
Risikoscores vs. ärztliche Einschätzung zur Beurteilung von Patienten mit möglichem akutem Koronarsyndrom
Autoren:
pract. med. Mario Meier1
Dr. med. Jasper Boeddinghaus1,2,3
Prof. Dr. med. Christian Müller1,2
1 Cardiovascular Research Institute Basel (CRIB)
Universitätsspital Basel
2 Universitäres Herzzentrum, Kardiologie
Universitätsspital Basel
3 BHF/University Centre for Cardiovascular Science
University of Edinburgh
E-Mail: meier.mario@protonmail.com
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Sind klinische Risikoscores zur Einschätzung des Risikos für ein akutes Koronarsyndrom (ACS) in Zeiten von Assays für das hochsensitive kardiale Troponin (hs-cTn) noch zeitgemäss? Wir haben gängige Risikoscores mit der klinischen Einschätzung eines Arztes zur Beurteilung des ACS-Risikos verglichen.
Keypoints
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HEART-Score, GRACE-Score und TMACS eignen sich gut für eine Risikostratifizierung von Patienten mit Thoraxschmerzen, welche sich auf der Notfallstation vorstellen.
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Die klinische Einschätzung durch den Arzt (ICJ) zeigt vergleichbare Resultate wie die drei besten Risikoscores.
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Zukünftige Studien sind nötig, um prospektiv die ICJ mit den Risikoscores zu vergleichen.
Der Thoraxschmerz gehört zu den häufigsten Ursachen für eine Vorstellung auf der Notfallstation mit rund 15 Millionen Notfallvisiten in Europa und Nordamerika pro Jahr.1,2 Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS), insbesondere jene mit akutem Myokardinfarkt (AMI), müssen schnellstmöglich diagnostiziert werden, um eine rasche Therapie zu ermöglichen. Dabei ist eine korrekte Risikostratifizierung von zentraler Bedeutung.3,4 In Zeiten der klinischen Verwendung von kardialen Troponin-Assays (cTn) mit niedriger Sensitivität wurde eine Vielzahl an klinischen Risikoscores entwickelt, um die Risikoeinschätzung zu verbessern. Hierbei geht es nicht nur um die Erkennung von Patienten mit einem hohen Risiko, sondern vor allem auch um die rasche Erkennung von Patienten mit einem niedrigen ACS-Risiko, von denen die Mehrzahl von der Notfallstation entlassen und ambulant behandelt werden kann.5–9 Ob Risikoscores jedoch nach der Entwicklung und klinischen Einführung von hochsensitivem kardialem Troponin (hs-cTn) für das Patientenmanagement weiterhin einen Mehrwert bringen, ist ungewiss.10,11 Die vorliegende Arbeit vergleicht die klinische Bedeutung von fünf gängigen Riskoscores mit der klinischen Einschätzung des behandelnden Arztes in der Notfallstation.
Risikoscores
Häufig verwendete und etablierte Risikoscores sind der «History, ECG, Age, Risk factors, Troponin»(HEART)-Score, der «Troponin only Manchester Acute Coronary Syndrome Decision Aid» (T-MACS), der «Emergency Department Assessment of Chest Pain Score» (EDACS), der «Global Registry of Acute Coronary Events Risk predictor» (GRACE) sowie der «Thrombolysis in Myocardial Infarction»(TIMI)-Risikoscore. Die Scores unterscheiden sich stark bezüglich der erfassten Parameter und wurden in unterschiedlichen Populationen entwickelt. HEART, T-MACS und EDACS wurden spezifisch für Patienten entwickelt, welche sich mit akutem Thoraxschmerz vorstellen. GRACE und TIMI wurden hingegen in Kohorten von Patienten mit bestätigtem ACS deriviert.5–9 Die Komponenten der verschiedenen Risikoscores sowie die Risikoeinteilung sind in Abbildung 1 zusammengefasst.
