
©
Getty Images/iStockphoto
„Therapie Aktiv“ wirkt
30
Min. Lesezeit
15.09.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Prim. Dr. Reinhold Pongratz, MBA, berichtet im Gespräch mit JATROS Diabetologie & Endokrinologie über Erfolge und Evaluierungsergebnisse des strukturierten Patientenbetreuungsprogramms „Therapie Aktiv – Diabetes im Griff“, stellt die Vorteile für den Patienten und seinen behandelnden Arzt dar und entkräftet Vorurteile.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p><strong>Herr Primarius Pongratz, Sie sind als Leitender Arzt der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse seit etwa fünf Jahren mit der Weiterentwicklung des ersten und einzigen Disease-Management- Programms (DMP) Österreichs „Therapie Aktiv – Diabetes im Griff“ betraut. Wie hat sich „Therapie Aktiv“ in diesen Jahren verändert und entwickelt?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Wir beobachten, dass die regional und überregional ergriffenen Maßnahmen der Sozialversicherung wirken und sich „Therapie Aktiv“ immer mehr etabliert. Das zeigt sich deutlich an den Einschreibezahlen (Abb. 1). Derzeit profitieren bereits 62 628 Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 von den Vorteilen des Programms. Sie werden von 1556 teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten betreut. Seit 1. 1. 2017 wird „Therapie Aktiv“ in allen Bundesländern Österreichs angeboten.<br /> Auch inhaltlich und organisatorisch entwickelt sich das Programm laufend weiter. Zur Unterstützung der Ärzte, damit diese ihre eigenen Therapiestrategien optimieren, werden von der Sozialversicherung jährlich Feedbackberichte anonymisiert zur Verfügung gestellt. Die Behandlungspfade, die kontinuierlich auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse abgestimmt werden, sind ein weiteres unterstützendes Werkzeug für den „Therapie Aktiv“-Arzt. Die Administration wird laufend vereinfacht und das Betreuungsservice durch die „Therapie Aktiv“- Teams intensiviert.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1704_Weblinks_jatros_diab_s8_abb1.jpg" alt="" width="1418" height="781" /></p> <p><strong>Und was sagen die Evaluierungsergebnisse? Können die Ziele des Programms erreicht werden?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Mithilfe einer wissenschaftlichen Evaluierung des Disease- Management-Programms durch die Studienleiterin Univ.-Prof. DI Dr. Andrea Berghold vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Dokumentation an der Medizinischen Universität Graz konnte die Wirkung von „Therapie Aktiv“ klar dargestellt werden (Tab. 1). Durch das strukturierte Betreuungsprogramm wurde eine um 35 Prozent niedrigere Mortalitätsrate im Vergleich zur Kontrollgruppe erreicht. Anhand der vorhandenen stationären Daten ließ sich darstellen, dass „Therapie Aktiv“-betreute Patienten 2,3 Tage weniger im Spital verbringen, was sich in einer Kostenreduktion von etwa 15 Prozent im stationären Bereich niederschlägt und gleichzeitig eine gute Nachricht für jeden einzelnen Patienten ist. Denn jeder Tag zu Hause statt im Spital bedeutet einen Lebensqualitätsgewinn. Auch die Zahl der Schlaganfälle als Spätfolge von Typ- 2-Diabetes ist um 10 Prozent niedriger als in der Kontrollgruppe. Mit diesen Ergebnissen sind die erwarteten Erfolge jetzt auch wissenschaftlich belegt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1704_Weblinks_jatros_diab_s9_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="664" /></p> <p><strong>Wo sehen Sie die zentralen Vorteile des Programms für den einzelnen Patienten?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Menschen mit Diabetes erhalten einerseits eine strukturierte und leitliniengemäße ärztliche Betreuung, zum Beispiel durch die regelmäßigen Kontrollen der Füße und Augen, und andererseits mehr Wissen über ihre Erkrankung – z.B. durch Schulungen und Unterlagen. Und Wissen motiviert! Durch gezielte Wissensvermittlung und regelmäßige ärztliche Therapiezielvereinbarungen, in denen realistische und erreichbare Ziele gemeinsam mit dem Arzt festgelegt werden, wird der Patient in die Lage versetzt, seinen Lebensstil aktiv und positiv zu beeinflussen. Dadurch können unangenehme Folgeerkrankungen verringert bzw. hinausgezögert und somit die Lebensqualität der Betroffenen langfristig verbessert werden (Tab. