
Therapie des akuten Koronarsyndroms – aktuelle Kontroversen
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Christoph Brenner, FESC
Stv. Klinikdirektor
Univ.-Klinik für Innere Medizin III – Kardiologie und Angiologie
Medizinische Universität Innsbruck
E-Mail: christoph.brenner@i-med.ac.at
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Die Therapie des akuten Koronarsyndroms folgt entsprechend zahlreichen randomisierten klinischen Studien in vielen Bereichen hochstandardisierten Abläufen, die in den aktuellen Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie zusammengefasst sind.1, 2 Dennoch zeigen sich im klinischen Alltag heute noch einige Missverständnisse und Kontroversen. Einige ausgewählte Punkte sollen im Folgenden diskutiert werden.
Keypoints
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Für die Behandlung des akuten Koronarsyndroms stehen heute exzellente interventionelle, chirurgische und konventionelle Therapiemöglichkeiten zur Verfügung.
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ACS-Patient*innen, die sich mit NSTEMI präsentieren, haben durchschnittlich die fortgeschrittenste Form einer koronaren Herzerkrankung.
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Wie beim STEMI kann auch beim NSTE-ACS mit hochkomplexer KHK die akute interventionelle Versorgung der „culprit lesion“ sinnvoll sein.
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ACS-Patient*innen mit intermittierenden ST-Strecken-Hebungen sollten frühzeitig einer interventionellen Koronardiagnostik und -therapie zugeführt werden.
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Bei der dualen antithrombozytären Therapie beim älteren Patienten (ab 75 Jahren) sollte bei vorwiegend vaskulärem Risiko Prasugrel, bei vorwiegendem Blutungsrisiko Clopidogrel der Vorzug gegeben werden.
Schwere der koronaren Herzerkrankung
Landläufig wird der akute ST-Strecken-Hebungs-Myokardinfarkt (STEMI) als die grundsätzlich schwerste klinische Manifestation der koronaren Herzerkrankung (KHK) wahrgenommen – und für die Akutsituation und den Akutschaden am Herzmuskelgewebe trifft das natürlich auch zu. Dennoch sind es die Patienten mit Nicht-ST-Hebungs-Myokardinfarkt (NSTEMI), die im Durchschnitt aufgrund bestehender Komorbiditäten und eines höheren Lebensalters unter einer deutlich fortgeschritteneren Form der koronaren Herzerkrankung leiden. Die Revaskularisation eines NSTEMI-Patienten, sei es interventionell oder chirurgisch, gestaltet sich deshalb durchschnittlich komplexer als die Wiederherstellung der Koronarperfusion beim STEMI (Abb. 1).
Abb. 1: Die Ausprägung der KHK ist der wichtigste Faktor bei der Entscheidung für ein therapeutisches Verfahren zur koronaren Revaskularisation
Therapie des akuten Koronarsyndroms
Die Ausprägung der KHK ist der wichtigste Faktor bei der Festlegung auf ein therapeutisches Verfahren zur koronaren Revaskularisation. Aufgrund der hohen zeitlichen Dringlichkeit und der heute auch langfristig exzellenten klinischen Ergebnisse nach Stentimplantation ist beim STEMI die perkutane Revaskularisation heute das Mittel der Wahl und einer operativen Myokardrevaskularistion (Bypass-Operation) ebenso wie einer medikamentösen Thrombolyse im Regelfall immer vorzuziehen (Tab. 1).2,3
Anders lauten hier die Empfehlungen bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS) ohne ST-Strecken-Hebungen (instabile Angina pectoris und NSTEMI). Obwohl bis heute keine dezidierten Vergleichsstudien in diesem Patientenkollektiv existieren, wird in den aktuell gültigen NSTEMI-Leitlinien aus dem Jahr 20201 empfohlen, aufgrund der geringeren Akuität und im Regelfall schwereren Ausprägung der KHK im Vergleich zum STEMI die Wahl des Revaskularisationsverfahrens (Bypass-Operation vs. PTCA/Stenting) anhand der objektivierbaren Komplexität der KHK (SYNTAX-Score)4 festzulegen (Tab. 1). Die Empfehlung der Revaskularisation beim ACS ohne ST-Strecken-Hebung entspricht damit denen beim chronischen Koronarsyndrom, lässt dabei jedoch außer Acht, dass es sich bei NSTEMI um Akutfälle handelt, in denen sich analog zu STEMI-Patienten meist auch eine rupturierte Koronarplaque als Zielläsion („culprit lesion“) identifizieren und behandeln lässt. Auch wenn beim typischen NSTEMI häufig kein kompletter Gefäßverschluss nachweisbar ist, können instabile Plaques dabei im weiteren Verlauf noch sekundär in einen kompletten Gefäßverschluss münden. Patienten mit komplexer KHK tragen so das Risiko, während der Wartezeit auf eine geplante Bypass-Operation noch einen transmuralen Myokardinfarkt zu erleiden (Tab. 1).
