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Brain Health Mission

„Eine unerlässliche Initiative und klare Investition in eine gesündere Zukunft“

Die „Brain Health Mission“ (BHM) der European Academy of Neurology (EAN) ist eine europaweite Aufklärungskampagne zur Bedeutung der Gehirngesundheit in der Vermeidung neurologischer Erkrankungen. Welche konkreten Schritte dabei unternommen werden, erläutern Anja Sander und Prof. Thomas Berger.

Warum wurde es notwendig, das BHM-Projekt ins Leben zu rufen?

A. Sander: Die Zahl der neurologischen Erkrankungen hat einen alarmierenden Wert erreicht, inzwischen sind weltweit mehr als 33% der Bevölkerung von einer neurologischen Erkrankung betroffen. Viele dieser Leiden könnten vermieden, die Lebensqualität und die Lebenserwartung der Menschen gesteigert und die Kosten für das Gesundheitssystem verringert werden, würde man generell mehr auf ein gesundes Gehirn achten. Das Ziel der BHM ist es, innerhalb von 10 Jahren eine signifikante Reduktion der neurologischen Erkrankungen zu verzeichnen und das Wissen der Bevölkerung um die Einflussfaktoren auf die Gehirngesundheit zu steigern. Eine regelmäßige Untersuchung und „Pflege“ des Nervensystems und Gehirns sollte so selbstverständlich sein wie Zähneputzen!

Welche Stakeholder müssen an einem Strang ziehen, damit das BHM-Projekt ein Erfolg wird?

A. Sander: Wir arbeiten daran, das Projekt so inklusiv wie möglich zu machen. Ein Gehirn hat ja jeder, also soll die BHM auch für jeden sein, und je mehr Menschen und Organisationen sich beteiligen, desto schneller werden wir gemeinsam erfolgreich sein. Wirklich wichtig ist, dass Aufmerksamkeit geschaffen, Aufklärung zu diesem komplexen Thema geboten und aufgezeigt wird, was jede und jeder Einzelne alles für ihre/seine Gehirngesundheit tun kann. Ich denke, wir haben ein gutes Paket geschnürt, das für medizinische Gesellschaften, Versicherungen, Arbeitgeber, Politiker, Firmen, Schulen und alle Individuen interessant sein sollte. Wir stehen ja erst ganz am Anfang, haben aber mittlerweile ca. 20 internationale medizinische Partnerorganisationen, die die BHM unterstützen und ihre Gangrichtungmitentscheiden. Viele Privatpersonen, Medien und Firmen haben bereits großes Interesse gezeigt und damit verstanden, wie wichtig es ist, gemeinsam mit uns für eine bessere Gehirngesundheit zu werben.

Was uns leider noch fehlt, sind Politiker und Entscheidungsträger im Gesundheitsbereich, denen bewusst ist, dass Gehirngesundheit nicht gleichbedeutend mit mentaler Gesundheit ist und „nur“ mit der Vermeidung altersbedingter neurologischer Erkrankungen, wie zum Beispiel Demenz oder Parkinson, gleichzusetzen ist. Gehirngesundheit ist ein holistisches Thema und betrifft wirklich jeden, in jeder Lebenslage und in jedem Lebensalter – und das wollen und müssen wir vermitteln.

Die BHM ist ein ambitioniertes, weitreichendes Projekt. Woran wird man den Erfolg messen?

T. Berger: Die WHO hat letztes Jahr den „Intersektoralen Global Action Plan for epilepsy and other neurological disorders“ veröffentlicht und damit einen Plan für alle Staaten weltweit – mit deren Zustimmung – erstellt, welche Ziele bis 2031 zu erreichen sind. Der entscheidende und messbare Erfolgsparameter wird sein, dass 2031 die Zahl der von neurologischen Erkrankungen oder deren Folgen betroffenen Menschen hoffentlich gesunken sein wird. Das ist das ambitionierte Ziel, für das alle zusammenarbeiten müssen: in der neurowissenschaftlichen Forschung, bei der Früherkennung und Frühbehandlung, aber auch bereits bei der Prävention neurologischer Erkrankungen (Stichwort: Gesundenuntersuchung), bei der intensiven Förderung der Ausbildung von Neurolog:innen und bei der Information und Aufklärung der Bevölkerung zu Fördermaßnahmen zur Gehirngesundheit.

