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Angststörungen und Depression

Rückblick: Diabetes und Psyche

Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist bekannt, dass Menschen mit Diabetes häufiger an bestimmten psychischen Erkrankungen leiden als Menschen ohne Diabetes.

Keypoints

  • Im Prinzip sollte jeder Diabetespatient auf Depression und Angststörung gescreent werden.

  • In jedem Fall ist ein Screening durchzuführen, wenn Gefühle des Versagens, übermäßige Sorgen, vordergründig mangelnde Therapieadhärenz, offensichtliche Freud- und Interesselosigkeit an den Dingen des Lebens, Adynamie, Schlafstörungen sowie Appetitstörungen vorliegen.

  • Bei Patienten, die primär an einer psychischen Erkrankung leiden, sollte nach Therapiebeginn mit Zweitgenerations- antipsychotika ein regelmäßiges Screening auf Diabetes mellitus erfolgen und das Körpergewicht monitiert werden.5

  • Es besteht Bedarf in der weiteren Betreuung der Patienten mit psychischer Komorbidität.

  • Auch in Österreich sollte eine umfassende psychosoziale Betreuung in die Diabetes-behandlung integriert werden und für alle Betroffenen einfach zugänglich gemacht werden.

Trotz intensiver Aufklärungskampagnen werden psychische Erkrankungen in der Bevölkerung zum Teil immer noch als Ausdruck von Schwäche der Persönlichkeit gesehen.1,2 Aus diesem verzerrten Bild resultiert ein ungünstiger Blickwinkel auf betroffene Menschen. Fremd- sowie Selbststigmatisierung sind eine häufige Folge. Erst in den letzten Jahren ist es gelungen, die Aufmerksamkeit der medizinischen Betreuungsteams und der Patienten auf diesen wichtigen Aspekt des Diabetes zu lenken.

Diabetes und Psyche – Rückblick auf Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten

Bis zum Jahr 1965 finden sich in der elektronischen Datenbank PubMed fünf Publikationen, die sich explizit mit Diabetes und Psyche, im Konkreten mit Diabetes und Depression beschäftigen. Die erste Publikation zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 1951. In den wenigen Publikationen aus diesen Jahren wird beschrieben, dass das Vorhandensein einer symptomatischen Neuropathie stark mit Depressionen und anderen psychischen Störungen bei Menschen mit Diabetes assoziiert ist. Außerdem wurde die Hypothese etabliert, dass bei einer Untergruppe von Diabetikern das psychische Wohlbefinden deutlich beeinträchtigt zu sein scheint, wobei die Behandlung der zugrunde liegenden Faktoren die allgemeine Therapieadhärenz deutlich verbessern kann.

Die Abfrage in PubMed zu „Diabetes und psychiatrische Störungen“ bis zum Jahr 2000 bringt bereits 4605 Publikationen. Ab der Jahrtausendwende tritt das Thema mehr und mehr in das Interesse der wissenschaftlichen Forschung und der endokrinologischen Praxis. Entsprechend finden sich im Zeitraum von 2000 bis 2022 über 27000 Publikationen, davon ca. 20000 zu dem Thema Depression und Diabetes.

Trotz herausragender Fortschritte in der somatischen Medizin und Entwicklung von hochwirksamen Medikamenten für die Therapie von Diabetes mellitus ist die Akzeptanz und die Umsetzung von Leitlinien- bzw. Expertenempfehlungen zu psychischen Komorbiditäten träge und bis dato nur teilweise gelungen.

Umsetzung und Integration in den Praxisalltag

Knapp vor der Jahrtausendwende, also um 2000, wurde erkannt, dass eine bidirektionale Assoziation zwischen Diabetes mellitus und psychischen Erkrankungen besteht. Gleichzeitig wurde aus Forschungsdaten resümiert, dass die Koinzidenz dieser beiden Erkrankungen aufgrund ungünstiger Auswirkungen auf die Lebensqualität und auf die Entwicklung von Folgeschäden des Diabetes die volle Aufmerksamkeit des medizinischen Betreuungsteams erfordert.

