
Bildung als Schlüssel: Adipositasrisiko senken auch bei genetischer Veranlagung
Autor:
Dr. Julian Eberhardt
Universitätsklinik für Innere Medizin I
mit Gastroenterologie-Hepatologie, Nephrologie, Diabetologie & Stoffwechselerkrankungen
Uniklinikum Salzburg
E-Mail: ju.eberhardt@salk.at
Die Paracelsus-10.000-Studie belegt: Menschen mit höherem Bildungsniveau leiden deutlich seltener an Adipositas, und das unabhängig von ihrer genetischen Veranlagung. Ergebnisse zeigen, dass sozioökonomische Faktoren eigenständige Prädiktoren für Adipositas sind, die auch dann bestehen bleiben, wenn genetische Risikofaktoren mitberücksichtigt werden.
Keypoints
-
Niedrigeres Bildungsniveau ist signifikant mit einem höheren Risiko für Adipositas assoziiert.
-
Genetische Veranlagung hat einen starken Einfluss, aber das Bildungsniveau wirkt unabhängig davon.
-
Bildung als Proxy für sozioökonomischen Status eignet sich für die Identifikation von Gruppen mit sozioökonomisch bedingtem höherem Risiko in der klinischen Prävention.
Sozioökonomie trifft Genetik
Die weltweite Prävalenz von Adipositas nimmt seit Jahrzehnten kontinuierlich zu – sowohl in Schwellenländern als auch in hochentwickelten Industrienationen. Inzwischen gilt sie als einer der bedeutendsten Risikofaktoren für die Entwicklung chronischer Erkrankungen wie kardiovaskulärer Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, bestimmter Krebsarten, muskuloskelettaler Einschränkungen und psychischer Erkrankungen wie Depressionen.1–3
Diese Entwicklung hat tiefgreifende medizinische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Konsequenzen. Die Ursachen von Adipositas sind vielfältig und komplex – sie umfassen genetische, verhaltensbezogene, psychologische sowie soziale und umweltbedingte Komponenten. Während früher primär individuelle Lebensstilfaktoren im Fokus standen, zeigt sich zunehmend, dass auch genetische Prädispositionen sowie soziale Determinanten entscheidend zur Entstehung von Übergewicht und Adipositas beitragen.
Adipositas kann sich in unterschiedlichen Formen manifestieren. Monogene Formen – inklusive syndromaler Adipositas – sind selten, meist schwerwiegend und durch Mutationen in einzelnen Genen verursacht. Diese Formen treten häufig bereits im Kindesalter auf und sind oft mit endokrinen oder neurologischen Begleiterkrankungen assoziiert, wie etwa bei Leptinrezeptor(LEP-R)- oder Melanocortin-4-Rezeptor(MC4R)-Mutationen oder im Rahmen des Prader-Willi-Syndroms.
Die häufigere sogenannte polygene Adipositas hingegen entsteht durch das Zusammenspiel vieler genetischer Varianten mit jeweils geringer Effektstärke. Zwillings- und Familienstudien schätzen die Erblichkeit des BMI auf etwa 47–90% – ein deutlicher Hinweis auf den relevanten Einfluss genetischer Faktoren.4 „Genome-wide association studies“ (GWAS) haben in den letzten Jahren zahlreiche genetische Loci identifiziert, die mit dem BMI assoziiert sind. Diese Erkenntnisse münden in der Entwicklung sogenannter „polygenic risk scores“ (PRS), die es erlauben, das genetische Risiko für Adipositas individuell abzuschätzen.
Gleichzeitig ist gut dokumentiert, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und Adipositas haben. Dies wird häufig auf ungünstige Lebensbedingungen, schlechtere Ernährung, eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten oder eine höhere Belastung durch Umweltfaktoren zurückgeführt. Auch psychosoziale Belastungen und ein geringes Gesundheitsbewusstsein könnten zur Entstehung beitragen.5,6
Ziel der hier vorgestellten Studie war es, den Zusammenhang zwischen Bildung – als Proxy für sozioökonomischen Status – und Adipositas in einer mitteleuropäischen Kohorte zu analysieren und dabei gleichzeitig genetische Risikofaktoren zu berücksichtigen. Im Fokus stand die Frage, ob sich ein unabhängiger Einfluss des Bildungsniveaus auf die Adipositasprävalenz nachweisen lässt – auch unter Berücksichtigung des genetischen Risikoprofils.
Paracelsus-10.000-Studie als Basis der Daten
Praxistipp
Bei der Beratung von Menschen mit Adipositas sollte der Bildungsgrad bewusst in die Gesprächsführung mit einbezogen werden. Passen Sie Ihre Empfehlungen individuell an und berücksichtigen Sie dabei das Gesundheitsverständnis, die Art der Informationsverarbeitung und die soziale Lebensrealität der Betroffenen. Im Sinne eines „Health in all policies“-Ansatzes sind wir Ärzt:innen zudem gefordert, intersektoral zu handeln. Das bedeutet, so viel wie möglich über das Sprechzimmer hinaus bildungspolitische und soziale Maßnahmen in Gang zu setzen, die strukturell und langfristig zur Prävention von Adipositas beitragen können – etwa durch Kooperationen mit Schulen, Gemeinden und politischen Entscheidungstragenden.Die Paracelsus-10.000-Studie ist eine populationsbasierte Kohortenstudie mit 10044 Teilnehmenden aus Stadt und Land Salzburg im Alter zwischen 40 und 77 Jahren. Für die vorliegende Analyse wurden 9319 Personen mit vollständigen Daten zum Body-Mass-Index (BMI), Bildungsstand, Einkommen, Raucherstatus und Alkoholkonsum einbezogen. In einer Untergruppe (n=1926) lagen zusätzlich genetische Daten vor, auf deren Basis ein PRS (nach Khera AV et al. 2019)für Adipositas (BMI≥30kg/m2) berechnet wurde. Der Score beruht auf der Aggregation zahlreicher genetischer Varianten, die jeweils mit kleinen Effekten zur BMI-Variation beitragen. Daraus ergibt sich ein individueller Wert, der das genetisch bedingte Risiko für Adipositas widerspiegelt.