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1704_Weblinks_jatros_diab_s9_tab2.jpg" alt="" width="1419" height="837" /></p> <p><strong>Eine möglichst flächendeckende Verbreitung ist ja das Ziel jedes Disease- Management-Programms. Mit welchen Argumenten möchten Sie noch mehr Ärzte vom Programm überzeugen?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Ärzte stehen vor der Herausforderung, in ihren Ordinationen tagtäglich mit unterschiedlichsten Diagnosen und Therapien konfrontiert zu werden. Zu der großen Bandbreite an Themen kommt die knappe zur Verfügung stehende Zeit pro Patient dazu. Je strukturierter ich als Arzt arbeiten kann, desto geringer ist die Gefahr, Wichtiges zu übersehen. Da kommt bei Diabetes das strukturierte Behandlungsprogramm „Therapie Aktiv“ wie gerufen. Der Dokumentationsbogen ist der rote Faden, also der Leitfaden für wichtige Untersuchungen und zur Erhebung von Zielwerten. Zusätzlich geben die gemeinsam mit der Österreichischen Diabetes Gesellschaft entwickelten und laufend überprüften wissenschaftlichen Leitlinien und Behandlungspfade mehr diagnostische und therapeutische Sicherheit.</p> <p><strong>Welche Kritikpunkte an „Therapie Aktiv“ hören Sie am häufigsten von Ärzten und welche Lösungen können jetzt schon angeboten werden?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Teilweise herrscht noch immer das Meinungsbild vor, dass ein enormer administrativer Aufwand besteht. Die Stimmen gegen das Programm kommen jedoch zumeist von Ärzten, die „Therapie Aktiv“ nicht kennen bzw. nach Abschluss des Basis-Seminars nie damit begonnen haben, Patienten einzuschreiben. Aktive „Therapie Aktiv“- Ärztinnen und -Ärzte kommen zu einer anderen Schlussfolgerung. Um den administrativen Aufwand so gering wie möglich zu halten, wurde der Dokumentationsbogen im Frühjahr 2017 zudem nochmals verschlankt. Dieses Formular einmal im Jahr auszufüllen, dauert jeweils nur wenige Minuten. Von der Sozialversicherung werden kostenlose IT-Lösungen für die Dokumentation und Einschreibung der Patienten angeboten. Aber auch die Integration von „Therapie Aktiv“ in die jeweilige Ordinationssoftware rechnet sich schnell. Ein weiteres Service zur Vereinfachung der Administration sind die quartalsweise versendeten Informationslisten, die „Therapie Aktiv“-Ärzte übersichtlich an jene eingeschriebenen Patienten erinnern, bei denen die jährliche Dokumentation ansteht.</p> <p><strong>Haben Sie Tipps für Ärzte, die überlegen, bei „Therapie Aktiv“ aktiv zu werden? Wie können sie sich den Einstieg möglichst leicht und praktisch gestalten?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Sie sollen möglichst kurz nach der Schulung anfangen. Jeder Arzt, der „Therapie Aktiv“ anbieten will, besucht ein Basis-Seminar, das laufend in den Bundesländern bzw. bei großen Ärzte-Tagungen, wie dem ÖGAM-Kongress, abgehalten wird. Alternativ kann er auch eine Online-Schulung machen. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass der Arzt gleich nach Erhalt des Zertifikats mit der Einschreibung der ersten Patienten startet, sodass das Gehörte noch präsent ist. Viele Aufgaben kann die Ordinationsassistenz abnehmen, für die ebenfalls eigene praxisorientierte Seminare angeboten werden. Tatkräftige Unterstützung bekommen Ärzte und Assistenz von den „Therapie Aktiv“- Teams der jeweiligen Gebietskrankenkasse. Sie kommen in die Ordinationen, erklären vor Ort die wichtigen Schritte und beantworten Fragen.</p> <p><strong>Zahlt es sich für einen niedergelassenen Arzt aus, „Therapie Aktiv“-Arzt zu werden? Wie viele Patienten braucht man, damit es sich rechnet?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Im Durchschnitt erhält ein niedergelassener Arzt pro Patient und Jahr 100 Euro zusätzlich. Ohne Frage bedarf es einer gewissen Umorganisation, um den Ablauf in der Ordination effizienter zu gestalten. Dabei ist die gezielte Einbindung der Ordinationsassistenz zu beachten, denn viele organisatorische und administrative Tätigkeiten können von ihr übernommen werden. Ich würde sagen, ab 10 bis 15 Patienten rechnet sich der Aufwand auf jeden Fall, dann hat man auch ausreichend Routine für eine flüssige Administration.</p> <p><strong>Wie erfolgt die ärztliche Fortbildung im Rahmen von „Therapie Aktiv“?