
«Das kann ja Eiter werden ...»: das ungelöste Problem des diabetischen Fusssyndroms
Autorin:
Dr. med. Barbara Felix
Medizinische Universitätsklinik
Kantonsspital Baselland
Standort Bruderholz
4101 Bruderholz
E-Mail: barbara.felix@ksbl.ch
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Die Lebenserwartung von Patienten mit Typ-2-Diabetes ist in den letzten Jahren dank der laufenden Verbesserung der Therapiemöglichkeiten, insbesondere was die makrovaskulären Komplikationen betrifft, deutlich höher geworden. Die längeren Krankheitsverläufe bringen jedoch auch das Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen mit sich. Das diabetische Fusssyndrom ist eine der häufigsten und komplexesten dieser Komplikationen, und seine Behandlung stellt nach wie vor eine Herausforderung dar.
Keypoints
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Prävalenz und Inzidenz des diabetischen Fusses nehmen weltweit zu.
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Die komplexe Pathogenese erfordert multidisziplinäre Teamarbeit.
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Die Heilungs- und Amputationsraten sind seit vielen Jahren unverändert schlecht, trotz enormer Kosten.
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Die wissenschaftliche Evidenz in Bezug auf Prävention und Therapie ist lückenhaft.
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Hohe Rezidivraten stellen grosse Anforderungen an die Sekundärprävention, die als fester Bestandteil des Wundmanagements gelten muss.
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Den grössten Erfolg haben wir beim Ulkus, das gar nicht entsteht!
Epidemiologie
Die Zahl der Diabetespatienten steigt weltweit und auch in der Schweiz an. Hauptursache sind Lebensstilveränderungen wie Bewegungsmangel und Überernährung. Die steigenden Prävalenzzahlen in den westlichen Industrienationen sind auch das Resultat einer Erfolgsgeschichte. Der Lebenszeitverlust, welcher für einen Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 noch vor einer Generation etwa 15 Lebensjahre betragen hat, hat sich deutlich verringert. Durch die Fortschritte, vor allem in der Behandlung der makrovaskulären Komplikationen, gleicht sich die Lebenserwartung von gut eingestellten Diabetespatienten derjenigen der Normalbevölkerung immer weiter an. Dies führt jedoch auch dazu, dass durch die langen Krankheitsverläufe das Risiko, eine mikrovaskuläre Komplikation zu erleiden, deutlich angestiegen ist. Hier ist leider der Fortschritt noch deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Dies trifft insbesondere auf die diabetische Nephropathie und das diabetische Fusssyndrom (DFS) zu. Diese mikrovaskulären Komplikationen sind direkt abhängig von der Qualität der Blutzuckereinstellung und der Krankheitsdauer.
Auch wenn wir heute durch verbesserte Therapiemassnahmen gesamthaft eine Qualitätsverbesserung bei der Diabeteskontrolle feststellen können, bleibt das Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen durch die Verlängerung der Lebenszeit und damit der Krankheitsdauer hoch.
Etwa 15–30% alle Diabetespatienten entwickeln im Verlauf ihrer Erkrankung ein diabetisches Fussulkus. Leider ist trotz unzweifelhafter Fortschritte in der Wundbehandlung bei etwa 30% der Patienten eine Amputation notwendig, und die Amputationszahlen steigen in der Schweiz, wie auch weltweit, weiterhin an. Auch wenn die Zahl der Major-Amputationen oberhalb des Sprunggelenkes stabil geblieben ist, sind auch die kleineren Amputationen im Fussbereich ein erheblicher Eingriff für die Patienten und häufig der Beginn einer Reihe von wiederholten Nachamputationen, da die Rezidivraten bei Fussulzera hoch sind (Abb. 1). Innerhalb der ersten 3 Jahre nach der ersten Amputation kommt es bei bis zu 50% der Patienten zu einer erneuten weiteren Amputation. Das DFS ist die teuerste mikrovaskuläre Komplikation der Diabeteserkrankung.