Wesentlich ist somit das frühzeitige Erkennen der psychischen Erkrankung anhand von typischen Symptomen. Viele Betroffene präsentieren jedoch vordergründig körperliche Symptome, die den Blick auf die Psyche verschleiern. Der alleinige Fokus auf körperlichen Symptomen, wie z.B. ständigen Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Bauchschmerzen, Müdigkeit und Adynamie etc., zieht zumeist langwierige und aufwendige somatische Untersuchungen nach sich. Daher ist der Einsatz einer simultanen psychischen und somatischen Diagnostik eine wichtige und sinnvolle Erweiterung im diagnostischen Prozedere bei Menschen mit Diabetes (Abb. 1).3,4

Abb. 1: Erfassen des „Krankseins“ von Patienten durch Simultandiagnostik und -therapie auf mehreren Ebenen (bio-psycho-soziales Modell) (modifiziert nach Engel GL et al. 1976 und Egger JW 2005)3,4

Da Depression und Angststörungen bei Diabetes mellitus häufig vorkommende psychische Komorbiditäten sind, möchte ich den Fokus der psychischen Diagnostik vorerst auf diese beiden Erkrankungen legen.

Simultandiagnostik bei welchen Patienten?

In mehreren Studien wurde gezeigt, dass Gefühle des Versagens und übermäßige Sorgen potenziell starke Indikatoren für das Vorliegen einer psychischen Komorbidität sind.5 Mangelhafte Therapieadhärenz oder völlige Ignoranz von Therapieempfehlungen, deutlich reduzierte Lebensenergie und Adynamie („Ich kann mich zu nichts aufraffen“) und eine bemerkenswerte Freud- und Interesselosigkeit sind ebenso charakteristisch. Auch Schlafstörungen, verminderter oder gesteigerter Appetit und anscheinende Gleichgültigkeit in Bezug auf den Verlauf des Diabetes sind weitere auffällige Hinweise für das Vorliegen einer psychischen Komorbidität.

Für die nähere Eingrenzung der psychischen Komponente können etablierte diagnostische Tools angewendet werden. Bei Verdacht auf Angststörungen sind folgende gezielte Fragen aus der S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen (Version 2, 2021) zu empfehlen:

  • Fühlen Sie sich nervös oder angespannt?

  • Machen Sie sich häufig über Dinge mehr Sorgen als andere Menschen?

  • Haben Sie das Gefühl, ständig besorgt zu sein und dies nicht unter Kontrolle zu haben?

  • Befürchten Sie oft, dass ein Unglück passieren könnte?

Bei Verdacht auf Depression hat sich der 2-Fragen-Test, der auch für die allgemeinmedizinischen Praxen aufbereitet wurde, bewährt:

  • Gab es in den letzten 4 Wochen eine Zeitspanne, während der Sie sich nahezu jeden Tag niedergeschlagen, traurig und hoffnungslos fühlten?

  • Gab es in den letzten 4 Wochen eine Zeitspanne, während der Sie das Interesse an Tätigkeiten verloren haben, die Ihnen sonst Freude machten?

Werden beide Fragen bejaht und wird ein durchgehender Zeitraum von mindestens zwei Wochen angegeben, sollte weiter untersucht werden, ob eine behandlungsbedürftige Depression vorliegt.6,7

Neue nationale und internationale Leitlinien und Positionspapiere zu dem Thema

Erst im 21. Jahrhundert wurden von verschiedenen internationalen Fachgesellschaften Empfehlungen zu dem Thema Psyche und Diabetes publiziert. Hier seien einige angeführt: Die Amerikanische Diabetesgesellschaft ADA hat mit der Publikation „Psychosocial care for people with diabetes: a position statement of the American Diabetes Association“ im Jahr 2016 ein deutliches Zeichen gesetzt und sich klar positioniert.8 Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat die bestehende Praxisempfehlung zu dem Thema Psychosoziales und Diabetes im Jahr 2021 überarbeitet. Die Publikation ist umfassend und beinhaltet viele wichtige Aspekte zu diesem Thema.9 In Österreich wurde im Rahmen der Publikation der Leitlinien der Österreichischen Diabetes Gesellschaft das Positionspapier „Psychische Erkrankungen und Diabetes mellitus“ (Mental disorders and diabetes mellitus) im Jahr 2012 publiziert, mit Updates jeweils 2019 und Ende 2022.7 Im Jahr 2018 wurde von der European Association of Diabetes ein Konsensusbericht zur Therapie von Diabetes mellitus Typ 2 unter dem Titel „Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD)“ publiziert. In diesem Konsensusbericht finden sich in einem Entscheidungszyklus für patientenzentriertes Glykämiemanagement bei Typ-2-Diabetes Faktoren, die zu berücksichtigen sind, wie emotionales Wohlbefinden und Vorliegen einer Depression. Damit ist zumindest der Versuch der Implementierung psychosozialer Aspekte in die Therapie erkennbar.10