Abb. 1: Übersicht über die Scores zur Beurteilung des Risikos für das Vorliegen eines akuten Koronarsyndroms inkl. Low-Risk-Kriterien
Die klinische Einschätzung des Arztes in der Notfallstation
Den Risikoscores gegenüber steht die klinische Einschätzung des Arztes («integrated clinical judgment», ICJ). Die ICJ beinhaltet die Anamnese, die klinische Untersuchung, das 12-Kanal-EKG sowie die Laborparameter inklusive des ersten kardialen Troponin-Werts. Wir haben beide – Risikoscores und ICJ – miteinander verglichen. Die ärztliche Einschätzung wurde jeweils vor dem Erhalt der Resultate der zweiten Troponin-Messung oder einer weiterführenden Diagnostik, wie beispielsweise einer Echokardiografie oder einer Koronarangiografie, eingeholt.
Die Ärzte schätzten innerhalb von 90 Minuten nach Vorstellung der Patienten auf der Notfallstation die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines ACS mithilfe einer visuellen analogen Skala mit Wahrscheinlichkeitswerten zwischen 0 und 100% ein. Je nach Angabe wurden die Patienten in Risikoklassen eingeteilt: niedriges Risiko (≤10%), intermediäres Risiko (11−79%) und hohes Risiko (≥80%).
Methodik
In einer sekundären Analyse einer prospektiven Multicenterstudie (12 Zentren in fünf europäischen Ländern) wurden die Risikoscores mit dem ICJ verglichen. Eingeschlossen wurden erwachsene Patienten, welche sich mit akuten Thoraxschmerzen auf der Notfallstation vorstellten. Ausgeschlossen wurden Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz an der Dialyse, Patienten, bei denen keine klare Diagnose gestellt werden konnte, sowie Patienten, bei denen nicht alle Komponenten für die Berechnung der Risikoscores erfasst wurden.
Alle Patienten wurden 3, 12, und 24 Monate nach Entlassung durch das Studienteam kontaktiert. Informationen über das Versterben der Patienten wurden aus Spitaldaten, Daten der Hausärzte oder dem nationalen Todesfallregister gewonnen. Zwei unabhängige Kardiologen nahmen die Beurteilung von Major Cardiac Events (MACE) vor und stellten die finale Diagnose. MACE beinhaltet Tod aller Ursachen, Herzstillstand, ventrikuläre Tachyarrhythmien, höhergradige atrioventrikuläre Blockbilder, kardiogenen Schock und AMI einschliesslich des Indexereignisses sowie instabile Angina, welche eine dringende koronare Revaskularisierung innerhalb von 24 Stunden erforderte. Die Diagnose AMI wurde gemäss der universellen Definition des AMI und den aktuellen Leitlinien gestellt.12
Statistik
Die prognostische und diagnostische Genauigkeit der Risikoscores sowie der klinischen Einschätzung wurden anhand der sogenannten Fläche unter der Kurve (AUC) berechnet. Zudem wurde die Sicherheit für den Ausschluss eines MACE innerhalb von 30 Tagen anhand des negativ prädikativen Werts (NPV) und anhand der Sensitivität verglichen.
Resultate
In der Hauptanalyse wurden die Risikoscores HEART, GRACE und TIMI mit der klinischen Einschätzung verglichen. In einer sekundären Analyse konnten alle fünf Scores berechnet werden. 4551 Patienten wurden für die Hauptanalyse verwendet. Von diesen hatten 1110 (24,4%) mindestens ein MACE innerhalb von 30 Tagen. Anhand der AUC-Werte konnten wir eine hohe prognostische Genauigkeit für 30-Tage-MACE beim HEART- sowie dem GRACE-Score, aber auch für ICJ aufzeigen. Im Vergleich dazu schnitt der TIMI-Score schlechter ab.
In einer sekundären Analyse konnten in einer Kohorte von 2849 Patienten HEART-, GRACE-, TIMI-Score, T-MACS, EDACS und ICJ verglichen werden. Hier zeigten sich im Vergleich zur Hauptanalyse beim HEART-Score und GRACE-Score vergleichbare Resulate. Zusätzlich hatte der T-MACS ebenfalls eine gute prognostische Genauigkeit. Der EDACS hingegen zeigte signifikant schlechtere Resultate.
