Im Gespräch mit Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi

Ausblicke der Diabetes Gesellschaft

Univ.-Prof. Martin Clodi, Präsident der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) und Abteilungsvorstand der Inneren Medizin des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder Linz, fasste in einem Ausblick die zukünftigen Herausforderungen der ÖDG zusammen. Was hat sich in der ÖDG verändert? Was erwartet sie durch die weltweit steil ansteigende Diabetesprävalenz? Welche Ziele gibt es in der Patientenversorgung und welchen Stellenwert haben österreichische Leitlinien und fächerübergreifende Kooperationen?

Herr Prof. Clodi, Sie sind Präsident der ÖDG, waren 2008 und 2009 auch schon Sekretär und wiederholt Mitglied des Vorstandes. Wie haben sich in dieser Zeit die Rolle und das Selbstverständnis der ÖDG verändert?

M. Clodi: Das Selbstverständnis oder die Entwicklung der ÖDG haben sich insofern dramatisch geändert, als wir in den letzten 15 bis 20 Jahren die Entwicklung der sozialen Medien miterleben durften. Dadurch haben sich das gesamte Umfeld und die Kernaufgaben der ÖDG geändert. Konkret: die klinische Forschung weiterzubringen, das Wissen – evidenzbasiert und nicht evidenzbasiert – den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in Form von Kongressen und Journalbeiträgen näherzubringen und die Wissenschaft zu fördern. Das bezeichnen wir als Basis der ÖDG. Die ÖDG hat sich insofern entwickelt, als wir heute versuchen, die Awareness für Menschen mit Diabetes mehr ans Licht zu bringen. Wir machen bekannt: Was passiert bei der Erkrankung Diabetes mellitus? Welche Folgen hat die Erkrankung? Was kann man tun gegen Diabetes? Einerseits können wir den betroffenen Patientinnen und Patienten enorm helfen und andererseits damit versuchen, Strukturen anzustoßen, und zwar in Richtung Politik und weiterer Stakeholder, wie die Österreichische Gesundheitskasse, Landesregierungen, Patientenanwälte und Diabetesselbsthilfegruppen. Vonseiten der ÖDG versuchen wir, in ein breites Spektrum einzutauchen, um die Erkrankung sichtbar zu machen. Gerade bei Betroffenen heißt es oft: „Ich habe ein bisschen Diabetes.“ Oder: „Wenn ich ein bisschen Gewicht abnehme, dann wird alles besser.“

Die Hauptaufgaben der ÖDG liegen heute darin, neben Klinik, Wissenschaft und Forschung voranzutreiben die Awareness zu stärken und die Erkrankung Diabetes mellitus dem gesamten Gesundheitssystem und der Bevölkerung bewusster zu machen. Das sind Punkte, die auch in Zukunft ganz wesentlich sein werden.

Die Prävalenz hat in den letzten Jahren zugenommen und sie wird nach den Prognosen noch einmal deutlich zunehmen, in Österreich, aber auch weltweit. Mehr als jeder 10. Mensch wird an Diabetes erkrankt sein. Was verändert das in einer Fachgesellschaft?

M. Clodi: Ich glaube, die Fachgesellschaft wird umso wichtiger und dadurch die Aufgaben, die ich vorhin erwähnt habe. Wenn man sieht, dass die Prävalenz aufgrund der demografischen Entwicklung, das heißt aufgrund der Überalterung, des Bewegungsmangels und des Übergewichts, enorm zunimmt, ist es so, dass es eine sehr breite Masse an Betroffenen und Patienten gibt und geben wird. Neue amerikanische Daten zeigen, dass jeder Dritte über 65 und jeder Fünfte über 45 in Amerika von Diabetes betroffen ist. Das sind gewaltige Zahlen. Überall dort, wo es eine breite Masse an Patienten gibt, müssen sehr viele Berufsgruppen daran arbeiten, um dieser Diabetesentwickung Einhalt zu gebieten und ihr eine gute Basis zu geben. Es sind die Gesundheitskassen betroffen, Krankenhäuser,Apotheken, Beitragszahler und Patienten. Wir als ÖDG versuchen, mit allen Stakeholdern zu sprechen und weiterhin bestmöglich Patienten den Zugang zu ihrer Erkrankung zu erhalten. Denn gerade bei Diabetes ist der Patient sein eigener Therapeut. Wenn dies nicht ausreicht, dann müssen wir mit Medikamenten helfen, die Einstellung zu optimieren.

Hier ist es die Aufgabe der ÖDG, Leitlinien zu übernehmen und zu produzieren, auf Stakeholder zuzugehen und Erstattungsmöglichkeiten zu schaffen. Und – ganz wesentlich – die Struktur der Versorgung muss aufrechterhalten werden. Wir haben seit vielen Jahren den Plan, eine Basis durch Primärversorgungseinheiten mit niedergelassenen Ärzten und mit Krankenhausambulanzen für Patienten zu schaffen. Hier fehlt momentan eine Säule mit spezialisierten Diabetesambulanzen, ein Projekt, an dem wir momentan arbeiten, um die Versorgung gewährleisten zu können.

Einerseits sagen Sie, die Erkrankung wird bedeutsamer, da immer mehr Menschen betroffen sind, andererseits gibt es – wenn es um die Ressourcenverteilung in Krankenhäusern geht – einen Wettbewerb um Ausbildungsplätze, in dem im Moment die interventionellen Fächer die Oberhand zu haben scheinen. Das wirkt paradox. Was kann eine Fachgesellschaft dagegen tun und wie geht diese Entwicklung weiter?