Aktuelle epidemiologische Daten

Bei Menschen mit Diabetes mellitus kommen Depressionen doppelt so häufig vor wie in der nicht diabetischen Population. Jeder fünfte Mensch mit Diabetes leidet an einer depressiven Störung. Diese Prävalenzzahlen wurden jüngst in einer großen prospektiven Kohortenstudie bei Patienten mit Typ-2-Diabetes in der Madrider Diabetesstudie bestätigt. Depression war bei 20,03% der Patienten diagnostiziert.7,11 Auch Angststörungen treten bei diabetischen Patienten häufiger auf als in der nicht diabetischen Population, wobei für generalisierte Angststörungen und für Panikstörungen ausreichende Daten vorliegen.7 In einer aktuellen groß angelegten Studie („Treatment options for type-2-diabetes in adolescents and youth [TODAY2] study“) wurde die Prävalenz von psychischen Komorbiditäten, wie Depression und Essstörungen, sowie verringerter gesundheitsbezogener Lebensqualität („health- related quality of life“ HRQOL) bei jungen Erwachsenen mit Manifestation von Typ-2-Diabetes in der Jugend erhoben.12 Die Studienteilnehmer (n=5514) wurden über einen definierten Zeitraum von 6 Jahren beobachtet.12 Das Lebensalter lag bei 21,7 ± 2,5 Jahren und die Diabetesdauer bei 8,6 ± 1,5 Jahren. Depression und beeinträchtigte Lebensqualiät waren bereits zu Beginn der Studie bei einem erheblichen Anteil der Studienpopulation vorhanden und nahmen während der Beobachtungsdauer weiter zu – Depression von 14,0% auf 19,2% (p<0,003) und beeinträchtigte Lebensqualität von 13,1% auf 16,7%, (p<0,009).12 Symptome der Depression waren mit höheren HbA1c-Werten, höheren Blutdruckwerten im hypertensiven Bereich und mehr Progression der Retinopathie assoziiert.12 Verringerte HRQOL wies eine Assoziation mit höherem BMI, höherem systolischem Blutdruckwert und ebenso mit mehr Progression der Retinopathie auf.12 Die TODAY2-Studie zeigt, dass bereits bei jungen Menschen mit Typ-2-Diabetes psychische Beeinträchtigungen in Form von depressiven Symptomen und Essstörungen häufig sind und ungünstige Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Verlauf des Diabetes mellitus aufweisen.12 Mehrere systematische Übersichtsarbeiten haben die Prävalenz von Typ-2-Diabetes bei Menschen mit verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen, wie Schizophrenie, schwerer Depression, bipolarer Störung und posttraumatischer Belastungsstörung, untersucht.13 Die Ergebnisse zeigen, dass die Prävalenz von Diabetes in diesen Gruppen mit 13% im Median die in der Allgemeinbevölkerung übersteigt bzw. mehr als doppelt so hoch ist.13

Entwicklung neuer Psychopharmaka – „friend or foe“?

Die neue Vielfalt von hochwirksamen Psychopharmaka, die seit Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts verfügbar ist, erfordert einen genauen Blick auf die Nebenwirkungen. Besonders bei den Zweitgenerationsantipsychotika Olanzapin und Clozapin sowie in etwas geringerem Ausmaß bei Quetiapin und Risperidon zeigte sich ein erhöhtes Diabetesrisiko. Nach verbreiteter Anwendung von Olanzapin und Clozapin häuften sich vor ca. 20 Jahren Berichte von erhöhter Gewichtszunahme, vermehrtem Auftreten von Adipositas und Diabetes mellitus sowie Fettstoffwechselstörungen. Heute besteht der Konsens, dass bestimmte Antipsychotika das Risiko für Typ-2-Diabetes erhöhen, allerdings ist der genaue Mechanismus nicht gänzlich aufgeklärt. Bekannt ist mittlerweile, dass bestimmte Antipsychotika nicht nur das Körpergewicht erhöhen (Appetitsteigerung, vermehrte Nahrungszufuhr, Tagesmüdigkeit mit reduzierter Bewegung), sondern die Insulinsensitivität und auch die sekretorische Kapazität der Betazellen reduzieren, sie haben also einen direkten Effekt auf die Betazellen.14

Trotzdem sind diese Psychopharmaka durch ihre ausgezeichnete Wirksamkeit nicht mehr aus den psychiatrischen Behandlungskonzepten wegzudenken. Die frühe Initiierung von Metformin quasi alsKomedikation (Off-label-Einsatz), Aufklärung der Patienten und Motivation zu einem gesunden Lebensstil können die metabolischen Wirkungen der genannten Antipsychotika günstig beeinflussen.

