
Arzneimittelinteraktionen mit antiretroviralen Medikamenten: immer noch ein Problem?
Autorin:
Prof. Dr. Catia Marzolini
Leiterin des Arzneimittelinteraktionenpanels der EACS-Leitlinien
Abteilung für Infektiologie & Spitalhygiene
Universitätsspital Basel
E-Mail: catia.marzolini@usb.ch
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Vor mehr als 20 Jahren haben HIV-Proteaseinhibitoren die Behandlung der HIV-Infektion revolutioniert, aber auch ihr hohes Potenzial für Arzneimittelinteraktionen in den Vordergrund gestellt. In den letzten Jahren wurden mehrere antiretrovirale Medikamente mit geringem Interaktionsprofil in die Leitlinien zur HIV-Behandlung aufgenommen. Gleichzeitig ist jedoch der Anteil älterer Menschen unter Polypharmazie erheblich gestiegen, was zu mehr Arzneimittelinteraktionen und anderen Verschreibungsproblemen führt.
Keypoints
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Geboosterte antiretrovirale Medikamente, wie Efavirenz, Etravirin und Nevirapin, haben ein höheres Potenzial, AI zu verursachen, da sie hemmende oder induzierende Effekte auf Enzyme und Transporter haben, die den Arzneimittelstoffwechsel beeinflussen.
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Ungeboosterte Integraseinhibitoren haben ein geringes Risiko, AI zu verursachen, können aber durch Medikamente mit induzierenden Effekten oder Medikamente, die divalente Kationen enthalten, beeinträchtigt werden.
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Die intramuskuläre Verabreichung von Cabotegravir plus Rilpivirin hat den Vorteil, dass keine AI im Gastrointestinaltrakt stattfinden. Dennoch können AI in der Leber stattfinden, insbesondere bei Induktoren des Arzneimittelstoffwechsels.
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AI bleiben auch in der Ära der HIV-Integraseinhibitoren ein Problem, da die HIV-Population immer älter wird und damit eine höhere Prävalenz von Komorbiditäten und Polypharmazie einhergeht.
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Zu den Strategien zur Vermeidung von AI gehören die Abgleichung der Medikation, die regelmäßige Überprüfung der Medikation und die Entfernung unnötiger Komedikationen, um die Polypharmazie zu reduzieren.
Arzneimittelinteraktionen (AI) sind seitder Einführung der HIV-Proteaseinhibitoren vor mehr als 20 Jahren ein bekanntes Problem. Proteaseinhibitoren werden zusammen mit einem pharmakokinetischen Booster gegeben, der nicht nur die Wirkung des antiretroviralen Medikaments erhöht, sondern möglicherweise auch die Wirkung anderer Medikamente, die ein Patient einnimmt, was zu unerwünschten AI führen kann. Neben geboosterten Regimen umfasste die Erstlinienbehandlung früher die nichtnukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) Efavirenz und Nevirapin, die die Konzentrationen von Komedikationen reduzieren können. In den letzten Jahren hat sich die Behandlung auf ungeboosterte Integraseinhibitoren und NNRTI der nächsten Generation konzentriert, die sich durch verbesserte AI-Profile charakterisieren. In diesem Jahr wurde das erste langwirksame intramuskuläre Regime Cabotegravir plus Rilpivirin als Switch-Strategie in die Leitlinien der European AIDS Clinical Society (EACS) aufgenommen.1 Dieses Regime bietet den Vorteil, dass im Gastrointestinaltrakt vorkommende AI eliminiert werden. Der Zugang zu antiretroviralen Medikamenten mit geringerer Anfälligkeit für AI geht jedoch mit einer alternden HIV-Population einher, die mehr Komorbiditäten und Polypharmazie aufweist, was zu einem erhöhten Risiko von AI und anderen Verschreibungsproblemen führt. In diesem Artikel werden die wichtigsten AI-Mechanismen mit antiretroviralen Medikamenten vorgestellt, die Haupt-AI moderner antiretroviraler Medikamente beleuchtet und die therapeutischen Probleme in der alternden HIV-Population diskutiert.
Wichtige AI-Mechanismen bei antiretroviralen Medikamenten
Pharmakokinetische AI mit antiretroviralen Medikamenten können auf der Absorptions-, Metabolisierungs- oder Ausscheidungsebene über die folgenden Mechanismen stattfinden (Abb. 1):1, 2
Abb. 1: Mechanismen von Interaktionen mit antiretroviralen Medikamenten (modifiziert nach EACS-Leitlinien vom Oktober 2021)1
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Veränderungen des pH-Wertes im Magen: Antazida vermindern die Absorption von Atazanavir und Rilpivirin deutlich, da ein niedriger pH-Wert für ihre Löslichkeit erforderlich ist. Es besteht die Möglichkeit, dass die Wirksamkeit beeinträchtigt wird.
