ein geringeres Risiko für substanzbezogene Ereignisse und bei Amphetaminabhängigkeit auf weniger Krankenhausbehandlungen und eine verringerte Mortalität bei Stimulanzienbehandlung einer komorbiden ADHS hin.8–10

Bei der Stimulanzientherapie bei Opioidabhängigkeit und Substitution (Buprenorphin) muss eine individuelle Risikoabwägung erfolgen. Einerseits steigt mit der Stimulanziengabe das Risiko für eine medikamentenbezogene Intoxikation. Andererseits nehme die Behandlungsadhärenz unter Stimulanzien rasch und deutlich zu, was das Risiko für eine Intoxikation letztlich senke, erklärte Luderer. Wird ein nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch befürchtet, sollten lang wirksame Stimulanzien eingesetzt werden. Weitere Optionen sind die Nichtstimulanzien Atomoxetin oder Guanfacin. Luderer empfahl bei Opiatabhängigkeit die Einnahme lang wirksamer Stimulanzien unter Sicht. Auch bei einer „Take home“-Gabe ist seiner Erfahrung nach in den ersten drei Monaten ein wöchentlicher persönlicher Arztkontakt empfehlenswert. Bei Hinweisen auf Missbrauch oder Weitergabe der Stimulanzien muss die pharmakologische ADHS-Behandlung kritisch überprüft und gegebenenfalls beendet werden.

Auch bei Älteren und in der Gedächtnissprechstunde an ADHS denken

Erwachsene mit ADHS weisen je nach Studie ein um den Faktor 1,5 bis 3,5 erhöhtes Risiko auf, eine milde kognitive Beeinträchtigung (engl.: „mild cognitive impairment“, MCI) oder eine Demenz zu entwickeln, erklärte Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Retz, Direktor des Instituts für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg an der Saar, Deutschland. In einer universitären Gedächtnissprechstunde in Japan lag die ADHS-Prävalenz bei 1,5%.11 Ein ADHS-Screening kann sich in dieser Situation lohnen.

Etwa 2% aller über 60-Jährigen weisen Kriterien eines ADHS auf, sagte Retz.12 Leitlinien zur ADHS-Behandlung berücksichtigen die Versorgung älterer Patient:innen mit ADHS nicht. Ein Grund dafür ist die fehlende Evidenz: Über 60-Jährige wurden in keiner randomisiert kontrollierten Studie zur Pharmakotherapie der ADHS eingeschlossen. Dennoch kann die Therapie mit Methylphenidat oder Atomoxetin auch bei Senioren mit ADHS indiziert sein. Wichtig ist die Berücksichtigung von Komorbiditäten und Interaktionen sowie von alterstypischen pharmakokinetischen Veränderungen, die einen Effekt auf unerwünschte Medikamentenwirkungen haben können.

Zu beachten ist insbesondere, dass Stimulanzien und Atomoxetin die Herzfrequenz und den systolischen Blutdruck steigern und mit einer erhöhten Rate an kardiovaskulären Ereignissen assoziiert sind.13 Entscheidet man sich für eine Pharmakotherapie des ADHS, sollte man die Behandelten – insbesondere in der Anfangszeit der Therapie – sorgfältig überwachen, sagte Retz.

E-Health-Technologie hilft nicht immer

Eine App-basierte Psychoedukation kann eine Gruppenintervention bei ADHS wirksam unterstützen. Wie Univ.-Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Deutschland, berichtete, verbesserten sich in der „AwareMe“-Studie in der Gruppe mit der von ihr entwickelten App Aufmerksamkeit und Impulsivität sowie Adhärenz zu den Hausaufgaben gegenüber einer Vergleichsgruppe mit einer Psychoeduktion auf Papier.14 Die Integration eines Chatbots für mehr Interaktionen führte allerdings zu keiner weiteren Verbesserung der ADHS-Symptome gegenüber der ursprünglichen App.15

Die Anwendung der virtuellen Realität (VR) bei der ADHS-Therapie ist noch nicht praxistauglich. Im virtuellen Seminarraum können zwar ADHS-Symptome in realitätsähnlicher Umgebung untersucht werden, z. B. die Ablenkung der Aufmerksamkeit durch einen Vogel am Fenster. Auch ist es möglich, Augenbewegungen mit der VR-Brille zu verfolgen, Kopfbewegungen mit der Aktigrafie zu messen und ein EEG zu integrieren. Ein signifikanter Unterschied der Messwerte zwischen Patient:innen mit ADHS mit Medikation und ohne fand sich dabei aber nicht. Auch misslang der Versuch, über ein VR-gestütztes Aufmerksamkeitstraining mit Feedback die Symptome des ADHS zu bessern. Das Feedback irritierte die Probanden mehr, als dass es half.16

Symposium „Neues in der Therapie der ADHS im Erwachsenenalter“ beim DGPPN-Kongress am 30.11.2023 in Berlin

1 Simon V et al.: Br J Psychiatry 2009; 194(3): 204-11 2 Özgen H et al.: Eur Addict Res 2020; 26(4-5): 223-32 3 S3- Leitlinie Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen. AWMF-Registernummer: 076-001 4 Kessler RC et al. Psychol Med 2005; 35(2): 245-56 5 Luderer M et al.: Drug Alcohol Depend 2019; 195: 52-8 6 Luderer M et al.: Front Psychiatry 2023; 14: 1112843 7 Luderer M et al.: Eur Addic Res 2020; 26(4-5): 245-53 8 Kast KA et al.: J Clin Psychiatry 2021; 82(2): 20m13598 9 Quinn PD et al.: Am J Psychiatry 2017; 174(9): 877-85 10 Heikkinen M et al.: JAMA Psychiatry 2023; 80(1): 31-9 11 Sasaki H et al.: BMC PSychiatry 2022; 22: 354 12 Müller M et al.: J Neural Transm 2023; 130(3): 313-23 13 Liang EF et al.: Int J Environ Res Public Health 2018; 15(8): 1789 14 Selaskowski B et al.: Psychiatry Res 2022; 317: 114802 15 Selaskowski B et al.: BJPsych Open 2023; 9: e192 16 Selaskowski B et al.: BMC Psychiatry 2023; 23: 74

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