Indikation zur Hörgeräteversorgung
Autor:
Dr. rer. nat. Florian H. Schmidt
Audiologie/Neurootologie und Hörzentrum
Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie „Otto Körner“
Universitätsmedizin Rostock
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Hörstörungen sind weitverbreitet, insbesondere bei älteren Menschen. Eine präzise Diagnostik ist entscheidend, um die Ursache und das Ausmaß der Schwerhörigkeit zu bestimmen und die passende Therapie zu wählen. Hörgeräte können helfen, die Kommunikationsfähigkeiten und Lebensqualität der Betroffenen erheblich zu verbessern.
Keypoints
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Ein Hörgerät ist indiziert bei einem Hörverlust von mindestens 30dB bei Frequenzen zwischen 500 und 4000Hz und einer Sprachverständlichkeit, die nicht besser ist als 80%.
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Eine Folgeversorgung ist notwendig bei irreparablen Schäden oder Verlust des Hörgeräts oder bei einer erheblichen Verschlechterung des Hörvermögens.
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Wenn die Sprachverständlichkeit mit Hörhilfe nicht besser als 60% ist, ist die Indikation für ein Cochlea-Implantat zu prüfen.
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Hörgeräte können auch bei chronischem Tinnitus indiziert sein und empfohlen werden, sofern auch ein Hörverlust vorliegt, da in diesem Fall häufig der Tinnitus mit einem Hörgerät supprimiert werden kann.
Die WHO schätzt, dass weltweit 1,8 Milliarden Menschen von Hörverlust betroffen sind.1 In Deutschland leiden etwa 16 bis 25% der Bevölkerung an einer Hörstörung, was etwa 13,3 bis 20,8 Millionen Menschen entspricht.2 Bei Neugeborenen liegt die Prävalenz bei 1 bis 2 Fällen pro 1000 Kindern.3 Die dadurch entstehenden Behandlungskosten werden auf 2,65 Milliarden Euro geschätzt.4 Für die Betroffenen bedeutet dies oft eine erhebliche Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit, was zu sozialer Isolation, Einsamkeit und infolgedessen zu Depressionen und Gebrechlichkeit führen kann.5 Unbehandelter Hörverlust führt langfristig zu einem Verlust an Lebensqualität und kann zudem die Entwicklung von Demenzerkrankungen beschleunigen.6
Diagnose der Schwerhörigkeit
Schwerhörigkeit kann einseitig oder beidseitig auftreten und wird nach ihren Ursachen unterschieden. Bei der Schallleitungsschwerhörigkeit wird die Schallübertragung mechanisch behindert, während bei der Schallempfindungsschwerhörigkeit die Ursache meistens in einem Haarzellschaden in der Cochlea liegt. Seltener sind neurale Ursachen wie Tumoren am Hörnerv oder organische Veränderungen im zentralen Hörsystem verantwortlich.
Eine präzise audiometrische Diagnostik ist entscheidend, um die Ursachen und das Ausmaß der Schwerhörigkeit zu erfassen. Wichtige Messinstrumente dafür sind subjektive Hörtests wie die Ton- und Sprachaudiometrie. Im tonaudiometrischen Prüfverfahren nach DIN EN ISO 8253 werden Hörschwellen zu präsentierten Reintönen aus dem Frequenzbereich von 125Hz bis 8kHz festgestellt, welche die frequenzspezifische Abschwächung der Hörminderung beschreiben und Hinweise auf die Ursache der Schwerhörigkeit geben. Die Sprachaudiometrie bewertet die Auswirkungen der Hörstörung auf die soziale Funktion des Hörens und überprüft die Ergebnisse der tonaudiometrischen Tests.
In Deutschland wird für die Sprachaudiometrie meist der Freiburger Sprachverständlichkeitstest nach DIN 46521 verwendet. Diese Verfahren sind besonders geeignet für die Hörprüfung bei Jugendlichen und Erwachsenen. Bei Kindern müssen angepasste Sprachmaterialien verwendet werden und oft können nur Reaktions- statt Schwellenwerte ermittelt werden. Bei Kindern unter drei Jahren sind objektive Hörtests wie Tympanometrie, Messung otoakustischer Emissionen und elektrische Reaktionsaudiometrie entscheidend.
