
Innovationen zu Herzklappen und künstlicher Intelligenz in der Kardiologie
Der Kongress „Consensus – Controversy – Compromise – C3“, der im Februar, also noch vor dem Lockdown, in Wien stattfand, war gut besucht und konnte mit spannenden Vorträgen namhafter nationaler und internationaler Experten sowie eindrucksvollen Live-Übertragungen von Eingriffen am Herzen aufwarten. Der Fokus lag auf Herzklappenerkrankungen, die Themen reichten jedoch bis hin zu Zukunftsthemen wie dem Einsatz von künstlicher Intelligenz und Big Data in der Kardiologie.
Welche Klappe für welchen Patienten?
Die Implantation interventioneller Aortenklappen ist längst zu einem Routineeingriff geworden. Mittlerweile wurden in 65 Ländern an mehr als 1400 Zentren mehr als 350000 TAVIs durchgeführt, so Prof. Dr. Alain Cribier von der Universität Rouen in Frankreich, der die FDA-Zulassung der TAVI für Patienten mit niedrigem Risiko als weiteren Meilenstein in der Entwicklung des Klappenersatzes bezeichnet. Cribier betont aber, dass in den vergangenen fast 20 Jahren Evidenz zur TAVI in erster Linie in Registern gesammelt wurde. Daten aus randomisierten Studien liegen zu zwei Klappen vor, zu der mittels Ballon expandierbaren Edwards SAPIEN-Klappe sowie der selbstexpandierenden Medtronic CoreValve. Die in Europa am meisten verwendeten interventionellen Klappen sind die SAPIEN-3 sowie die CoreValve Evolute R/PRO.
Das Prozedere der Implantation hat sich über die Jahre gewandelt – hin zu einem „stent like“ Vorgehen mit einer Dauer von 30 bis 40 Minuten, das unter Lokalanästhesie durchgeführt wird und bei 80% der Patienten lediglich einen Krankenhausaufenthalt von weniger als drei Tagen erfordert. Dieses Vorgehen ist kosteneffektiv. Benötigt werden ein Katheterlabor oder Hybrid-OP, ein kleines Team mit nur zwei Kardiologen und Ultraschall bei Bedarf. Ein Anästhesist oder ein herzchirurgisches Team als Stand-by werden nicht mehr benötigt. Der femorale Zugang hat sich durchgesetzt und macht heute laut Registerdaten mehr als 90% der Eingriffe aus. Transaortaler und transapikaler Zugang spielen praktisch keine Rolle mehr. Diese minimalistische Praxis hat durch den geringeren Gebrauch von Ressourcen und den kürzeren Spitalsaufenthalt erheblich zur Kostenreduktion beigetragen. Nach Schätzungen aus den USA ist die TAVI auf diesem Wege innerhalb weniger Jahre um 15000 USD reduziert.
Wachsende Patientenzahl erfordert differenzierten Einsatz
Angesichts der großen Auswahl an verfügbaren Klappen und der wachsenden Population potenziell für eine TAVI infrage kommender Patienten stelle sich im klinischen Alltag täglich die Frage, wer welche Klappe erhalten solle, wobei Cribier betont, dass der Sicherheitsaspekt dabei im Vordergrund zu stehen hat. Neben der Größe des Anulus sind unter anderem auch die Lokalisation der Koronararterien (sowie die Zugangsmöglichkeit im Falle einer Koronarintervention) oder die Hämodynamik von Bedeutung. Damit ist für die Wahl der Klappe letztlich auch die Qualität des CT-Scans ausschlaggebend. Eine Rolle spielt auch die Erfahrung des implantierenden Teams mit den jeweiligen Systemen sowie der Preis der Klappe.