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Chelation: Da Integraseinhibitoren ihreWirkung durch Bindung an ein divalentesKation im aktiven Zentrum des Integraseenzyms entfalten, können die divalenten Kationen Aluminium, Kalzium und Magnesium in Antazida/Ergänzungsmitteln sowie Eisenprodukten Komplexe mitIntegraseinhibitoren bilden und dadurch deren Aufnahme und Wirksamkeit beeinträchtigen.
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Inhibition/Induktion von Darm-Zytochromen und Medikamententransportern: Rifampicin ist ein starkes Zytochrom/Transporter-induzierendes Medikament und kann beispielsweise die orale Verfügbarkeit von TAF durch Erhöhung des P-Glykoprotein(P-gp)-vermittelten Effluxes in den Enterozyten beeinflussen. Andererseits können geboosterte antiretrovirale Medikamente aufgrund der Inhibition von P-gp im Darm die Absorption verschiedener Medikamente erhöhen.
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Inhibition/Induktion von Leber-Zytochromen, Glucuronidierung oder Medikamententransportern: Die Leber ist der Ort, den AI betreffen, und es gibt zahlreiche Beispiele für klinisch relevante AI. Ein wichtiges Beispiel ist die Auswirkung von geboosterten Proteaseinhibitoren auf die Konzentration verschiedener Statine durch Inhibition von CYP3A4 und/oder hepatischen Transportern, wodurch sich das Risiko für Myopathie oder Rhabdomyolyse erhöht.
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Inhibition der renalen Medikamententransporter: Es gibt einige endogene Substanzen (z.B. Kreatinin) und mehrere Medikamente (z.B. Metformin), die im proximalen Nierentubulus aktiv transportiert werden. Dolutegravir und Bictegravir hemmen die OCT2-vermittelte Aufnahme von Metformin in die Tubuluszellen, während Cobicistat und Ritonavir die Metformin-Sekretion im Urin über das Multidrug- und Toxinextrusionsprotein MATE1 hemmen; beide Mechanismen erhöhen die Konzentration des Diabetesmedikaments.
Bei bestimmten antiretroviralen Medikamenten kann es zu pharmakodynamischen AI kommen, wenn sie zusammen mit Medikamenten gegeben werden, die ein ähnliches Toxizitätsprofil haben, wodurch sich das Risiko für additive unerwünschte Wirkungen erhöht.
Es ist wichtig zu erkennen, dass nicht alle antiretroviralen Medikamente das gleiche Interaktionspotenzial haben: Das Risiko von AI ist am größten, wenn ein Booster im Regime enthalten ist oder wenn Efavirenz, Etravirin und Nevirapin benutzt werden (Abb. 2).2 Ungeboosterte Integraseinhibitoren, Doravirin, Fostemsavir und intramuskulär verabreichte antiretrovirale Medikamente zeigen ein besseres AI-Profil, doch sind auch diese Medikamente nicht frei von Interaktionen, wie im Folgenden beschrieben.
Abb. 2: Interaktionsprofil verschiedener antiretroviraler Medikamente mit > 750 Komedikationen (modifiziert nach www.hiv-druginteractions.org )2
Wichtige AI bei modernen antiretroviralen Medikamenten
Zu den wichtigsten Sustanzen, die zu AI mit modernen antiretroviralen Medikamenten führen können, zählen die starken Induktoren, die mit Bictegravir, Cabotegravir (oral), Cabotegravir/Rilpivirin (i.m.), Doravirin und Fostemsavir kontraindiziert sind. Starke Induktoren können jedoch mit Dolutegravir in einer Dosis von 50mg zweimal täglich oder Raltegravir in einer Dosis von 800 oder 400mg zweimal täglich zusammen verabreicht werden. Moderate Induktoren sind auch mit Bictegravir oder Cabotegravir/Rilpivirin (i.m.) kontraindiziert, können aber mit Cabotegravir (oral), Dolutegravir, Raltegravir oder Fostemsavir benutzt werden, ohne dass die Dosierung angepasst werden muss, oder mit Doravirin in einer Dosierung von 100mg zweimal täglich. Eine weitere wichtige AI betrifft die Einnahme von Medikamenten, die divalente Kationen enthalten, da sie sich mit Integraseinhibitoren verbinden und dadurch deren Absorption verringern. Diese Interaktion kann jedoch durch eine getrennte Verabreichung gehandhabt werden, obwohl es für jeden Integraseinhibitor leicht unterschiedliche Empfehlungen gibt.