Ein sinnvolleres Vorgehen könnte hier deshalb sein, auch bei hochkomplexer KHK beim ACS die „culprit lesion“ interventionell mittels Stentimplantation zu versorgen und anschließend im dann stabilisierten Setting je nach Komplexität der verbliebenen Koronarstenosen und der bestehenden Komorbiditäten die bestmögliche weitere Revaskularisationsstrategie zu planen.
Zeitplanung der Koronardiagnostik
Wissenschaftlich außerdem nicht ganz zweifelsfrei geklärt ist der optimale Zeitpunkt für eine Herzkatheteruntersuchung beim akuten Koronarsyndrom (ohne Nachweis von ST-Strecken-Hebungen). Während hämodynamische Instabilität, lebensbedrohliche Arrhythmien, therapierefraktäre Beschwerden oder ein progredientes Pumpversagen laut Leitlinien für ein rasches invasives Vorgehen (<2 Stunden) analog dem STEMI-Behandlungspfad (unmittelbare Vorstellung zur Herzkatheteruntersuchung) qualifizieren, ist diese Empfehlung klinisch zwar unstrittig, basiert jedoch bisher nur auf einer konsensuellen Expertenmeinung.
Anders ist die Datenlage bei Patienten mit transienten ST-Strecken-Hebungen. Hier empfehlen die NSTEMI-Leitlinien eine frühe (<24 Stunden), jedoch nicht unmittelbare Vorstellung zur invasiven Koronardiagnostik. Diese Empfehlungen basieren auf zwei kleineren randomisierten Studien, die hinsichtlich der MACE-Rate insgesamt kein nachteiliges Signal bedingt durch die verzögerte Vorstellung entdecken konnten.5,6 In der Detailanalyse zeigte sich jedoch, dass sich während der Wartezeit auf die Herzkatheteruntersuchung in knapp 6% der Fälle eine erneute, dann akut interventionspflichtige kardiale Ischämie entwickelte. Bei Verfügbarkeit eines freien Herzkatheterplatzes sollte deshalb auch in Fällen mit nur transienter ST-Strecken-Hebung eine frühestmögliche Vorstellung im Interventionszentrum erfolgen.
Optimale Thrombozytenhemmung im Alter ab 75 Jahren
Die randomisierten Studien PLATO und TRITON-TIMI-38 konnten klar nachweisen, dass die aggressiveren Thrombozytenaggregationshemmer Ticagrelor und Prasugrel in Kombination mit ASS einer dualen antithrombozytären Therapie mit Clopidogrel hinsichtlich der Wirksamkeit klar überlegen sind – und das bei nur moderat erhöhtem Blutungsrisiko.7,8Beim akuten Koronarsyndrom konnte deshalb über lange Zeit nahezu willkürlich mit einer der beiden Substanzen behandelt werden. Klarheit konnte erst die ISAR-REACT-5-Studie liefern,9 die einen unabhängigen randomisierten Vergleich beider P2Y12-Inhibitoren liefern und Prasugrel aufgrund des überragenden Nutzen-Risiko-Verhältnisses so in der Kombination mit ASS als heutigen Goldstandard etablieren konnte. Auch in der Subgruppenanalyse von Patienten ab 75 Jahren konnte dieses Ergebnis zugunsten von Prasugrel zumindest im Trend aufrechterhalten werden (Tab. 1, Abb. 2).