Hinsichtlich der Größe des Anulus erlauben bei den meisten Patienten sämtliche Klappen ein optimales Matching. Unter den aktuell verfügbaren Klappen ist die Evolut PRO am flexibelsten an ungewöhnliche Anulus-Größen anpassbar. Bei ballonexpandierenden Klappen kann eine Über- oder Unterexpansion erforderlich sein, ebenso eine nachträgliche Dilatation bei selbst- oder ballonexpandierenden Klappen. Um Mismatch zu vermeiden, gibt Cribier bei sehr kleinem Anulus der supraannular sitzenden CoreValve gegenüber anderen Klappen den Vorzug. In diesem Zusammenhang ist auch an die seltene, aber katastrophale Komplikation einer Annulus-Ruptur zu denken. Subannulare Kalzifikation ist in dieser Hinsicht als Risikofaktor zu werten. Ballonexpandierende Klappen sind mit einem höheren Risiko einer Anulus-Ruptur assoziiert.
Ein wichtiger Aspekt ist der Schutz der Ostien der Koronararterien bzw. der Zugang zu den Koronararterien, für den Fall, dass in der Zukunft eine Katheterintervention erforderlich werden könnte. In dieser Hinsicht sind, so Cribier, die selbstexpandierenden den ballonexpandierenden Klappen überlegen. Post-Dilatation oder Oversizing erhöhen das Risiko zusätzlich. Im Hinblick auf paravalvuläres Prothesenleakage (PVL) weist Cribier auf sehr gute Erfahrungen mit der SAPIEN-3-Klappe im Rahmen der PARTNER-3-Studie hin. Auch in Bezug auf den Schrittmacher-Bedarf, betont Cribier das gute Abschneiden der SAPIEN-3 sowohl in älteren als auch in rezenten Registern. Diese Komplikation gewinne insofern an Bedeutung, als immer jüngere Patienten TAVI erhalten. Dem Trend nach zeigen die Register bei mechanischen Klappen das höchste Risiko, gefolgt von ballonexpandierenden und selbstexpandierenden.
Schlaganfallrisiko nach Klappenersatz reduzieren
Die TAVI ist mit einem nicht zu unterschätzenden Schlaganfallrisiko assoziiert. Einer Studie der CENTER-Collaboration mit mehr als 10000 Patienten dieses Risiko bei 2,4%. TAVI-Patienten, die einen Schlaganfall erleiden, haben ein fünffach erhöhtes Risiko zu versterben.1 Das Schlaganfallrisiko erwies sich auch als unabhängig vom TAVI-Volumen des Zentrums und von der Erfahrung der behandelnden Kardiologen. Dieses Problem muss ernst genommen werden, so Dr. Giora Weisz, Direktor der interventionellen Kardiologie am Montefiore Medical Center in New York, zumal TAVI zunehmend auch bei Patienten mit niedrigem Risiko und langer Lebenserwartung eingesetzt werde.
Entwicklung protektiver Devices
Zur Verbesserung dieser Situation wurden mittlerweile mehrere Devices entwickelt, die während der Prozedur auftretende Thromben in der Strombahn abfangen sollen. Weisz betont in diesem Zusammenhang, dass die Entwicklung dieser Devices ungeachtet des simplen Mechanismus keineswegs trivial ist, zumal neben den anatomischen Gegebenheiten und Variationen auch eine mögliche Interaktion mit den verschiedenen TAVI-Systemen in Betracht gezogen werden müsse. Grundsätzlich sei zwischen zwei Funktionsprinzipien zu unterscheiden: „Deflection“ und „Capture“. Während Deflektoren den Aortenbogen abschirmen und verhindern sollen, dass Partikel in die zerebrale Zirkulation gelangen, sollen mit den Fängern diese Partikel fixiert und aus der Zirkulation entfernt werden.
