
Was ist neu in den Leitlinien 2023 der Europäischen Gesellschaft für Hypertonie?
Autor:
Dr. med. Michel Burnier
Professeur Honoraire
Faculté de Biologie et Médecine
Université de Lausanne
E-Mail: michel.burnier@netplus.ch
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An ihrem Jahreskongress im Juni 2023 in Mailand hat die Europäische Gesellschaft für Hypertonie (ESH) ihre neuen Leitlinien für die Behandlung der arteriellen Hypertonie bei Erwachsenen vorgestellt. Diese umfassenden Empfehlungen basieren auf den neuesten klinischen Erkenntnissen und bieten zahlreiche Neuerungen und Bestätigungen, die sowohl die Blutdruckmessung als auch neue diagnostische und therapeutische Verfahren betreffen. Ziel dieser kurzen Übersicht ist es, die wichtigsten Punkte darzustellen, die unseren Ansatz zur Behandlung von arterieller Hypertonie in den nächsten Jahren bestimmen werden.
Keypoints
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Der in der Arztpraxis gemessene BD bleibt nach wie vor di e Referenz, aber die BD-Messung ausserhalb der Arztpraxis wird dringend empfohlen. Der BD muss mit validierten automatischen Geräten gemessen werden, die den BD am Arm mit einer Manschette mehrmals messen. Messgeräte ohne Manschette werden noch nicht empfohlen.
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Bei Patienten im Alter von 18 bis 79 Jahren sollte die Hypertonie ab einem BD von 140/90mmHg durch eine gesunde Lebensweise und/oder durch Medikamente behandelt werden.
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Das Ziel der Behandlung ist eine BD-Senkung auf <140/80mmHg. Wird die Senkung gut vertragen, kann der Zielwert bei Patienten <80Jahren weiter auf <130/80mmHg gesenkt werden. Bei >80-Jährigen beträgt der systolische Zielwert 140–150mmHg. Der systolische BD darf nicht <120mmHg sein.
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Die medikamentöse Behandlung basiert in erster Linie auf Fixkombinationen, die einen Inhibitor des Renin-Angiotensin-Systems, einen Kalziumantagonisten und/oder ein Diuretikum enthalten. Betablocker bekommen wieder einen Platz als Mittel der ersten Wahl. Neue Wirkstoffe (SGLT2-Hemmer, Finerenon) sind in bestimmten Situationen (Diabetes, Herz- oder Niereninsuffizienz) angezeigt.
Hypertonie ist der weltweit am weitesten verbreitete Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und Nierenerkrankungen: Fast 1,2 Milliarden Erwachsene im Alter von 30 bis 79 Jahren haben einen zu hohen Blutdruck. Den jüngsten europäischen Zahlen zufolge haben 34% der Männer und 32% der Frauen Bluthochdruck. Aus epidemiologischer Sicht sind die Hauptprobleme im Zusammenhang mit Hypertonie: 1) eine sehr hohe Zahl von Betroffenen, deren Hypertonie nicht diagnostiziert wird, 2) ein hoher Prozentsatz von Patienten, deren Hypertonie bekannt ist, die aber nicht behandelt werden, und 3) ein hoher Prozentsatz von Patienten, die zwar behandelt werden, aber unzureichend eingestellt sind, d.h. trotz Behandlung einen Blutdruck >140/90mmHg haben. In diesem Zusammenhang ist die regelmässige Veröffentlichung von Empfehlungen sinnvoll, da sie einerseits die Grundprinzipien der Therapie in Erinnerung rufen und andererseits Neuerungen vorstellen.1
Blutdruckmessung
Um die Diagnose Hypertonie zu bestätigen, ist die richtige Messung des Blutdrucks von entscheidender Bedeutung. In den neuen Empfehlungen ist die Blutdruckmessung in der Arztpraxis bei mehreren Besuchsterminen nach wie vor die Grundlage für die Diagnose von Hypertonie. Es ist jedoch entscheidend, dass die Standardbedingungen, unter denen der Blutdruck in der Arztpraxis gemessen werden sollte (s. Abb.1), eingehalten werden. Die wichtigsten Voraussetzungen sind, dass nur validierte Geräte verwendet werden, die äusseren Bedingungen eingehalten und mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Messungen durchgeführt werden.
