Sectioindikationen im Wandel der Zeit
Autorin:
Dr.med. Katharina Redling
Geburtshilfe und Pränatalmedizin
Frauenklinik Universitätsspital Basel
E-Mail: katharina.redling@usb.ch
Wie viele Sectioindikationen kennen Sie? Nehmen Sie sich einen kurzen Augenblick Zeit und gehen Sie die Ihnen geläufigen Indikationen im Kopf durch. Kommen Sie auf zehn verschiedene Indikationen? Auf zwanzig? Dreissig? Vierzig? Noch mehr?
Im Zuge der Vorbereitung auf einen Vortrag an anderer Stelle habe ich versucht, eine (mit Sicherheit unvollständige) Auflistung der heutigen Sectioindikationen zu machen und bin auf über fünfzig Indikationen gekommen.
Grundsätzlich lassen sich die Sectioindikationen heute über verschiedene Systematiken erfassen und einteilen. Man kann unterscheiden zwischen maternalen und fetalen Indikationen, zwischen primären und sekundären, zwischen absoluten und relativen. Und sicherlich finden sich noch andere Arten der Einteilung. Aber um die heutigen Sectioindikationen soll es in diesem Artikel nicht ausschliesslich gehen, sondern darum, wie sich diese Indikationen im Wandel der Zeit verändert haben.
Also: «Let’s go back in time (and space?)»
Schon im Reich der Legenden und Mythen verschiedener Kulturen und Zeitalter sind Schnittentbindungen aus dem Bauch und anderen Körperteilen wie dem Oberschenkel beschrieben.
So wurde zum Beispiel Dionysos, seines Zeichens der griechische Gott des Weines, der Freude, der Trauben und der Fruchtbarkeit, als Sohn des Zeus und einer Sterblichen namens Semele geboren. Zeus hatte eine geheime Liebschaft mit Semele, welche von ihm schwanger wurde. Als seine Ehefrau Hera davon erfuhr, erschien sie der ahnungslosen Semele in der Gestalt ihrer Amme und überredete sie, Zeus dazu zu bringen, sich ihr als Liebesbeweis in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Zeus zeigte sich daraufhin Semele als Blitz und sie verbrannte. Hermes rettete das Ungeborene, brachte es Zeus und dieser nähte es sich in eine selbst zugebrachte Wunde am Oberschenkel ein. Etwa drei Monate später wurde Dionysos eben aus dieser Wunde wieder herausgeschnitten und auf diese Weise geboren, die sogenannte «Schenkelgeburt».
Auch ein weiterer Gott aus der griechischen Mythologie, nämlich Asklepios, wird durch eine Schnittentbindung geboren. Koronis, eine Königstochter, ist bereits von Apollo schwanger, als sie sich in einen Sterblichen verliebt. Als Apollo davon erfährt, lässt er sie von seiner Zwillingsschwester Artemis töten. Der Ungeborene wird von Hermes aus dem Leib seiner Mutter geschnitten und so gerettet. Anschliessend wächst Asklepios bei einem Zentauren auf, von dem er die Heilkunst erlernt.
Abb. 1: Die Geburt des Siddharta, Gandhara (Pakistan), 2.–3. Jhdt. n. Chr.
Aber auch in anderen Kulturen spielen Schnittentbindungen eine Rolle. So wird Gautama Buddha der Überlieferung nach von den Göttern Brahma und Indra schmerzlos aus der Seite seiner Mutter Maya entnommen, während sie sich an dem Ast eines Baumes festhält (Abb. 1).
Warum aber werden schon in einer Zeit Geburten als Schnittentbindungen beschrieben, als es diese noch gar nicht gab?
Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Erstens beobachteten die Menschen, dass es Geburtshindernisse bei Mensch und Tier gibt, die sich womöglich nur durch Aufschneiden beheben lassen. Zweitens ist eine Schnittentbindung etwas Aussergewöhnliches und betont so die Besonderheit des Geborenen und gilt als gutes Omen. Und drittens bedeutet eine Schnittentbindung auch rituelle Reinheit: Man wird nicht «zwischen Urin und Kot», also zwischen Urethralöffnung und Anus geboren.
Der Namensgeber – Gaius Julius Caesar (100–44 v.Chr.)
Die Geburtslegende Julius Caesars – von Plinius dem Älteren geprägt – besagt ebenfalls, dass er aus dem Leib seiner Mutter herausgeschnitten wurde (Abb. 2). Es ist sehr zu bezweifeln, dass das der Wahrheit entsprach, denn Caesars Mutter überlebte seine Geburt um mehrere Jahrzehnte. Man kann davon ausgehen, dass auch hier die Schnittentbindung, welche später namensgebend für die gesamte Operation wurde, zur Betonung der herausragenden Stellung Caesars verwendet wurde.