Der NPV zur Identifikation von Niedrigrisikopatienten und somit zur Indikation eines möglichen ambulanten Managements war hoch bei der Verwendung des HEART- und des GRACE-Scores sowie des T-MACS. Schlechtere Resultate zeigten der TIMI-Score sowie der EDACS.
Diskussion
Die vorliegende Arbeit dient dem Vergleich von etablierten Risikoscores mit der klinischen ärztlichen Einschätzung des Risikos für das Vorliegen eines akuten Koronarsyndroms. Die Erkenntnisse zeigen, dass die prognostische Genauigkeit des ICJ für 30-Tage-MACE den etablierten Risikoscores nicht unterlegen ist und somit eine Alternative für den klinischen Alltag darstellt. Die Anwendung des ICJ sollte allerdings nur auf einer Notfallstation erfolgen, da die Verwendung eines hs-cTn-Assays Voraussetzung ist, um die Genauigkeit sowie die Sicherheit des ICJ zu gewährleisten. Zukünftige Studien müssen zeigen, ob die klinische Einschätzung im ambulanten Bereich, z.B. unter Verwendung von Point-of-Care-Troponin-Assays, zu ähnlichen Resultaten führt.
Zusammenfassung
Der HEART- und der GRACE-Score, der T-MACS und die unstrukturierte ICJ des behandelnden Arztes zeigten sehr gute Resultate für die Risikostratifizierung von Patienten mit möglichem ACS. Jedoch muss diskutiert werden, ob sich der Aufwand zum Errechnen der Scores wirklich lohnt, wenn die unstrukturierte Einschätzung des Arztes vergleichbare Ergebnisse erzielt.
Literatur:
1 Bingisser R et al.: Systematically assessed symptoms as outcome predictors in emergency patients. Eur J Intern Med 2017; 45: 8-12 2. Pitts SR et al.: National Hospital Ambulatory Medical Care Survey: 2006 emergency department summary. Natl Health Stat Report 2008; (7): 1-38 3 Keller T et al.: Sensitive troponin I assay in early diagnosis of acute myocardial infarction. N Engl J Med 2009; 361: 868-77 4 Irfan A et al.: Early diagnosis of myocardial infarction using absolute and relative changes in cardiac troponin concentrations. Am J Med 2013; 126: 781-8 5 Backus BE et al.: Chest pain in the emergency room: A multicenter validation of the heart score. Crit Pathw Cardiol 2010; 9: 164-9 6 Anderson F, Fitzgerald G: Methods and formulas used to calculate the GRACE Risk Scores for patients presenting to hospital with an acute coronary syndrome. 2010, update 2014. https://www.outcomes-umassmed.org/grace/files/GRACE_RiskModel_Coefficients.pdf ; letzter Aufruf 18.4.2020 7 Body R et al.: Troponin-only Manchester Acute Coronary Syndromes (T-MACS) decision aid: single biomarker re-derivation and external validation in three cohorts. Emerg Med J 2017; 34: 349-56 8 Than M et al.: Development and validation of the Emergency Department Assessment of Chest pain Score and 2h accelerated diagnostic protocol. Emerg Med Australas 2014; 26: 34-44 9 Antman EM et al.: The TIMI Risk Score for unstable angina/non–ST elevation MI. JAMA 2000; 284: 835 10 Morawiec B et al.: Modified HEART score and high-sensitivity cardiac troponin in patients with suspected acute myocardial infarction. J Am Coll Cardiol 2019; 73: 873-5 11 Chapman AR et al.: High-sensitivity cardiac troponin I and clinical risk scores in patients with suspected acute coronary syndrome. Circulation 2018; 138: 1654-65 12 Thygesen K et al.: Fourth universal definition of myocardial infarction (2018). Eur Heart J 2019; 40: 237-69