M. Clodi: Ich arbeite bei den Barmherzigen Brüdern in Linz, wo es eine große, breit gefächerte interne Abteilung gibt, was in vielen Krankenhäusern der sog. Peripherie der Fall ist. Es sind meiner Ansicht nach nur die großen Universitätskliniken, die sehr diversifizieren. Alle anderen Krankenhäuser müssen sowohl Diabetes, Herzinsuffizienz als auch den onkologischen Bereich im großen Maße und Stil mitabdecken. Das Ausbildungsthema ist ein wesentliches. Es betrifft aber nicht nur die Endokrinologie und Diabetologie, sondern auch viele andere Fächer. Wir können uns in der inneren Medizin glücklich schätzen, noch immer einen großen Zustrom zu haben, da es viele interessierte Kollegen gibt. Als ÖDG arbeiten wir daran, die Ausbildungsplätze und auch die Anzahl zu erhalten. Da aber so viele Patienten an Diabetes leiden, wird es so sein, dass es wie beim DMP (Disease-Management-Programm) auch andere Betreuungsmodelle geben muss, bspw. unter Anleitung eines Facharztes für Endokrinologie und Diabetologie die Berechtigung zu bekommen, spezialisiert Patienten mit Diabetes zu versorgen. Es ist ein breites Feld, das nicht in zwei bis drei Jahren abgedeckt sein wird, sondern es sind Prozesse, die 5, 10, 15 Jahre oder länger brauchen werden. Dass die interventionellen Fächer breiter aufgestellt sind, das wäre gar nicht mein Eindruck.

Sie waren ein Jahr lang Vorsitzender des Ausschusses Leitlinien der ÖDG. Wann wird es das nächste Update geben?

M. Clodi: Die ÖDG gibt alle drei bis vier Jahre Leitlinien heraus. Wir arbeiten aktuell an einem Update. Die letzte Auflage war 2019 und Online-Updates gibt es auf der ÖDG-Homepage. Die nächste überarbeitete Auflage wird im Jänner 2023 publiziert werden und sich wie immer an die internationalen Leitlinien halten.

Ich glaube trotzdem, für Kollegen ist es angenehm, deutschsprachige Leitlinien zu haben, die sich am österreichischen Markt, an den Medikamenten und der Erstattung orientieren. Darum ist die ÖDG-Leitlinie ein Benefit für alle Kollegen, die mit Diabetes zu tun haben. Diabetes ist eine Erkrankung, die überall vorkommt. Wir haben an unserem Krankenhaus eine Untersuchung gemacht und festgestellt, dass die Hälfte aller Patienten, die wir aufnehmen, an Diabetes oder Prädiabetes leidet – also unfassbar viele. Dafür sind deutschsprachige Leitlinien ideal – auch im Pocketformat.

Es gibt einen Trend, dass sich mehrere Fachgesellschaften zusammentun, um gemeinsame Leitlinien zu schreiben und einander zu helfen, insbesondere in der Zusammenarbeit mit den Kardio- und Nephrologen. Ist es so, dass sich die einzelnen Fachrichtungen immer mehr zu einem kardioendokrinologisch-metabolischen Fach vermischen?

M. Clodi: Eine interne Abteilung oder Ordination bzw. eine allgemeinmedizinische Ordination muss sich fächerübergreifend mit all diesen Erkrankungen befassen. Der Herzinfarkt, die Herzinsuffizienz, die Pneumonie, die Niereninsuffizienz, die Elektrolytstörungen, der Diabetes: Das sind die häufigsten Erkrankungen in den Krankenhäusern. In dem Sinn besteht hierin sowieso ein fächerübergreifendes Zusammenarbeiten. Besonders die Kardiologen halten sich bei den Leitlinien an die ESC (European Society of Cardiology). Sie werden in englischer Form übernommen und auszugsweise ins Deutsche übersetzt. Das ist sicherlich ein mögliches Vorgehen. Wir in der ÖDG sehen es als praktikabler an, für unsere Kollegen eine österreichische Fassung zu machen, die aber eigentlich nicht von den internationalen Leitlinien abweicht.

Es gibt eine Kooperation der ÖDG mit der Österreichischen Gesellschaft für Nephrologie (ÖGN) in einer gemeinsamen Leitlinie. Dabei sind die Kollegen von der Hypertensiologie mit eingebunden und auch Experten für kardiale Erkrankungen. Hier haben wir bereits eine Kombination aus den verschiedensten Fachgesellschaften geschaffen und das ist gut, gegenseitig befruchtend und freut alle.

Zum Ausblick auf die nächsten 20 Jahre der ÖDG und zum Rückblick auf die letzten 10 Jahre könnte man sagen, dass wir in Österreich gut aufgestellt sind, da alle Kollegen, die sich in Österreich auf dem Feld des Diabetes bewegen, sich damit befassen und sich auskennen. In irgendeiner Form sind sie einerseits in die Gesellschaft direkt mit eingebunden, mit wechselnden „Playern“ im Vorstand und in der Präsidentschaft, und andererseits sind im Leitlinienausschuss eigentlich alle involviert, die in Österreich Spezialisten für Diabetes sind. Das ist ein wesentlicher Vorzug der ÖDG und der Leitlinien und in letzter Instanz ist es auch gut für die Patienten.

Vielen Dank für das Gespräch!
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