Unklar bleibt jedoch, ob sich der Gesamtvorteil einer Prasugrel-Therapie auch gegenüber einer Clopidogrel-Einnahme im blutungsgefährdeten älteren Patientenkollektiv noch nachweisen lässt. Direkte randomisierte Daten stehen hier leider nur sehr begrenzt zur Verfügung. Das kleine Kollektiv der älteren Patienten der TRITON-TIMI-38-Studie wurde damals mit der heute nicht mehr empfohlenen Tagesdosis von 10mg Prasugrel behandelt und ist aktuell deshalb hinsichtlich einer Nutzen-Risiko-Abwägung nicht mehr zu verwenden (Abb. 2). Im GENERATIONS Trial konnte gezeigt werden, dass bei älteren Patienten eine Prasugrel-Dosis von 5mg zu einer vergleichbaren Thrombozytenaggregationshemmung führt wie die 10-mg-Dosis bei jüngeren Patienten,10 sodass heute im Patientenkollektiv ab 75 Jahren diese reduzierte Dosis empfohlen wird. Sowohl in TRILOGY ACS,11 einer Studie zur konservativen Therapie des akuten Koronarsyndroms, als auch in der Elderly-ACS-2-Studie zeigte sich jedoch kein signifikanter Unterschied zwischen der Behandlung mit 5mg Prasugrel oder 75mg Clopidogrel tgl. hinsichtlich des kombinierten ischämischen Endpunktes oder der schwereren Blutungsereignisse.12 Elderly ACS 2 wurde zwar vorzeitig abgebrochen, im Trend zeigte sich hier jedoch unter Prasugrel eine niedrigere Stentthromboserate (HR: 0,36; CI: 0,13–1,00; p=0,06) auf Kosten eines erhöhten Blutungsrisikos (BARC2+ Blutungen, HR: 1,52; CI: 0,85–3,16; p=0,18).
Angesichts der limitierten Studienlage könnte damit bei älteren Patienten mit vordergründigem Blutungsrisiko im Rahmen einer dualen Thrombozytenaggregationshemmung (DAPT) der Wirkstoff Clopidogrel den Vorzug erhalten, während Patienten mit führendem vaskulärem Risiko in Summe eher von einer Therapie mit dem heute auch generisch verfügbaren Prasugrel zu profitieren scheinen (Tab. 1).
Nicht zu vergessen in dieser Diskussion wäre dabei schließlich noch der Wirkstoff Ticagrelor, der zwar in PLATO und ISAR REACT 5 mit diskrepanten Daten zum Blutungsrisiko aufwartet (Abb. 2). Mit Einführung des mit Spannung erwarteten Ticagrelor-spezifischen Antidots Bentracimab könnte dieser reversible P2Y12-Inhibitor jedoch neben der konservativen Therapie des akuten Koronarsyndroms auch in der postinterventionellen Therapie wieder deutlich an Bedeutung gewinnen.
Literatur:
1 Collet JP et al.: 2020 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation. Eur Heart J 2021; 42(14): 1289-367 2 Ibanez B et al.: 2017 ESC Guidelines for the management of acute myocardial infarction in patients presenting with ST-segment elevation: The Task Force for the management of acute myocardial infarction in patients presenting with ST-segment elevation of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J 2018; 39(2): 119-77 3 Zijlstra F et al.: Long-term benefit of primary angioplasty as compared with thrombolytic therapy for acute myocardial infarction. N Engl J Med 1999; 341(19): 1413-9 4 Serruys PW et al.: Percutaneous coronary intervention versus coronary-artery bypass grafting for severe coronary artery disease. N Engl J Med 2009; 360(10): 961-72 5 Janssens GN et al.: 1-year outcomes of delayed versus immediate intervention in patients with transient ST-segment elevation myocardial infarction. JACC Cardiovasc Interv 2019: 12(22): 2272-82 6 Lemkes JS et al.: Timing of revascularization in patients with transient ST-segment elevation myocardial infarction: a randomized clinical trial. Eur Heart J 2019: 40(3): 283-91 7 Wallentin L et al.: Ticagrelor versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. N Engl J Med 2009; 361(11): 1045-57 8 Wiviott SD et al.: Prasugrel versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. N Engl J Med 2007; 357(20): 2001-15 9 Schupke S et al.: Ticagrelor or prasugrel in patients with acute coronary syndromes. N Engl J Med 2019; 381(16): 1524-34 10 Erlinge D et al.: Prasugrel 5 mg in the very elderly attenuates platelet inhibition but maintains noninferiority to prasugrel 10 mg in nonelderly patients: the GENERATIONS trial, a pharmacodynamic and pharmacokinetic study in stable coronary artery disease patients. J Am Coll Cardiol 2013; 62(7): 577-83 11 Roe MT et al.: Elderly patients with acute coronary syndromes managed without revascularization: insights into the safety of long-term dual antiplatelet therapy with reduced-dose prasugrel versus standard-dose clopidogrel. Circulation 2013; 128(8): 823-33 12 Savonitto S et al.: Comparison of reduced-dose prasugrel and standard-dose clopidogrel in elderly patients with acute coronary syndromes undergoing early percutaneous revascularization. Circulation 2018; 137(23): 2435-45
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