Das erste im klinischen Alltag eingesetze Device war ein reiner Deflektor namens Embrella, der mittlerweile nicht mehr im Einsatz ist. Aktuell verfügbar ist Sentinel (Boston Scientific), ein Device, das aus zwei voneinander unabhänhigen Polyurethan-Filtern besteht, mit denen embolisches Material aus dem Körper entfernt werden kann. Mit Sentinel wurde in einer klinischen Studie zunächst keine signifikante Reduktion periprozeduraler Komplikationen erreicht.2 Dies war, so Weisz, vermutlich der kleinen Patientenzahl geschuldet, da die numerische Reduktion abgefangener Partkel durchaus deutlich ausfiel. Die klinische Erfahrung und gepoolte Daten aus mehreren Studien lassen auf eine signifikante Reduktion des Schlaganfall-Risikos schließen. Klarheit werde die vor Kurzem gestartete Studie Protected TAVR bringen, die mit mehr als 3000 Patienten auch ausreichend Power haben wird, um den Einfluss des Device auf harte klinische Endpunkte zu zeigen.
Weisz: „Sentinel ist ein gutes Device und das einzige, das wir aktuell haben. Es hat allerdings auch eine Schwäche. Es schützt die linke Arteria vertebralis nicht. Diese ist jedoch bei 34% der Patienten dominant.“ Um diesen Nachteil zu überwinden und den gesamten Aortenbogen zu schützen, werden nun protektive Devices der neuen Generation entwickelt. Eines dieser Devices, TriGUARD 3™ (Keystone Heart, Ltd.), wird aktuell in der Phase-I- und -II-Studie REFLECT untersucht.
Neue Konzepte in Testung
Doch auch mit dem Schutz des kompletten Aortenbogens sind, so Weisz, nicht alle Probleme gelöst. Denn Thromben können auch in anderen Bereichen des Körpers, wie etwa in den Nieren, im Darm oder in den Extremitäten, schwere Schäden anrichten. Mit EmblokTM (Innovative Cardiovascular Solutions, LLC), Emboliner (Emboline) und Captis (Filterlex Medical) wurden mittlerweile drei Devices entwickelt, die „full body protection“ versprechen. Mit dem Emblok soll die gesamte Aorta ascendens geschützt werden. Das Device filtert thrombotisches Material, das dann aus dem Gefäß entfernt wird. Das CAPTIS-Device erlaubt ebenfalls das Einfangen und Entfernen von Thromben aus der Aorta und soll die gesamte Zirkulation schützen. Zusätzlich schirmt das Device die Aorta gegen Verletzungen ab. Aktuell läuft eine direkte Vergleichsstudie zwischen Emblok und Sentinel.
Künstliche Intelligenz in der Kardiologie
Künstliche Intelligenz werde in Zukunft eine wichtige Rolle im Rahmen der medizinischen Entscheidungsfindung spielen – und dies werde nicht zuletzt die sogenannte personalisierte Medizin betreffen, so Prof. Dr. George Dangas vom Mount Sinai Health System in New York. Allerdings sei der Begriff „künstliche Intelligenz“ einigermaßen unscharf. Er beschreibt Machine Learning, also einen anhand des Outputs selbstoptimierenden Prozess, Deep Learning, also Machine Learning, das sich an den logischen Strukturen neuronaler Netzwerke orientiert, Natural Language Processing, also Spracherkennung, die es Maschinen ermöglicht, mit Menschen in Kommunikation zu treten sowie das weite Feld der Robotik und das „Internet der Dinge“. Genauso vielfältig sind daher die potenziellen Anwendungen im Gesundheitswesen. Sie reichen vom Robotereinsatz in der Chirurgie über die Befundung histologischer Präparate, Unterstützung medizinischer Entscheidungsfindung oder Krankenhausadministration bis hin zu futuristischen Applikationen wie zum Beispiel dem Monitoring depressiver Patienten anhand von Handy-Daten.