A. Sander: Das Ziel der BHM ist ganz klar, aufmerksam zu machen – und zwar jeden –, um die von Prof. Berger erwähnten Ziele zu erreichen und um die Gesundheit der Menschen sicherzustellen. Dafür sind viele kleine Schritte notwendig und manchmal ist ein erster Schritt bereits ein Erfolg. Wir freuen uns über jeden, der als Unterstützer:in mitmacht, jeden, der sich interessiert, jedes Mal, wenn wir in den Medien über „brain health“ und Neurologie lesen und hören.

Derzeit bereiten wir in Österreich und in Finnland eine „Brain Health School Challenge“ vor, die Kinder und Jugendliche durch Interaktion dazu animieren soll, sich mit dem Thema Gehirngesundheit auseinanderzusetzen und sich Gedanken zu machen, wie man dieses Thema idealerweise anderen jungen Menschen näherbringt. Gerade junge Menschen sind fantastische Multiplikator:innen und wir sind schon sehr auf den Input gespannt.

Wir planen viele solche kleine Kampagnen, die wir dann als „Blaupause“ unseren Partnergesellschaften in Europa zur Verfügung stellen und die hoffentlich von allen nachgemacht werden, sodass es bald in allen europäischen Ländern solche Projekte geben wird.

Inwiefern wird das BHM-Projekt die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachbereichen und Disziplinen im Bereich der Neurologie stärken? Wird man auch die Verbindung zur Psychiatrie suchen?

A. Sander: Natürlich gibt es hier eine große gemeinsame Schnittmenge und gemeinsame Interessen. Und, wie vorher schon erwähnt, heißen wir jede Organisation und jede Person herzlich willkommen, die BHM zu unterstützen und den Erfolg gemeinsam voranzutreiben. Wir haben die Rahmenbedingungen der Mission so angelegt, dass sich niemand ausgeschlossen fühlt – ganz im Gegenteil, wir haben für dieses Vorhaben bereits eine enge Kooperation mit der European Psychiatric Association. Ziel ist es ja auch, „Elfenbeintürme“ aufzubrechen und gemeinsam für die Gehirngesundheit im weitesten Sinn zu arbeiten. Wir planen daher auch, weitere Fächer zu integrieren, beispielsweise Kardiologie, Gastroenterologie und Kinderheilkunde.

Wie kann BHM dazu beitragen, die Prävention von neurologischen Erkrankungen zu verbessern?

A. Sander: Die Strategie der BHM beruht auf drei Säulen, die zusammen einen sichtbaren Einfluss auf neurologische Erkrankungen haben sollen:

  • Vermittlung allgemeinen Wissens: Jeder Mensch soll über kurz oder lang wissen, was es bedeutet, auf die Gehirngesundheit zu achten und welche positiven Effekte es hat, wenn man jeden Tag etwas für das Gehirn tut. Gehirngesundheit beginnt schon im Mutterleib und endet mit dem letzten Atemzug. Es ist ein Thema, das uns über unsere ganze Lebensspanne immer begleitet, auf das wir aber auch beträchtlichen Einfluss haben, wenn wir nur genug davon wissen.

  • Die allgemeinen Gesundheitsstrategien sollen das Thema Gehirngesundheit inkludieren. Der Besuch beim Allgemeinarzt und bei der Gesundenuntersuchung wird hoffentlich bald auch einen Fragebogen zum Thema Gehirngesundheit und Prävention von Risikofaktoren für neurologische Erkrankungen beinhalten. Wir müssen die Menschen sensibilisieren, damit sie so früh wie möglich und selbstverantwortlich anfangen, auf die eigene Gehirngesundheit zu achten.

  • Erhöhung der Zahl der Neurolog:innen und anderer im Bereich der Neurologie involvierter Berufsgruppen: Im Moment kommt in Europa durchschnittlich 1 Neurolog:in auf 100000 Einwohner:innen – das muss sich ändern.

