„Precision diabetes“: auf dem Weg zur personalisierten Diabetestherapie
Bericht:
Reno Barth
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Eine personalisierte Therapie soll die Erfolgebei Patient:innen mit Diabetes mellitus verbessern, was insbesonderebei monogenetischen Diabetesformen auch erreicht werden konnte. In bestimmten Populationen kann aber selbst die scheinbar einfache Differenzialdiagnose zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes herausfordernd sein.
Keypoints
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Mehr als 90% der Fälle von neonatalem Diabetes haben einen monogenetischen Hintergrund.
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Einige Formen von monogenetischem Diabetes können langfristig gut mit Sulfonylharnstoffen behandelt werden.
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MODY-Mutationen werden auch bei Personen gefunden, die keinen Diabetes entwickeln.
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Die Abgrenzung zwischen Typ-1 und Typ-2-Diabetes kann bei älteren Patient:innen herausfordernd sein.
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In Zukunft könnten genetische Scores bei schwierigen Diabetesdiagnosen herangezogen werden.
Unter dem Schlagwort „precision diabetes“ werden Strategien zusammengefasst, das Diabetesmanagement an die individuellen Patientenbedürfnisse anzupassen, so Prof. Dr. Andrew Hattersley von der University of Exeter. Dieses Vorgehen soll patientenzentriert und praktikabel sein. Für einen kleinen Teil der Diabetespopulation hat der personalisierte Ansatz bereits zu einer dramatischen Verbesserung ihrer Situation geführt. Dies sind Patient:innen, deren Diabetes auf eine monogenetische Ursache zurückgeführt und kausal behandelt werden kann. So stellte sich heraus, dass in 50% der Fälle neonataler Diabetes seine Ursache in einer Mutation in einem Gen hat, das für die Kir6.2-Subunit an ATP-sensitiven Kaliumkanälen codiert.1
Es gab die Überlegung, erläutert Hattersley, dass Sulfonylharnstoffe diesen Kanal schließen und damit die Insulinproduktion in Gang bringen könnten. In der Praxis funktionierte das noch besser als erwartet. Bei allen Patient:innen verbesserte sich die glykämische Kontrolle ohne erhöhtes Hypoglykämierisiko und 90% konnten ihr Insulin absetzen, was eine enorme Erleichterung für die betroffenen Familien bedeutete.2 Die glykämische Kontrolle bleibt langfristig erhalten und auch die mit diesem Zustandsbild nicht selten verbundene Entwicklungsverzögerung bessert sich, wobei die Hintergründe nicht verstanden werden, denn im Gehirn gibt es keine ATP-abhängigen Kaliumkanäle. Die University of Exeter stellte den ursprünglich patentierten Test der gesamten Welt kostenlos zur Verfügung.
Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass mehr als 90% der Fälle von neonatalem Diabetes einen monogenetischen Hintergrund haben, 43 Subtypen von neonatalem Diabetes sind bekannt. Die Störungen können die Entwicklung des Pankreas betreffen, die Funktion der Betazelle oder zur Zerstörung der Betazelle führen.2 Hattersley betont, dass diese Forschung wichtige Einsichten gebracht hat, deren Bedeutung über den neonatalen Diabetes hinausgeht. So habe sich gezeigt, dass die Entwicklung des Pankreas beim Menschen sich deutlich von jener bei der Maus unterscheidet und zum Teil völlig andere Gene involviert sind. Die Empfehlung, dass alle Kinder, die innerhalb von sechs Monaten nach der Geburt einen Diabetes entwickeln, genetisch im Hinblick auf alle 43 bekannten Risikomutationen getestet werden sollen, ist mittlerweile Standard. Daraus ergeben sich für einige Patient:innen konkrete Therapieempfehlungen.3
Polygenetisches Risiko entscheidet über MODY-Penetranz