Abb. 2: Die Geburt des Caesar, Buchillustration ca. 1360, Urheber unbekannt
Von der Frühgeschichte bis ins 16. Jahrhundert – Sectio in mortua/in moribunda
In dieser Zeit war eine Sectio caesarea nicht zur Lebensrettung der Mutter gedacht, sondern wurde an der Sterbenden oder gerade Verstorbenen vorgenommen. Der Eingriff wurde meist von Hebammen ohne festgelegte chirurgische Technik durchgeführt. Ein weiterer lebenslimitierender Faktor waren die fehlenden medizinisch-biologischen Ressourcen wie An-algesie, Blutstillung, Asepsis, Nahttechnik und das passende Nahtmaterial.
Die Indikation für eine Sectio war die «Rettung des Ungeborenen» aus dem christlichen Glauben heraus, dass ungetaufte Seelen in die ewige Verdammnis eingehen und das Kind somit getauft werden müsse. Eine solche Taufe war aber erst nach der Geburt möglich. Somit wurde die Sectio nur nach dem Tod der Mutter oder auf ausdrücklichen Wunsch einer Sterbenden durchgeführt, wenn auch noch Lebenszeichen des Kindes wie zum Beispiel Kindsbewegungen vorhanden waren.
Das Überleben des Kindes selbst war ebenso unwahrscheinlich wie das der Mutter und stand auch nicht im Vordergrund.
Manchmal waren auch rein weltliche Gründe wie die Akkumulation von Besitz oder die Sicherung einer Herrschaftsfolge die Indikation für einen Kaiserschnitt.
16. bis 19. Jahrhundert – die Operation an der Lebenden
Eine der ersten überlieferten Sectiones, bei der die Mutter und das Kind überlebten, wurde im Jahr 1500 in Siegershausen im Kanton Thurgau durch Jacob Nufer an seiner Frau durchgeführt.1 Nufer, von Beruf Tierkastrator, war wohl aus diesem Grund mit der Anatomie einigermassen vertraut und konnte so den Eingriff durchführen, ohne das Leben seiner Frau zu gefährden. Sie soll in den Jahren danach noch sechs weitere Kinder – darunter Zwillinge – geboren haben.
Der französische Arzt François Rousset propagierte in seinem 1581 publizierten Werk «Traitté nouveau de l’Hysterotomotocie» als einer der ersten die Sectio an der Lebenden unter bestimmten Voraussetzungen wie z.B. die abnorme Grösse und Lage des Kindes, Zwillinge, die Enge der Geburtswege oder dem intrauterinen Fruchttod.2
In den darauffolgenden Jahrhunderten kam es zu einer fortschreitenden Weiterentwicklung und Standardisierung des Operationsverfahrens, chirurgische Instrumente wurden entwickelt, die Äther-Anästhesie eingeführt ebenso wie die Antisepsis. Die Geburtshilfe wurde professionalisiert. Und doch spielte der Einfluss der Religion auf die Sectio weiterhin eine grosse Rolle – so war beispielsweise Taufwasser Bestandteil eines chirurgischen Sectiosets.
Die zunehmende Aufklärung und Säkularisation bedeuteten eine Änderung der Indikation hin zur Rettung des Lebens der Mutter, auch unter Inkaufnahme des fetalen Todes.
Es gab auch weiterhin Sectiones zur Sicherung der Herrschaftsfolge oder aus staatspolitischen Gründen zur Rettung jedes für den Staat wertvollen Bürgers.
Die teilweise schweren Folgen einer solchen Operation für die Überlebende wurden hierbei kaum bedacht und spielten für die Indikationsstellung keine Rolle.
Aufgrund der hohen Morbiditäts- und Mortalitätsrate wurde die Sectio caesarea aber insgesamt zurückhaltend eingesetzt. Sie machte einen Anteil von unter einem Prozent aller Geburten aus.
Ausgehendes 19. Jahrhundert bis heute – Entwicklung zur Routine
1882 publiziert Ferdinand Adolf Kehrer den zweischichtigen und damit abdichtenden Verschluss der queren Uterotomie im unteren Uterinsegment und erreicht damit ein deutliches Absinken der Mortalität auf 22%.3 In den folgenden Jahrzehnten wurden Narkoseverfahren weiterentwickelt, die Antisepsis wurde zur Asepsis, Bluttransfusionen, Antibiotika und Thromboseprophylaxe wurden eingesetzt. Die damit einhergehende weitere deutliche Senkung der maternalen Mortalität führte zu einer weiteren Verlagerung der Indikationen hin zu einer deutlichen Zunahme der fetalen Indikationen. Auch die Verbesserung der Zustandsdiagnostik des Fetus mittels CTG und Neuerungen im Bereich der Versorgung unreifer Neugeborener trug zu dieser Veränderung bei.