<< Jeder Mensch soll über kurz oder lang wissen, was es bedeutet, auf die Gehirngesundheit zu achten.>>
A. Sander, Wien
Welche konkreten Maßnahmen werden im Rahmen des Projekts ergriffen, um Früherkennung und Diagnose von neurologischen Erkrankungen zu fördern?

A. Sander: In dem von der EAN 2022 veröffentlichten „Brain Health Strategy Paper“ wurden 3 Gruppen von Determinanten der Gehirngesundheit ermittelt, die zusammen zu einer Verbesserung oder zum Erhalt der Gehirngesundheit beitragen:

  1. Bewahren: Dieser Bereich betrifft jeden einzelnen Menschen und was er oder sie täglich tun kann und soll: gesunder und ausreichender Schlaf, gesunde Ernährung, geistige und körperliche Aktivität und soziale Kontakte.

  2. Schützen und vorbeugen: Das umfasst quasi die Dos and Don’ts, u.a. Alkohol reduzieren, Rauchen vermeiden, Depressionen, Bluthochdruck und Sehbeeinträchtigungen behandeln.

  3. Planen: Hier sind die politischen Entscheidungsträger:innen gefragt und das wird hoffentlich eine der Auswirkungen der Mission sein. Je erfolgreicher sich das öffentliche Wissen um die Gehirngesundheit durchsetzt, desto größer wird die Notwendigkeit in der Politik werden, sich verstärkt des Themas anzunehmen.

Wie wird das Projekt dazu beitragen, die Behandlungsmöglichkeiten für neurologische Erkrankungen zu verbessern?

T. Berger: Eine der 3 Säulen der BHM ist es, die Zahl der Neurolog:innen zu erhöhen. 1 Neurolog:in pro 100000 Einwohner:innen ist eine bescheidene Zahl. Der Gehirngesundheitscheck soll so normal werden wie die jährliche Gesundenuntersuchung oder der Kontrollbesuch beim Zahnarzt.

Weiters ergeben sich aus allen Projekten immer Synergien und hier können wir davon ausgehen, dass, wenn man einen größeren Fokus auf ein Thema legt, sich daraus noch viele andere positive Effekte ergeben. Ich rechne fest damit, dass durch die BHM, durch das Wissen um die Bedeutung der Früherkennung, viele Menschen mehr Augenmerk auf die Einflussfaktoren für neurologische Erkrankungen legen werden.

Auf welche Erkrankungen bzw. deren Verbreitung werden sich Ihrer Meinung nach die Aktivitäten der BHM am meisten auswirken?

T. Berger: Auf einzelne Erkrankungen kann ich das nicht reduzieren, viele Dinge hängen auch zusammen, aber neueste neurologische Studien haben ergeben, dass 2030 schon rund 78 Millionen Menschen in Europa an Demenz erkrankt sein werden. Das sind beinahe 10% der gesamten Bevölkerung. Und gerade das Demenzrisiko – das ist bewiesen – kann durch eine Reduktion von bestimmten Risikofaktoren und damit Steigerung der Gehirngesundheit gesenkt werden. Jeden Tag ein wenig körperliche Bewegung, soziale Interaktion, geistige Aktivität, Vermeidung von vaskulären Risikofaktoren – es sind keine schwierigen Schritte, aber sie können viel bewirken.

Welche Rolle spielt das Projekt bei der Förderung von Forschung und Innovation in der Neurologie?

T. Berger: Zusammen mit unseren Partnern veranstalten wir regelmäßig Events in Brüssel, sprechen mit Politiker:innen und versuchen so, auch auf oberster EU-Ebene auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen. Es gibt bereits erste kleine Erfolge und wir sind zuversichtlich, dass auch hier durch viele kleine Schritte etwas erreicht werden kann.

Wie wird BHM dazu beitragen, die Aus- und Weiterbildung von Neurolog:innen zu fördern?

A. Sander: Aus- und Weiterbildung von Neurolog:innen ist ja bereits eine der Prioritäten der EAN. Seit vielen Jahren veranstalten wir einen jährlichen Kongress mit über 7000 Teilnehmer:innen, darüber hinaus eine Vielzahl an regionalen und überregionalen Akademien und Kursen. Wir bieten Austauschprogramme für junge Neurolog:innen und eine umfassende Online-Lernplattform, um die Ausbildung von Neurolog:innen europaweit auf einem hohen Niveau sicherzustellen.