Während so gut wie jeder neonatale Diabetes eine monogenetische Ursache hat, gibt es auch monogenetischen Diabetes mit späterem Auftreten. Dieser MODY („maturity-onset diabetes of the young“) tritt üblicherweise vor dem 25. Lebensjahr auf und erinnert klinisch an einen Typ-2-Diabetes. Mehrere Subtypen mit unterschiedlichem genetischem Hintergrund und unterschiedlicher Klinik sind bekannt. Auch im Ansprechen auf Therapien unterscheiden sich die MODY-Formen. Während die Mehrzahl entweder keine Therapie benötigt oder (unterschiedlich gut) mit Sulfonylharnstoffen behandelt werden kann, benötigen andere Typen eine Insulintherapie. Hier stelle sich allerdings das Problem, so Hattersley, dass im klinischen Alltag bei Weitem nicht alle MODY-Fälle erkannt werden. Trotz wachsenden Bewusstseins und vermehrter Test deuten Daten aus Großbritannien darauf hin, dass nach wie vor 50% der pädiatrischen und 75% der adulten Fälle nicht korrekt diagnostiziert sind. Nach wie vor dauere es mehr als drei Jahre, bis nach der Diabetesdiagnose die MODY-Diagnose folgt. Man dürfe sich dabei nicht auf die Klinik verlassen, betont Hattersley, sondern müsse alle infrage kommenden Gene durchtesten. Die Aufmerksamkeit auf einen möglichen MODY sollten untypische Diabetesmanifestationen wie ein komplett antikörpernegativer Typ1 oder ein Typ2 bei jungen, schlanken Menschen lenken. Treten zusätzlich renale Probleme oder Taubheit auf, sind das massive Hinweise auf eine monogenetische Ursache.
Umgekehrt wäre ein Screening der Gesamtbevölkerung weder machbar noch sinnvoll, da Studien zeigen, dass MODY-Mutationen auch bei Personen gefunden werden, die keinen Diabetes entwickeln. Es scheint, dass das polygenetische Risiko die Penetranz der MODY-Varianten beeinflusst (Abb. 1). Hattersley weist auf die Möglichkeit eines „double-dose diabetes“ hin, der mit der Kombination mehrerer genetischer Risikofaktoren assoziiert ist. Den präzisionsmedizinischen Ansatz auf die häufigeren Diabetesformen Typ 1 und Typ 2 anzuwenden, stellt die kommende Herausforderung dar. Daten aus Afrika legen nahe, dass die dort verbreiteten Diabetesformen nicht die gleichen sind wie in Europa. So ist in Afrika ein antikörpernegativer insulindefizienter Diabetes mit Typ-1-Symptomatik häufig. Doch auch in Europa sind Fehlklassifikationen von Typ-1/Typ-2-Diabetes keine Seltenheit. Häufig von Fehldiagnosen betroffen sind ältere, schlanke Patient:innen. Hattersley empfiehlt daher, bei Verdacht auf Typ-1-Diabetes immer auf Antikörper zu testen. Studiendaten zeigen, dass 67% der Patienten mit antikörpernegativem vermeintlichem Typ-1-Diabetes tatsächlich einen Typ-2-Diabetes oder einen MODY haben.
Abb. 1: Penetranz pathogener HNF1A-Varianten in unterschiedlichen Kohorten. Dargestellt ist der Anteil der Personen ohne Diabetes in Abhängigkeit vom Alter. Angehörige (orange) und Indexpersonen (rot) zeigen eine höhere Erkrankungswahrscheinlichkeit als die Allgemeinbevölkerung (blau), was auf genetische und Umweltfaktoren hinweist, die die Manifestation beeinflussen (nach Mirshahi & Patel, AJHG 2021; Leech & Patel, Nat Metab 2025)
Differenzialdiagnose bei älteren Patient:innen komplexer
Wie schwierig es sein kann, zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes zu differenzieren, erläutert Prof. Dr. Angus Jones von der University of Exeter am Beispiel einer 65-jährigen Patientin mit einem BMI von 23, einem HbA1c von 10,4%, symptomatischer Hyperglykämie, erhöhten Ketonen, aber keiner Ketoazidose. Die Klassifizierung dieses Diabetes sei nicht nur herausfordernd, so Jones, sondern auch wichtig, da die Unterschiede zwischen Typ1 und Typ2 entscheidenden Einfluss auf die Therapie haben. Während bei Typ1 ein absoluter Insulinmangel herrscht, besteht bei Typ2 relativer Insulinmangel. Die Insulinproduktion nehme zwar ab, gehe jedoch praktisch nie gegen null. Ein für das klinische Management entscheidender Unterschied liegt in der Variabilität der Glukose, die bei Typ1 extrem hoch ist, bei Typ2 hingegen relativ gering.