Voraussetzungen für eine Hörgeräteversorgung
Für die Indikation einer Hörgeräteversorgung muss der tonaudiometrisch gemessene Hörverlust des betroffenen Ohres mindestens 30dB in einer der Prüffrequenzen zwischen 500 und 4000Hz betragen (Abb. 1A, DIN ISO 8253-1). Zudem darf die mit dem Freiburger Einsilbertest gemessene sprachaudiometrische Verständlichkeit nicht über 80% liegen (Abb. 1B, DIN ISO 8253-3). In Deutschland ist genauso wie in Österreichbei beidseitiger Schwerhörigkeit in der Regel eine Versorgung mit Hörgeräten für beide Ohren indiziert.
Abb. 1: Schematische Darstellung der Indikation für Hörgeräte. A: Im Tonaudiogramm beginnt der Indikationsbereich für die Hörgeräteversorgung im Frequenzbereich von 500–4000Hz ab 30dB HL Hörverlust. B: Im Sprachaudiogramm darf die Verständlichkeit bei einem Sprachpegel von 6dB SPL nicht über 80 Prozentpunkte liegen
Die Verordnung von Hörgeräten erfolgt durch einen HNO-Facharzt. Dieser prüft, ob Erkrankungen des Schläfenbeins vorliegen, eine ohrchirurgische Hörverbesserung möglich und Erfolgversprechend ist und ob die Ohrmuschel sowie der Gehörgang für die Anpassung eines Hörgerätes geeignet sind. Sind die anatomischen Voraussetzungen für das Tragen einer Hörhilfe gegeben und ist eine ohrchirurgische Maßnahme nicht indiziert, kann die Verordnung von Hörgeräten erfolgen.
Eine erfolgreiche Versorgung setzt ein ausreichend nutzbares Restgehör voraus. Neben dem allgemeinen und dem HNO-Status werden auch die psychosoziale Situation, der kommunikative Anspruch und die Rehabilitationsfähigkeit des Patienten betrachtet. Audiometrische Verfahren klären das Ausmaß, die Art und die Ursache der Hörstörung. Technische Hörhilfen kommen in Betracht, wenn keine medikamentösen oder operativen Alternativen verfügbar sind. Wichtige Fragen hierbei sind: Ist das Ausmaß der Hörstörung so groß, dass eine apparative Hilfe erforderlich ist? Wie groß ist der zu erwartende Hörgewinn? Gibt es medizinische Gründe für den Einsatz eines implantierbaren Hörsystems? Ist das vorhandene Hörvermögen ausreichend für eine akustische Verstärkung oder muss die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat (CI) in Betracht gezogen werden?
Ein CI wird empfohlen, wenn die Sprachverständlichkeit mit Hörgerät bei 65dB nicht mehr als 60% beträgt.7 Das Implantat wird mikrochirurgisch in die Scala tympani der Cochlea eingeführt und stimuliert den Hörnerv direkt mit elektrischen Impulsen, was das Hören auch bei vollständiger Ertaubung ermöglicht. Ein CI ist jedoch ungeeignet, wenn der Hörnerv nicht angelegt ist oder die Elektrode z.B. aufgrund einer Verknöcherung nicht in die Cochlea eingeführt werden kann.
Die Verordnung einer Hörhilfe erfolgt nach der Anamnese sowie einer ärztlichen und audiologischen Untersuchung durch einen Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde oder für Phoniatrie und Pädaudiologie. Es muss sichergestellt sein, dass der Versicherte das Hörgerät korrekt tragen kann, er oder oder seine Hilfspersonen es korrekt bedienen können und bereit sind, im weiteren Verlauf mit dem betreuenden Hörakustiker zusammenzuarbeiten. Eine Folgeversorgung von Hörgeräten ist notwendig, wenn das Gerät irreparabel beschädigt wird, verloren geht oder sich das Hörvermögen so sehr verschlechtert, dass mit dem aktuellen Gerät keine ausreichende Verbesserung mehr erreicht werden kann.