Abb. 1: Hohe Inzidenz von Ulkusrezidiven: Ein Ulkus ist nie geheilt, sondern immer nur in Remission (adaptiert nach Armstrong et al.: N Engl J Med 2017; 376: 2367-75)
Fehlende Evidenz, fehlende Standardtherapie
Für die Therapie des diabetischen Fusssyndroms sowie die Primär- und Sekundärprävention ist die Evidenzlage sehr mangelhaft. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen gibt es keine klare Kompetenzregelung, wer die Therapieführung beim DFS übernimmt. Dies geschieht häufig nach persönlichen Vorlieben oder zufälliger Zuteilung, sodass Patienten mit DFS einmal in der Dermatologie, ein anderes Mal in der Orthopädie oder Gefässchirurgie oder auch in der Endokrinologie betreut werden. Die therapeutischen Ansätze sind in den verschiedenen Fachbereichen verständlicherweise je nach den persönlichen Kompetenzen sehr unterschiedlich. Zum anderen handelt es sich bei den Patienten mit DFS um eine sehr heterogene Population mit sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, wie z.B. Krankheitsdauer, Qualität der Blutzuckereinstellung, Ausmass der PAVK, Begleiterkrankungen etc. Wenn es uns aber nicht gelingt, einen auf Evidenz beruhenden Behandlungspfad zu schaffen, entscheidet v.a. der Zufall, in wessen Hände der Patient seinen Fuss legt. Seit Langem kennen wir deutliche Unterschiede in den Outcome-Daten zwischen einzelnen Zentren in Europa und, trotz sehr lückenhafter Daten, bei den Amputationszahlen in den verschiedenen Schweizer Kantonen. Diese Zahlen sind unter anderem aufgrund der oben erwähnten Schwierigkeiten jedoch nur mit grossen Einschränkungen zu interpretieren. Unter diesen Bedingungen grosse randomisierte Studien durchzuführen, ist sicher schwierig. Auch deshalb, weil die Heilungsverläufe eine lange Beobachtungsdauer erfordern und das Interesse vonseiten der Industrie gering ist, solange für die Zulassung von Wundauflagen eine nachgewiesene Wirksamkeit nicht verpflichtend ist. Auch in der Schweiz ist in den letzten Jahren eine Vielzahl von Wundauflagen zur Behandlung des DFS auf den Markt gekommen, für welche bei unzweifelhaft verbesserter Benutzerfreundlichkeit nur in wenigen Fällen der Nachweis einer deutlichen Überlegenheit gegenüber der Standardtherapie bei der Wundheilung erbracht wurde (Abb. 2).
Abb. 2: TLC-Sucrose-Octasulfat-Wundauflage (UrgoStart plus) versus Wundauflage ohne aktive Substanz (Explorer-Studie): plus 60 % Patienten mit abgeheilten Fussulzera und Wundheilung 60 Tage früher (120 vs. 180 Tage) in der Verumgruppe (nach Edmonds M et al.: Lancet Diabetes Endocrinol 2018; 6: 186-96)
Mikroangiopathie und Neuropathie
Bekanntermassen führen die diabetische Mikroangiopathie und im Gefolge die diabetische Neuropathie zur Entstehung eines DFS. Aufgrund der fehlenden Schmerzempfindung gehen die Patienten mit einem Fussulkus oft lange nicht zum Arzt. In der Regel vergehen 4–6 Wochen, bis die Wunde zum ersten Mal einem Arzt (meistens dem Hausarzt) präsentiert wird. Bis der Patient dann weiter an eine Spezialambulanz, falls eine solche in Reichweite ist, überwiesen wird, vergehen erneut mehrere Wochen und damit wertvolle Zeit, in der das Ulkus sich vergrössert und die Heilungschancen sinken. Häufig wird die Dringlichkeit der Situation weder vom Patienten noch vom erstbetreuenden Arzt richtig eingeschätzt und die Situation nicht als Notfall eingestuft, was aufgrund der bekannten Konsequenzen aber unbedingt der Fall sein muss (Abb. 3).