Abb. 1: Voraussetzungen für eine gute Blutdruckmessung in der Arztpraxis oder zu Hause (adaptiert nach Mancia et al., 2023)1
Die Leitlinien 2023 betonen jedoch erneut die Blutdruckmessung ausserhalb der Arztpraxis mit einer Präferenz für die Messung des Blutdrucks zu Hause nach einem genau definierten Protokoll. So wird den Patienten empfohlen, in den sieben Tagen vor dem Arztbesuch zweimal täglich, morgens und abends, den Blutdruck zu messen. Die Verwendung von ambulanten 24-Stunden-Blutdruckmessungen ist weiterhin angezeigt, um die Diagnose Bluthochdruck zu bestätigen oder die Qualität der Blutdruckeinstellung zu beurteilen, z.B. bei offenbar therapieresistenter Hypertonie. In diesem Fall wird dringend empfohlen, den nächtlichen Blutdruck und die Qualität seiner Einstellung sorgfältig zu beurteilen. Dabei ist es wichtig, genügend Messwerte während der Nacht zu erfassen, und Experten empfehlen, tagsüber sowie nachts alle 20Minuten eine Blutdruckmessung vorzunehmen.
Heutzutage werden neue Geräte zur Blutdruckmessung entwickelt, die ohne aufblasbare Manschette auskommen («cuffless») und den Blutdruck am Handgelenk messen. Diese Geräte könnten sich in Zukunft als sehr nützlich erweisen, da sie bequemer sind. Ihr derzeitiger Validierungsgrad reicht jedoch noch nicht aus, um sie für den Einsatz in der täglichen Praxis zu empfehlen.
Bewertung des kardiovaskulären Risikos bei Patienten mit Hypertonie
Die Bewertung des kardiovaskulären Risikos bei Patienten mit Hypertonie ist wichtig, da sie die Behandlungsstrategie und deren Intensität bestimmt. Die Methoden zur Beurteilung von Schädigungen der Zielorgane bei Hypertonie haben sich nicht wesentlich verändert, was das Herz (Untersuchung auf linksventrikuläre Hypertrophie mittels EKG oder Echokardiografie), die Gefässe (Untersuchung auf Plaques in den Karotiden) und die Nieren (Bestimmung der glomerulären Filtrationsrate und der Albuminurie mittels Albumin/Kreatinin-Quotient im Urin) betrifft. Neu sind jedoch die Messung des intrarenalen Widerstandes mittels Doppler-Ultraschall, die Charakterisierung der okulären Mikrozirkulation zur Bestimmung der Schädigung der kleinen Gefässe oder die Messung der arteriellen Steifigkeit und der Ausbreitungsgeschwindigkeit der Pulswelle.
Wer soll behandelt werden und mit welchen Zielwerten?
Grundsätzlich sollten alle Personen mit einem Blutdruck >140/90mmHg behandelt werden, entweder allein durch Massnahmen zur Veränderung des Lebensstils oder in Kombination mit blutdrucksenkenden Medikamenten. Bei der überwiegenden Zahl der Patienten sollte der Blutdruck auf <140/80mmHg gesenkt werden, und wenn die Blutdrucksenkung gut vertragen wird, sollte der Blutdruck weiter auf <130/80mmHg, aber nicht unter 120/70mmHg gesenkt werden. Bei älteren Menschen liegt der Zielwert bei <150mmHg systolisch und wenn möglich zwischen 130 und 139mmHg systolisch, je nachdem, wie gebrechlich die Patienten sind und wie gut die Behandlung vertragen wird. Ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit fortgeschrittenem Alter: Es wird empfohlen, eine gut verträgliche blutdrucksenkende Behandlung nicht zu beenden, wenn der systolische Blutdruck unter 130mmHg, aber über 120mmHg liegt.
Die ESH übernimmt also nicht die amerikanischen Leitlinien, die niedrigere Zielwerte anstreben (<120/80mmHg für alle) und sich hauptsächlich auf die SPRINT-Studie stützen, in der die Blutdruckmessung unter besonderen Bedingungen erfolgte, die nicht der europäischen Praxis entsprechen.2
Welche medikamentöse Therapie wird empfohlen?