Hörgeräte bei Tinnitus
Auch Tinnitus kann eine Indikation für eine Hörgeräteversorgung sein, da in vielen Fällen das störende Ohrgeräusch mit einem Hörverlust vergesellschaftet ist. Wird diese durch das Hörsystem ausgeglichen, kommt es häufig zu einer Tinnitussuppression. Die Behandlung des Tinnitus mit gleichzeitig auftretendem geringgradigem Hörverlust durch eine Hörgeräteversorgung verbessert in vielen Fällen das Hörerlebnis und kann erfolgreich den Tinnitus in den Hintergrund drängen.8 Die Behandlung von Tinnitus ohne begleitenden Hörverlust durch ein maskierendes Rauschen zum Beispiel mit der Noiser-Funktion bei Hörgeräten ist möglich, einen wissenschaftlichen Nachweis des Nutzens gibt es jedoch nicht, sodass dieses Hilfsmittel in der aktuellen Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ nicht empfohlen wird.9 Generell gilt: Eine Hörgeräteverordnung kann erst erteilt werden, wenn der Tinnitus als chronisch festgestellt wurde.
Kostenübernahme
Hörgeräte sind nicht automatisch verschreibungspflichtig und können auch privat gekauft werden. In Deutschland müssen bestimmte Kriterien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) erfüllt sein, damit die gesetzliche Krankenkasse die Kosten übernimmt.10 Der G-BA legt fest, welche medizinischen Leistungen von gesetzlich Versicherten beansprucht werden können. Ein bedeutender funktioneller Vorteil durch die Hörgeräte muss nachgewiesen werden, damit eine Kostenübernahme erfolgt. Für die Erstattung durch die Krankenkassen müssen die Ergebnisse der Hörgeräteversorgung dokumentiert werden. Die Verständlichkeit im freien Schallfeld, gemessen mit dem Freiburger Einsilbertest, muss sich bei gleichem Pegel um mindestens 20 Prozentpunkte verbessern. Alternativ kann die Überprüfung auch mit Sprachtests im Störgeräusch erfolgen.
In Österreich sind für einen Kostenersatz abhängig vom Sozialversicherungsträger eine HNO-fachärztliche Verordnung und ein Anpassbericht des Hörgeräteakustikers erforderlich.
Fazit
Voraussetzung für den Erfolg einer Hörgeräteversorgung sind die korrekte Anpassung und eine regelmäßige Überprüfung. In Fällen von hochgradigem Hörverlust kann ein Cochlea-Implantat das Hörvermögen wiederherstellen. Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen erfordert die Erfüllung bestimmter Indikationskriterien und eine dokumentierte Verbesserung des Hörvermögens. Schutz vor Lärm und eine rechtzeitige Behandlung sind essenziell, um Hörverlust und Tinnitus zu vermeiden.
Literatur:
1 WHO: World report on hearing 2021. https://www.who.int/publications/i/item/9789240020481 ; zuletzt aufgerufen am 17.7.2024 2 Löhler J et al.: The prevalence of hearing loss and use of hearing aids among adults in Germany: a systematic review. Eur Arch Otorhinolaryngol 2019; 276 (4): 945-56 3 Dalzell L et al.: The New York State universal newborn hearing screening demonstration project: ages of hearing loss identification, hearing aid fitting, and enrollment in early intervention. Ear Hear 2000; 21: 118-30 4 Neubauer G, Gmeiner A: Volkswirtschaftliche Bedeutung von Hörschäden und Möglichkeiten zur Reduktion deren Folgekosten. München: IfG-Institut für Gesundheitsökonomik 2011 5 Jayakody DMP et al.: Impact of aging on the auditory system and related cognitive functions: a narrative review. Front Neurosci 2018; 12: 125 6 Großmann W: (Zu-)Hören mit alterndem Gehirn – eine kognitive Herausforderung. Laryngo-Rhino-Otol 2023; 102: 12-34 7 Aschendorff A et al.: S2k-Leitlinie „Cochlea-Implantat Versorgung und zentral-auditorische Implantate“. https://register.awmf.org/assets/guidelines/017-071l_S2k_Cochlea-Implantat-Versorgung-zentral-auditorische-Implantate_2020-12.pdf ; zuletzt aufgerufen am 17.7.2024 8 Kikidis D et al.: (2021). Hearing aid fitting in tinnitus: A scoping review of methodological aspects and effect on tinnitus distress and perception. J Clin Med 2021; 10(13): 2896 9 S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ 2021: https://register.awmf.org/assets/guidelines/017-064l_S3_Chronischer_Tinnitus_2021-09_1.pdf ; zuletzt aufgerufen am 17.7.2024 10 Gemeinsamer Bundesausschuss: Hilfsmittel-Richtlinie/HilfsM-RL. Richtlinie über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung. 2021. https://www.g-ba.de/richtlinien/13/ ; zuletzt aufgerufen am 17.7.2024
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