T. Berger: Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass die Kolleg:innen lernen, über Neurologie zu sprechen – nicht nur unter sich und mit ihren Patient:innen, sondern auch mit Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit. Um das zu erreichen, planen wir derzeit ein Advocacy-Programm für Neurolog:innen. Alle Kolleg:innen sind eingeladen, sich dafür zu bewerben und mitzumachen.

Welche Rolle spielt das Projekt bei der Entwicklung von Leitlinien und Standards für die Behandlung neurologischer Erkrankungen?

A. Sander: Auch dies ist bereits eine etablierte Priorität der EAN. Wir haben in den letzten Jahren über 200 Leitlinien veröffentlicht, die den Standard bei der Diagnostik und Behandlung von neurologischen Erkrankungen darstellen und öffentlich zugänglich sind. Im Zuge der BHM arbeiten wir nun auch daran, diese Leitlinien in Laiensprache zu übersetzen um sie auch für Betroffene, Angehörige und andere Interessierte verständlich und nutzbar zu machen.

Wie sieht es mit dem Wissen um Gehirngesundheit in den verschiedenen europäischen Ländern aus?

T. Berger: Leider muss ich sagen: Es ist überall gleich schlecht. Es gibt Länder, die auf bestimmte Erkrankungen fokussieren, aber einen Gesundheitsplan zu neurologischen Erkrankungen und Gehirngesundheit gibt es eigentlich nirgends. Der oben erwähnte „Intersektorale Global Action Plan“ für Epilepsie und andere neurologische Erkrankungen wird hoffentlich ein Antreiber sein, um das zu ändern. Trotzdem muss die Gesamtheit der europäischen Neurolog:innen mitarbeiten und Einfluss nehmen auf das Wissen und die Aufklärung zu neurologischen Erkrankungen und zur Gehirngesundheit. Wer sonst soll unsere Regierungen in dieser Sache beraten?

Welche konkreten Ziele hat das Projekt in Bezug auf die Aufklärung der Öffentlichkeit über neurologische Erkrankungen und deren Auswirkungen?

A. Sander: Die BHM fokussiert auf den Erhalt bzw. die Steigerung der Gehirngesundheit. Ziel ist es, den Menschen klarzumachen, wie wichtig ihr Gehirn ist und wie sie dazu beitragen können, ihr Gehirn zu schützen und zu trainieren. Die Mission zielt nicht auf den Aspekt der Erkrankungen ab, sondern darauf, wie wir dazu beitragen können, dass wir erst gar nicht oder eben erst viel später erkranken.

Wie wird das BHM-Projekt dazu beitragen, die Lebensqualität von Patient:innen und Angehörigen zu verbessern?

T. Berger: Die BHM soll in erster Linie eine Aufklärungs- und Informationskampagne sein. Sehr oft leiden Menschen unter Informationsmangel, der dazu beiträgt, dass sie nicht alles, was ihnen guttäte und was notwendig wäre, unternehmen können. Leidet eine Person an einer (neurologischen) Erkrankung, ist meist auch das gesamte Umfeld mitbetroffen. Wir möchten aufklären, unterstützen, helfen, erleichtern, aber auch das Gefühl vermitteln, dass niemand alleine ist mit der Bürde, die zu tragen ist. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die Entstigmatisierung neurologischer Erkrankungen. Und dann zeigen wir auf, wie neben geeigneten medikamentösen und rehabilitativen Therapien auch andere Maßnahmen – wie Information, Aufklärung, Beratung durch Selbsthilfegruppen, körperliche Betätigung, soziale Interaktion und vieles mehr – die Lebensqualität von Betroffenen und deren Angehörigen verbessern können.

A. Sander: Wir haben uns viel vorgenommen, aber die BHM ist eine unerlässliche Initiative, die vielen Menschen viel Gutes tun wird und eine klare Investition in eine gesündere Zukunft der Gesellschaft ist.

Vielen Dank für das Gespräch!
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