Die zur Therapie von Hypertonie empfohlenen Medikamente sind in Abbildung 2 dargestellt. Die Therapie basiert weiterhin auf drei grossen Arzneimittelklassen, und zwar Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Systems, Kalziumantagonisten und Diuretika (Thiazide und thiazidartige Diuretika). Ganz neu ist die Wiederkehr der Betablocker in die erste Therapielinie bei verschiedenen Indikationen, nicht nur bei Herzkrankheiten. Tatsächlich gibt es heutzutage viele mit Hypertonie verbundene Begleiterkrankungen, bei denen Betablocker nützlich und wirksam sind.3 Im Therapieschema finden sich auch einige neue Arzneimittelklassen wie beispielsweise die neuen nichtsteroidalen Aldosteronrezeptorantagonisten und die SGLT2-Hemmer, die eine moderate antihypertensive Wirkung haben, aber die kardiale und renale Mortalität und Morbidität deutlich senken. Diese neuen Arzneimittel finden ihren Platz bei Patienten mit Diabetes, Niereninsuffizienz und Herzinsuffizienz.
Abb. 2: Empfohlene Arzneimittel für die medikamentöse Behandlung der Hypertonie bei Erwachsenen (adaptiert nach Mancia et al., 2023)1
Ein sehr wichtiger Aspekt der medikamentösen Therapiestrategie ist die Empfehlung, die Behandlung sofort mit einer Kombination von zwei Antihypertonika in einer Tablette zu beginnen, um die Zielwerte schneller zu erreichen und die Adhärenz und Persistenz der Behandlung zu erhöhen. Der Beginn mit einer Monotherapie wird weiterhin bei gebrechlichen und älteren Menschen oder bei jungen Menschen mit niedrigem kardiovaskulärem Risiko empfohlen.
Abb. 3: Ein sehr wichtiger Aspekt der medikamentösen Therapiestrategie ist die Empfehlung, die Behandlung sofort mit einer Kombination von zwei Antihypertonika in einer Tablette zu beginnen
Weitere neue Empfehlungen
Neben diesen wichtigsten Empfehlungen finden sich in der neuen Version der Leitlinien von 2023 mehrere Themenbereiche, die in den vorhergegangenen Versionen nicht behandelt wurden. Dies gilt z.B. für die Behandlung von Hypertonie bei Krebspatienten, die Arzneimittel erhalten, welche den Blutdruck erhöhen, die Therapie von Hypertonie im Zusammenhang mit Pandemien wie Covid-19 sowie Hypertonie bei geschlechtsspezifischen Gesundheitsproblemen oder immunologischen Erkrankungen. Schliesslich werden Diagnose und Behandlung der sekundären Hypertonie ausführlich und mit anschaulichen Schemata besprochen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die neuen ESH-Leitlinien 2023 für die Therapie der Hypertonie bei Erwachsenen äusserst umfassend und detailliert sind. Das aktuelle Dokument ist sehr umfangreich und sicherlich zu lang, um von Nichtexperten vollständig gelesen zu werden. Deshalb wird zurzeit eine praxisorientiertere Fassung erstellt, die sich direkt an Praktiker richtet und Anfang 2024 verfügbar sein soll.
Literatur:
1 Mancia G et al.: 2023 ESH Guidelines for the management of arterial hypertension – The Task Force for the management of arterial hypertension of the European Society of Hypertension Endorsed by the International Society of Hypertension (ISH) and the European Renal Association (ERA). J Hypertens 2023; 41: 1874-2071 2 Whelton PK et al.: 2017 ACC/AHA/AAPA/ABC/ACPM/AGS/APhA/ASH/ASPC/NMA/PCNA Guideline for the prevention, detection, evaluation, and management of high blood pressure in adults: executive summary: A report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Clinical Practice Guidelines. Circulation 2018; 138: 426-83 3 Mancia G et al.: Individualized beta-blocker treatment for high blood pressure dictated by medical comorbidities: indications beyond the 2018 European Society of Cardiology/European Society of Hypertension Guidelines. Hypertension 2022; 79: 1153-66