Die intramuskuläre Verabreichung von Cabotegravir und Rilpivirin bietet den Vorteil, dass AI, die im Gastrointestinaltrakt stattfinden, vermieden werden. AI können jedoch auch in der Leber stattfinden. Die Vermeidung des Gastrointestinaltrakts als Ort der AI scheint das Ausmaß der AI nicht zu verringern.3
Werden AI in Zukunft angesichts des verbesserten AI-Profils moderner antiretroviraler Medikamente noch ein wichtiges Thema bei der Behandlung von Menschen mit HIV sein? Eine Studie der Schweizer HIV-Kohorte, in der die Prävalenz potenzieller AI im Jahr 2018 in der Ära der Integraseinhibitoren mit der Prävalenz im Jahr 2008 verglichen wurde, als geboosterte Proteaseinhibitoren die bevorzugte Therapie waren, zeigte, dass die Prävalenz potenzieller AI im Jahr 2018 nur leicht reduziert wurde.4 Diese Beobachtung lässt sich dadurch erklären, dass ein großer Teil der Patienten immer noch mit geboosterten Therapien behandelt wurde. Eine andere Erklärung ist der höhere Komedikationsverbrauch im Jahr 2018 aufgrund der alternden HIV-Population.
Therapeutische Probleme bei der alternden HIV-Population
Die alternde HIV-Population bringt neue Probleme mit sich, da ältere Menschen eine höhere Belastung durch altersbedingte chronische Komorbiditäten haben, die zu einer komplexen Polypharmazie führen. Zudem können altersbedingte physiologische Veränderungen die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Medikamenten verändern, wodurch ältere Menschen zu einer unpassenden Dosierung oder einem unpassenden Medikamentenverbrauch veranlasst werden. Eine Studie der Schweizer HIV-Kohorte hat gezeigt, dass Verschreibungsfehler häufig sind: 67% der älteren Menschen haben mehr als ein Medikamentenproblem, und zwar falsche Dosierung (26%), fehlende Indikation (21%), unpassende Medikamente (18%) und schädliche AI (17%).5
Obwohl wir in die Ära der Integraseinhibitoren eingetreten sind, ist es dennoch notwendig, sich der relevanten AI bewusst zu werden, und zwar sowohl bei Integraseinhibitoren als auch bei den antiretroviralen Medikamenten der früheren Generation, die in bestimmten Situationen immer noch wichtig sind. Dies ist besonders bei älteren HIV-Patienten zu berücksichtigen, die häufig Komorbiditäten haben, die zu einer komplexen Polypharmazie und einem höheren Risiko von AI oder anderen Verschreibungsfehlern führen.
Fazit
Strategien zur Vermeidung von AI und anderen Verschreibungsfehlern sind unumgänglich und umfassen die Ausbildung über die wichtigsten AI mit jeder Klasse von antiretroviralen Medikamenten und über Verschreibungsprinzipien bei älteren Menschen. Zu diesem Ziel enthalten die EACS-Leitlinien AI-Tabellen, die einen Überblick über die Interaktionen zwischen antiretroviralen Medikamenten und verschiedenen therapeutischen Klassen geben. Außerdem enthalten die aktuellen Leitlinien mehrere Dokumente, die sich auf die Verschreibung bei älteren Menschen mit HIV beziehen.1 Weitere Interventionen zur Vermeidung/Eingrenzung von Verschreibungsfehlern umfassen den Medikamentenabgleich, die regelmäßige Medikamentenüberprüfung sowie die Entfernung unnötiger Komedikationen, um die Polypharmazie und das Risiko von AI zu verringern.
Literatur:
1 European AIDS Clinical Society (EACS) guidelines. Version 11: https://www.eacsociety.org/media/final2021eacs guidelinesv11.0_oct2021.pdf ; zuletzt aufgerufen am 2.11.2021 2 Liverpool HIV drug interactions: http://www.hiv-druginteractions.org ; zuletzt aufgerufen am 2.11.2021 3 Hodge D et al.: Pharmacokinetics and drug-drug interactions of long-acting intramuscular cabotegravir and rilpivirine. Clin Pharmacokinet 2021; 60: 835-53 4 Deutschmann E et al.: Prevalence of potential drug-drug interactions in patients of the Swiss HIV Cohort Study in the era of HIV integrase inhibitors. Clin Infect Dis 2021; 73: e2145-52 5 Livio F et al.: Analysis of inappropriate prescribing in elderly patients of the Swiss HIV Cohort Study reveals gender inequity. J Antimicrob Chemother 2021; 76: 758-64
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