Allerdings zeigen Studiendaten, dass sich der Body-Mass-Index nur unzureichend für die Differenzierung von Typ-1- und Typ-2-Diabetes unterscheidet. Im Gegensatz dazu hat sich das Alter in sieben von neun Studien als diesbezüglich aussagekräftig erwiesen. Unter den neudiagnostizierten 50-Jährigen haben nur noch 1,4% einen T1D.4 Die noch nicht publizierte STARTRIGHT-Studie erhob bei neudiagnostizierten Patient:innen eine ganze Reihe von Werten und Parametern und setzte sie mit einer Beobachtungsdauer von vier Jahren mit der endgültigen Diagnose in Beziehung. Als beste Prädiktoren für einen T1D erwiesen sich dabei unbeabsichtigter Gewichtsverlust, ein BMI unter 25kg/m2 sowie ein extrem hohes HbA1c bei Vorstellung, so Jones. Diabetische Ketoazidose erwies sich als sehr spezifisch, wenn auch nicht sensitiv für T1D.
Auch auf Antikörper kann man sich nicht immer verlassen
Allerdings macht die sehr geringe Wahrscheinlichkeit einer T1D-Diagnose bei einer 65-jährigen Person die Klassifikation schwierig, da kein einziges Feature einen ausreichend hohen Prädiktionswert hat. Jones: „Selbst wenn mehrere Faktoren für einen T1D sprechen, ist in dieser Altersgruppe die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um T2D handelt, immer noch hoch.“ Dies führt zu Fehldiagnosen in beide Richtungen. So wird in der Altersgruppe 30 plus fast bei der Hälfte der Betroffenen T1D fälschlich als T2D diagnostiziert. Die Folge ist suboptimales Management. Jones: „Diese Leute bekommen kein CGM und keine Pumpen.“
Biomarker verbessern die Qualität der Diagnose, schaffen jedoch auch keine 100%ige Klarheit. So eignen sich Autoantikörper gut als Prädiktoren der zukünftigen Entwicklung, sagen jedoch wenig über die aktuellen Therapiebedürfnisse aus. Im Gegensatz dazu ist C-Peptid bei Diagnosestellung nur eingeschränkt als Prädiktor der weiteren Entwicklung brauchbar, eignet sich jedoch gut für die Abschätzung der aktuellen Situation. Auch auf die Inselantikörper ist bei älteren Patient:innen kein Verlass. Negative Antikörper schließen einen T1D nicht sicher aus, positive Antikörper sprechen zwar deutlich für einen Autoimmundiabetes, können aber angesichts der hohen Prävalenz von T2D in dieser Population die Diagnose nicht sicher bestätigen. Darüber hinaus darf auch nicht auf die Möglichkeit falsch positiver Tests vergessen werden. Mit den gängigen Assays werden bei bis zu fünf Prozent gesunder Kontrollen Autoantikörper gefunden, so Jones.
In Zukunft könnten Scores des genetischen Risikos herangezogen werden, um in Zweifelsfällen zwischen T1D und T2D zu differenzieren. So stellt sich ein vermeintlicher antikörpernegativer T1D häufig als T2D heraus, wenn das genetische Risiko für T2D spricht. Bei genetischem Risiko für T1D handelt es sich hingegen in der Regel tatsächlich um einen T1D, auch wenn die Autoantikörper fehlen.
Quelle:
EASD 2025, „57th Claude Bernard Lecture“, 16. September 2025,Wien
Literatur:
1 Gloyn AL et al.: Activating mutations in the gene encoding the ATP-sensitive potassium-channel subunit Kir6.2 and permanent neonatal diabetes. N Engl J Med 2004; 350(18): 1838-49 2 Pearson ER et al.: Switching from insulin to oral sulfonylureas in patients with diabetes due to Kir6.2 mutations. N Engl J Med 2006; 355(5): 467-77 3 De Franco E et al.: The effect of early, comprehensive genomic testing on clinical care in neonatal diabetes: an international cohort study. Lancet 2015; 386(9997): 957-63 4 Shields BM et al. Can clinical features be used to differentiate type 1 from type 2 diabetes? A systematic review of the literature. BMJ Open 2015; 5(11): e009088
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