Aktuelle Anwendungsmöglickeiten vorallem in der Bildgebung
Für die sogenannte „precision medicine“ könnte Artificial Intelligence entscheidende Fortschritte ermöglichen. Wie dies am Beispiel der Kardiologie aussehen könnte, erläuterte eine amerikanische Autorengruppe 2018 in einer Übersichtsarbeit3, die für die künstliche Intelligenz in Zukunft eine zentrale Rolle nicht nur in der Befundung und in der Forschung, sondern auch in klinischen Algorithmen sieht. Dangas betont, dass einiges davon bereits Realität ist und AI beispielsweise in der Interpretation von IVUS-Images (intravasaler Ultraschall) Anwendung findet. Insbesondere zur Integration von AI in das kardiovaskuläre Imaging wurden in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten publiziert. Dies betrifft nicht zuletzt auch die Applikation und Verbesserung dieser Konzepte durch Validierung und Überprüfung in der klinischen Praxis.4
Praktische Beispiele für Anwendungen gibt es aktuell vor allem aus dem Bereich der Bildgebung. So wurde ein voll automatisierter Algorithmus für die Detektion von Kalzium im Thorax-Imaging vorgeschlagen. In einer multizentrischen Studie mit mehr als 200 Patienten konnte gezeigt werden, dass ein Algorithmus auf Basis von Machine Learning ausgehend von invasiver FFR (fractional flow reserve) besser geeignet ist, eine Läsions-spezifische Ischämie vorauszusagen, als dies anhand des Stenosegrades oder des Plaque-Volumens möglich ist.5
Künftiger KI-Einsatz von Experten- bis auf die Patienenebene möglich
Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2019 erwartet deutliche Verbesserungen durch den Einsatz künstlicher Intelligenz im kardialen Imaging, die zu Verbesserungen hinsichtlich Timing, Effizienz und Diagnosegenauigkeit beitragen sollen. Dies sollte auf allen Ebenen der Bildgebung, Interpretation und Entscheidungsfindung möglich sein. Die Autoren unterstreichen allerdings auch die Bedeutung robuster Daten, von denen ausgehend die Algorithmen Anwendung finden. Die hohe diagnostische Präzison, die mit kardiovaskulärem Imaging erreicht werden kann, sollte in Verbindung mit „Big Data“ aus elektronischen Gesundheitsakten und Pathologie-Befunden eine bessere Charakterisierung von Erkrankungen und damit auch weitere Schritte in Richtung einer personalisierten Medizin möglich machen.6
Neben komplexen klinischen Anwendungen findet künstliche Intelligenz zunehmend auch auf der Patientenebene Eingang in die kardiologische Praxis. Apps für Mobile Devices wie Smartphones spielen dabei eine zentrale Rolle. So zeigen Studiendaten, dass medizinische Apps besser akzeptiert werden, wenn sie ähnlich gestaltet werden wie populäre Consumer-Apps. Dangas nennt als Beispiel für die Integration von AI in die kardiovaskuläre Diagnostik die von Stanford Medicine durchgeführte Apple Heart Study, die in einer Population von fast einer halben Million Probanden ein Screening auf Vorhofflimmern mittels Smartphone oder Smartwatch untersuchte und eine hohe Korrelation zwischen einer „notification of irregular pulse“ und einer späteren Diagnose von Vorhofflimmern fand.7
Bericht:
Reno Barth
Quelle:
„Consensus – Controversy – Compromise – C3“, 16.–18. 2. 2020, Wien. Vorträge: „The right valve for the right patient - between economics and data”, Alain Cribier, Rouen, Frankreich; „Developments in cerebral embolic protection”, Giora Weisz, New York, USA; „ Personalized Medicine in Cardiovascular Disease” George Dangas, New York, USA
Literatur:
1Vlastra W et al.: Circ Cardiovasc Interv 2019; 12(3): e007546 2 Kapadia SR et al.: J Am Coll Cardiol 2017; 69(4): 367-77 3 Johnson KW et al.: J Am Coll Cardiol 2018; 71(23): 2668-79 4Goldstein BA et al.: Eur Heart J 2017; 38(23): 1805-14 5 Dey D et al.: Eur Radiol 2018; 28(6): 2655-64 6 Dey D et al.: J Am Coll Cardiol 2019; 73(11): 1317-35 7 Perez MV et al.: N Engl J Med 2019; 381: 1909-17
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