Abb. 3: Verzögerte Vorstellung der Patienten mit diabetischem Fussulkus in der hausärztlichen Praxis. Bei weniger als der Hälfte der Patienten dauert es vom Auftreten des Ulkus bis zum ersten Arztkontakt weniger als drei Wochen (Manu C et al.: J Wound Care 2018; 273: 186-92)
Die Neuropathie ist nicht nur der Hauptgrund für die Entstehung des Ulkus, sondern trägt durch die Störung des Wundheilungsprozesses zusätzlich erheblich zu einem verzögerten Verlauf bei. Die Wundheilung ist ein perfekt abgestimmter Prozess von Zellmigration, Proliferation und Matrixbildung, der jedoch sehr störungsanfällig ist.
Auch die Druckentlastung des Ulkus – ein unabdingbarer Prozess für die Wundheilung – wird durch die vorhandene Neuropathie erschwert. Wegen der fehlenden Sensibilität muss sich die Druckentlastung allein auf externe Druckmessungen durch die Orthopädietechnik stützen. Die Druckmessungen müssen unbedingt dynamisch durchgeführt werden und erfordern ein grosses Mass an Expertise und technischer Grundausrüstung.
Ein mindestens ebenso grosses Problem ist es, einem schmerzunempfindlichen Patienten die Notwendigkeit einer dauerhaften Druckentlastung verständlich zu machen. Gemäss aktueller Studien wird die Druckentlastung, sei es durch Schuhe, sei es durch Orthesen, in der Regel nur während 30% der notwendigen Zeit getragen. Leider gibt es nur sehr wenige aussagekräftige Studien zur Druckentlastung, einzig für die Gipsbehandlung existieren belastbare Daten. Diese muss daher im Moment als Goldstandard angesehen werden. Leider ist sie nicht überall verfügbar und erfordert sowohl aufseiten des betreuenden Arztes als auch des ausführenden Technikers ein hohes Mass an Erfahrung, unter anderem auch wegen der zugrunde liegenden Neuropathie, welche eine Mitbeurteilung durch den Patienten verunmöglicht.
Prävention
Leider fehlen nicht nur aussagekräftige Daten zur Wundbehandlung, sondern auch zur Primär- und Sekundärprävention. Bei den weiterhin schlechten Outcome-Daten zum DFS scheint es offensichtlich, dass unser Hauptaugenmerk auf die Prävention und Schulung des Patienten gerichtet werden muss. Hier könnten wir aktuell sicher den grössten Erfolg erzielen. Die besten Resultate hat das Ulkus, das gar nicht erst entsteht. Hier sind auch wir Ärzte gefordert, mindestens einmal pro Jahr eine Fussuntersuchung durchzuführen und bei Risikopatienten mit Polyneuropathie bei jeder Konsultation die Füsse zu inspizieren. Leider ist es bis heute nicht gelungen, die podologische Fusspflege in der Grundversicherung zu verankern. Hier wäre vermutlich der grösste präventive Nutzen zu erreichen.
Wegen der hohen Rezidivrate des DFS muss die Sekundärprävention Teil des Therapieplans sein. Ein diabetisches Ulkus ist nie geheilt, sondern immer nur in Remission. 50% der diabetischen Fussulzera rezidivieren innerhalb der ersten 3 Jahre.
Fazit
Solange wir keine wirksame Therapiemöglichkeit für die Mikroangiopathie und die Neuropathie haben, muss unser Hauptaugenmerk auf der Primär- und Sekundärprävention des DFS liegen (Tab.1). Die regelmässige Fussinspektion durch den betreuenden Arzt ist das wirkungsvollste Instrument, um die weiterhin geringen Heilungsraten zu verbessern und die hohe Anzahl der Amputationen auch bei uns in der Schweiz zu reduzieren. Daneben ist die regelmässige Schulung des Patienten zur Selbstkontrolle vom Zeitpunkt der Diagnosestellung an eines der unverzichtbaren Instrumente zur Verhinderung dieser schwerwiegenden Komplikationen, die erhebliche Einbussen in der Lebensqualität für die betroffenen Patienten und eine hohe finanzielle Belastung für das Gesundheitssystem mit sich bringt.
Tab. 1: Identifikation von Risikopatienten (gemäss Arbeitsgruppe Disease Management Diabetes der SGEG 2014)
Literatur:
bei der Verfasserin
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