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Die ärztliche Fortbildung ist ein integraler Bestandteil von „Therapie Aktiv“. Die Basisschulung vermittelt dem Arzt nicht nur organisatorische Informationen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Studienergebnisse hinsichtlich der Diagnosestellung und Therapie von Menschen mit Diabetes stehen im Vordergrund. Um sich dieses Wissen auch zeit- und ortsunabhängig anzueignen, bietet die Sozialversicherung zusätzlich eine E-Learning- Option zur Absolvierung der Basisschulung. Diese bequeme und zeitsparende Online-Fortbildung umfasst sieben Module mit Übungsfragen und einem Abschlusstest.</p> <p><strong>Eine häufige Forderung von ärztlicher Seite ist die stärkere Verknüpfung des DMP mit den Diabetesschulungen. Welche Wege werden da für die Zukunft angedacht?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Diabetesschulungen sind von großer Bedeutung, damit Patienten den Umgang mit ihrer chronischen Erkrankung lernen. Österreichweit liegt der Anteil der geschulten Patienten zwischen 40 und 70 Prozent. Die Sozialversicherung arbeitet daran, diese Quote zu erhöhen, indem Call/Recall-Maßnahmen gesetzt werden. 2018 werden Informationen über Schulungstermine an nicht geschulte Patienten bzw. deren Ärzte verschickt. Die ersten Evaluierungsergebnisse eines Pilotprojektes in der Steiermark zeigen, dass diese zielgerichtete Maßnahme sowohl von Ärzten als auch Patienten sehr gut angenommen wird.</p> <p><strong>Wie schätzen Sie den Nutzen der „Therapie Aktiv“- Informationsmaterialien für Patienten ein?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Patienten haben unterschiedlichste Vorlieben in Bezug auf Informationsbeschaffung. Während sich die einen gerne in Schulungen informieren und gleichzeitig mit Gleichgesinnten austauschen, bevorzugen andere eine E-Learning-Variante oder das Nachlesen in den eigenen vier Wänden. Mit dem „Therapie Aktiv“-Patientenhandbuch sowie unterschiedlichsten Broschüren und Merkblättern zu diabetesrelevanten Themen bieten wir qualitätsgesicherte Informationen an. Mit der „Therapie Aktiv“-Website decken wir die Informationsquelle Internet ab und für Menschen, die nicht gerne lesen, gibt es eine DVD. Generell versuchen wir, auf alle Bedürfnisse einzugehen und sehen zum Beispiel bei diversen Patientenveranstaltungen, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind.</p> <p><strong>Wo sehen Sie persönlich zukünftige Ausbaumöglichkeiten bei „Therapie Aktiv“?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Die aktuellen Ausbaupläne betreffen den Patienten in der Schulung. So soll die Bewegung in der Patientenschulung einen höheren Stellenwert bekommen. Gleichzeitig wird die Möglichkeit geprüft, auch für Patienten neue Schulungsvarianten zum Beispiel als Auffrischungsschulung via E-Learning anzubieten. Die Integration einer Telemonitoring-Komponente im Rahmen von „Therapie Aktiv“ wird überlegt, wobei zu diskutieren ist, für welche Patientengruppen dies ein gangbarer Weg wäre. Auch die Einrichtung von Erinnerungssystemen ist ein mögliches Ausbauszenarium. Eine SMS „Ihr jährlicher Augenarzt-Termin steht an. Vereinbaren Sie bitte einen Termin“ könnte für manche Patienten hilfreich und erwünscht sein.</p> <p><strong>Wie schätzen Sie die Zukunft des generellen Modells „Disease-Management-Programm“ ein? Wird es weitere für andere Indikationen geben?</strong></p> <p><strong>R. Pongratz:</strong> Aus meiner Sicht empfiehlt sich ein weiteres isoliertes DMP derzeit nicht so sehr. Ich fände es interessant, mögliche modulare Erweiterungen zu „Therapie Aktiv“ anzudenken und zu diskutieren.</p> <p><strong>Vielen Dank für das Gespräch!</strong></p></p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Diabetes erhöht das Sturzrisiko deutlich
Eine dänische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Patienten mit Typ-1- als auch Patienten mit Typ-2-Diabetes öfter stürzen und häufiger Frakturen erleiden als Menschen aus einer ...
Neue Studiendaten zu Typ-2-Diabetes und Lebensstil
Dass gesunde Ernährung und Bewegung das Diabetesrisiko sowie verschiedene Risiken von Patienten mit Diabetes senken, ist seit Langem bekannt. Und das Detailwissen zur Bedeutung von ...
Wie oft wird Diabetes nicht oder spät erkannt?
Im Allgemeinen wird von einer hohen Dunkelziffer an Personen mit undiagnostiziertem Typ-2-Diabetes ausgegangen. Ein Teil davon sind von Ärzten „übersehene“ Fälle. Eine von der University ...