Parallel kam es zu einer fortschreitenden Lösung von den medizinischen Indikationen hin zur Terminierung der Geburt, um beispielsweise ein günstiges Horoskop zu erreichen (z.B. in China), die Sectio galt zunehmend als Zeichen des Reichtums und der Bildung (z.B. in Brasilien und Indien).
Die zunehmende Patientinnenautonomie und Patientinnenaufklärung und damit einhergehend der Wunsch nach Sectio, um Schmerzen zu vermeiden oder zu beenden, oder der Wunsch nach maximaler Sicherheit für das Ungeborene sowie die sinkende Bereitschaft, die Risiken einer vaginalen Geburt einzugehen, stellten ein weiteres neues Indikationsfeld dar. Oft spielte auch der Wunsch nach Kontrolle im Leben und somit auch bei der Geburt des Kindes eine Rolle.
Gegenwart
In der Schweiz stieg das Alter der Erstgebärenden von durchschnittlich etwas über 25 Jahren im Jahr 1970 auf über 31 Jahre im Jahr 2022,4 auch das Alter der Gebärenden insgesamt steigt an.5 Je älter die werdende Mutter ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie per Sectio entbindet. Bei Lageanomalien des Feten und bei Mehrlingen ist die Tendenz zur Sectio ebenfalls steigend.6
Betran et al. konnten 2021 zeigen, dass auch weltweit die Sectiozahlen steigen, unabhängig wo auf der Welt man sich befindet. Der Anstieg der Rate fiel naturgemäss in den «low income countries» niedriger aus als in den westlichen Industrieländern.7
Eine Erhebung der Sectiorate aus Norwegen, publiziert von Laine et al. 2023, zeigte einen plötzlichen Anstieg der Zahlen im Jahr 2001 nach der Publikation des «Term Breech Trials».8 Ein leichter Rückgang der Sectiorate nach dem Jahr 2008 können sich die Autoren nicht abschliessend erklären, auch wenn verschiedene Programme zur Verbesserung der Qualität der Versorgung der Gebärenden in Norwegen in diesen Jahren implementiert wurden.9
Quo vadis?
Wie wird die Zukunft der Sectioindikationen aussehen? Werden immer mehr Kaiserschnitte aus dem steigenden Sicherheitsbedürfnis der Gebärenden und der Geburtshelfer heraus durchgeführt werden? Gibt es eine Gegenbewegung «zurück zur Natur und zur Natürlichkeit»? Braucht es aktive Massnahmen, um die Sectiorate zu senken, im Wissen um die möglichen Folgekomplikationen? Kommt es zu einer zunehmenden Betonung des Kostenfaktors?
Die Zukunft wird zeigen, wo der Weg hinführt.
Literatur:
1 Rettberg F: Die Stunde des Kastrators. SPIEGEL Geschichte 2009; 5: 16. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/geschichte/die-stunde-des-kastrators-a-4ec18d1f-0002-0001-0000-000067068927?sara_ref=re-xx-cp-sh (zuletzt aufgerufen am 17.4.2024) 2Rousset F: Traitté Nouveau de l’Hysterotomotokie Ou Enfantement Césarien. Du Val D 1581 3 Kehrer FA: Ueber ein modificirtes Verfahren beim Kaiserschnitte. Arch für Gynaekologie 1882; 19(2): 177-209. doi:10.1007/BF01886653 4 Bundesamt für Statistik: Durchschnittsalter der Frau bei Geburt des ersten Kindes. BFS 2023. Verfügbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/geburten-todesfaelle/fruchtbarkeit.assetdetail.27225300.htm (zuletzt aufgerufen am 17.4.2024) 5 Bundesamt für Statistik: Geburten – Lebendgeburten nach Alter der Mutter. BFS 2023. Verfügbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/geburten-todesfaelle/geburten.html (zuletzt aufgerufen am 17.4.2024) 6 Bundesamt für Statistik: Entbindungen und Gesundheit der Mütter im Jahr 2017. BFS 2019. Verfügbar unter https://www.bfs.admin.ch/asset/de/8369420 (zuletzt aufgerufen am 17.4.2024) 7 Betran AP et al.: Trends and projections of caesarean section rates: global and regional estimates. BMJ Glob Health 2021; 6(6): e005671 8 Hannah ME et al.: Planned caesarean section versus planned vaginal birth for breech presentation at term: a randomised multicentre trial. Term Breech Trial Collaborative Group. Lancet 2000; 356(9239):1375-83 9 Laine K et al.: Time trends in caesarean section rates and associations with perinatal and neonatal health: a population-based cohort study of 1153 789 births in Norway. BMJ Open 2023; 13(2): e069562
Weiterführende Literatur
● Stark M: Der Kaiserschnitt. Urban & Fischer, 2009
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