Im Laufe der Zeit wurden auch neue Antidepressiva entwickelt. Bei Menschen mit Diabetes und Depression oder mit Angststörungen zeigen sich neben psychotherapeutischen Interventionen auch neue selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer effektiv in der Therapie und beeinflussen die glykämische Kontrolle positiv.

Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI) sind wegen des geringeren Risikos der Nebenwirkung sexuelle Dysfunktion möglicherweise die zu bevorzugenden Substanzen.15 Agomelatin weist ein besonders günstiges Nebenwirkungsprofil mit Gewichtsneutralität auf, Bupropion, ein Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, ist mit Gewichtsabnahme assoziiert, zeigt keine Nebenwirkungen auf die Sexualfunktion, hat jedoch ein gering erhöhtes, dosisabhängiges Risiko für zerebrale Krampfanfälle.16

Zusammenfassung

Insgesamt ist die Berücksichtigung und Implementierung psychischer Aspekte in der Diabetestherapie über die Jahrzehnte als positiv zu bewertet. Die besondere Problematik der Koinzidenz von Diabetes und psychischer Erkrankung wird bereits von vielen Ärzten wahrgenommen. Das Verstehen von psychiatrischen Krankheitsbildern ist wichtig, insbesondere die Tatsache, dass die Ausprägung der Symptome der psychischen Erkrankung den weiteren Verlauf der Stoffwechselerkrankung entscheidend mitbestimmt. In vielen Fällen bedeutet das, eine einfache Therapiestrategie zu etablieren, um akzeptable und an die Situation adaptierte Therapieziele zu erreichen, wie z.B. einen HbA1c-Wert <8%.

1 Buchmann-Wildbaum T et al.: Social rejection towards mentally ill people in Hungary between 2001 and 2015: Has there been any change? Psychiatry Res 2018; 267: 73-9 2 Schomerus G et al.: Evolution of public attitudes about mental illness: a systematic review and meta-analysis. Acta Psychiatr Scand 2012; 125(6): 440-52 3 Engel GL et al.: Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit: Ein Lehrbuch für Ärzte, Psychologen und Studenten. Berlin: Hogrefe AG. 1976 4 Egger JW: Das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Grundzüge eines wissenschaftlich begründeten ganzheitlichen Verständnisses von Krankheit. Psychol Med 2005; 16(2): 3-12 5 McInerney AM et al.: Diabetes distress, depressive symptoms, and anxiety symptoms in people with type 2 diabetes: A network analysis approach to understanding comorbidity. Diabetes Care 2022; (8): 1715-23 6 Whooley MA et al.: Case-finding instrument for depression. J Gen Intern Med 1997; 12: 439-45 7 Abrahamian H et al.: Mental disorders and diabetes mellitus. Update 2019. Wien Klin Wochenschr 2019; 131(1): 186-95 8 Young-Hyman D et al.: Psychosocial care for people with diabetes: a position statement of the American Diabetes Association. Diabetes Care 2016; 39: 2126-40 9 Kulzer B et al.: Psychosoziales und Diabetes. Diabetologie 2021; 16(2): 389-405 10 Davies MJ et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2018; 61(12): 2461-98 11 Salinero-Fort MA et al.: Prevalence of depression in patients with type 2 diabetes mellitus in Spain (the DIADEMA Study): results from the MADIABETES cohort. BMJ Open 2018; 8(9): ee020768 12 TODAY Study Group: Longitudinal association of depressive symptoms, binge eating, and quality of life with cardiovascular risk factors in young adults with youth-onset type 2 diabetes: the TODAY2 study. Diabetes Care 2022; 45(5): 1073-81 13 Ward M et al.: The epidemiology of diabetes in psychotic disorders. Lancet Psychiatry 2015; 2(5): 431-51 14 Holt RIG: Association between antipsychotic medication use and diabetes. Curr Diab Rep (2019); 19(10): 96 15 Abrahamian H et al.: Diabetes mellitus and co-morbid depression: treatment with milnacipran results in significant improvement of both diseases (results from the Austrian MDDM study group). Neuropsychiatr Dis Treat 2009; 5: 261-6 16 Cipriani A et al.: Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet 2018; 391: 1357-66

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