Das Bildungsniveau wurde gemäß der „International Standard Classification of Education“ (ISCED) in drei Gruppen eingeteilt: niedrig (Pflichtschule), mittel (Matura oder abgeschlossene Berufsausbildung) und hoch (Hochschul- oder Universitätsabschluss). Die Adipositas wurde entsprechend der WHO-Definition als BMI ≥30kg/m2 klassifiziert.
Zur Analyse wurde neben der deskriptiven Auswertung in Prozent eine Poisson-Regression mit robusten Standardfehlern eingesetzt, um den Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Adipositas zu untersuchen. Die Modelle wurden schrittweise für Alter, Geschlecht, Raucherstatus, Alkoholkonsum und Einkommen adjustiert. In der genetischen Subgruppe wurde zusätzlich der PRS berücksichtigt.
Deutlicher Unterschied
Insgesamt wiesen 18,8% der untersuchten Personen eine Adipositas auf. Die Prävalenz war in der Gruppe mit niedrigerem Bildungsniveau mit 30,1% deutlich höher als in den Gruppen mit mittlerem (19,8%) oder hohem Bildungsniveau (12,1%; Abb. 1). Auch nach Adjustierung für Alter, Geschlecht, Lebensstilfaktoren und Einkommen blieb der inverse Zusammenhang zwischen Bildung und Adipositas signifikant: Personen mit hohem Bildungsniveau hatten ein um 56% geringeres Risiko für Adipositas (IRR: 0,44; 95% CI: 0,37–0,54; p<0,001) im Vergleich zur Referenzgruppe mit niedrigerem Bildungsniveau.
In der genetischen Subgruppe zeigte sich erwartungsgemäß ein starker Zusammenhang zwischen dem PRS und Adipositas (IRR: 16,2; 95% CI: 9,68–27,26; p<0,001). Dennoch blieb der Bildungsstatus auch nach Adjustierung für den PRS signifikant mit der Adipositasprävalenz assoziiert: Personen mit mittlerem Bildungsniveau zeigten ein signifikant geringeres Risiko im Vergleich zur Referenzgruppe mit niedrigem Bildungsniveau (IRR: 0,75; 95% CI: 0,58–0,97; p=0,027).Bei hohem Bildungsniveau war der Zusammenhang noch deutlicher (IRR: 0,41; 95% CI: 0,29–0,58; p<0,001).
Bildung als Hebel für Prävention
Unsere Ergebnisse zeigen, dass Bildung einen unabhängigen Einfluss auf das Adipositasrisiko ausübt – selbst bei Personen mit genetisch erhöhtem Risiko. Mögliche Erklärungen liegen in einem besseren Gesundheitsverhalten, höherer Gesundheitskompetenz und besseren Lebensbedingungen bei höherem Bildungsniveau.
Die Tatsache, dass Einkommen keinen signifikanten Einfluss hatte, während Bildung stark assoziiert war, unterstreicht die Bedeutung der schulischen Ausbildung als langfristiger und stabiler SES-Marker. Bildung wirkt über viele Dimensionen hinweg – sie beeinflusst Berufschancen, Zugang zu Informationen, Selbstwirksamkeit und einmal mehr den Umgang mit Gesundheitsangeboten.7
Literatur:
1 Lin X, Li H: Obesity: epidemiology, pathophysiology, and therapeutics. Fron Endocrinol 2021; 12: 706978 2 Ludwig DS: Epidemic childhood obesity: Not yet the end of the beginning. Pediatrics 2018; 141(3): e20174078 3 Bhurosy T, Jeewon R: Overweight and obesity epidemic in developing countries: a problem with diet, physical activity, or socioeconomic status? Scientific World Journal 2014; 964236 4 Elks CE et al.: Variability in the heritability of body mass index: a systematic review and meta-regression. Frontiers Endocrinol 2012; 3: 29 5 Hruby A, Hu FB: The epidemiology of obesity: a big picture. Pharmacoeconomics 2015; 33(7): 679-89 6 Adler NE, Newman K: Socioeconomic disparities in health: pathways and policies. Health Aff (Millwood) 2002; 21(2): 60-76 7 Fjaer EL et al.: Exploring the differences in general practitioner and health care specialist utilization according to education, occupation, income and social networks across Europe: findings from the European social survey (2014) special module on the social determinants of health. Eur J Public Health 2017; 27(1): 73-81
Weitere Literatur beim Verfasser
Das könnte Sie auch interessieren:
Diabetes erhöht das Sturzrisiko deutlich
Eine dänische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Patienten mit Typ-1- als auch Patienten mit Typ-2-Diabetes öfter stürzen und häufiger Frakturen erleiden als Menschen aus einer ...
Neue Studiendaten zu Typ-2-Diabetes und Lebensstil
Dass gesunde Ernährung und Bewegung das Diabetesrisiko sowie verschiedene Risiken von Patienten mit Diabetes senken, ist seit Langem bekannt. Und das Detailwissen zur Bedeutung von ...
Wie oft wird Diabetes nicht oder spät erkannt?
Im Allgemeinen wird von einer hohen Dunkelziffer an Personen mit undiagnostiziertem Typ-2-Diabetes ausgegangen. Ein Teil davon sind von Ärzten „übersehene“ Fälle. Eine von der University ...