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Osseointegration: Implantate für mehr Lebensqualität
Jatros
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Gerhard Hobusch, MSc
Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie<br> Medizinische Universität Wien<br> (Leiter: o. Univ.-Prof. Dr. R. Windhager)<br>E-Mail: gerhard.hobusch@meduniwien.ac.at
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13.05.2019
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<p class="article-intro">Transkutane Implantate bieten Patienten mit nicht zu bewältigenden Stumpfproblemen Hoffnung auf deutliche Besserung von Funktion und Lebensqualität. Sie gelten daher trotz der hohen Infektionsraten zunehmend als veritable Lösung.</p>
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<p class="article-content"><h2>Das Problem</h2> <p>Nach wie vor finden auf Basis unterschiedlicher Ätiologien – wie der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus, Knochen- und Weichteiltumoren sowie Traumata – in Österreich gemäß Jahrbuch der Gesundheitsstatistik 2665 Amputationen jährlich statt, mit steigendem Trend. Davon waren es zuletzt knapp 1000 Patienten, die jährlich in Österreich eine Oberschenkelamputation erhielten.<br /> Die State-of-the-Art-Versorgung eines transfemoral Amputierten ist die Schaftprothese, dabei wird das Stumpf-Schaft- Interface durch eine enge Passform zum Träger des gesamten Körpergewichts. Verständlicherweise führt diese prinzipiell unphysiologische Trageweise durch Hautdruckstellen, Hitzeempfinden, bakterielle Infekte und Perspiration zu häufigem Unbehagen bei Prothesenträgern. Eine Studie aus den Niederlanden belegt in einer Studienkohorte von 2039 Patienten eine Rate von 63 % mit ein oder mehreren Hautproblemen und damit vergesellschafteten Folgen. Bei einem Drittel der Patienten mit Hautproblemen wurden Einschränkungen in der täglichen Routinetätigkeit berichtet, 25 % der Patienten machen ihre Hautprobleme für verminderte Sozialkontakte verantwortlich, 18 % der Patienten verwarfen die Prothese gänzlich.<br /> Aber nicht nur das Interface stellt ein Problem dar: Amputationsbezogene Schmerzen (Phantom-, Stumpf-, Kreuzschmerzen) können quälend für den Patienten hinzukommen und sind in ihrer Frequenz kaum untersucht. Eine noch nicht publizierte Studie an der Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Wien zeigt, dass 76 % der Langzeitamputierten (über 20 Jahre) nach Tumoren an Phantomschmerzen leiden.</p> <h2>Eine Alternative</h2> <p>Die direkte Verankerung einer Prothese im Knochen durch ein Implantat (Osseointegration) hat sich besonders bei solchen Patienten als ausgezeichnete Alternative dargestellt, die unter Komplikationen bei einer herkömmlichen Schaftprothese zu leiden haben. Der Name Osseointegration datiert zurück in die 1960er-Jahre, als der schwedische Forscher Per-Ingvar Brånemark feststellte, dass sich kleine, in den Knochen von Kaninchen implantierte Titaniumkammern zur Messung der Mikrozirkulation nicht entfernen ließen. Seit der erfolgreichen Einführung als Dentalimplantate 1965 dauerte es noch weitere 25 Jahre, bis das System basierend auf Biomechanikstudien von Rickard Brånemark in der Rehabilitation von Amputierten 1990 erstmals eingesetzt wurde.<br />Das Titanimplantat besteht heute aus der knöchernen Fixture, der Anbindung und der Anbindungsschraube. In Deutschland erfolgte seit 1999 die Versorgung von Amputierten mittels einer von Hans Grundei in Lübeck entwickelten Endo-Exo-Femurprothese, eines Chrom-Kobalt-Molybdän- Implantats mit rauer Oberfläche mit dem Prinzip der Press-fit-Verankerung. Die transkutane Anbindung erfolgt schließlich über eine zweifach konische Komponente mit Titanium-Niobiumoxid-Beschichtung.<br />Das seit 1998 standardisierte Implantationsverfahren entsprechend OPRA (Osseointegrated Prostheses for the Rehabilitation of Amputees) beschreibt ein Prozedere, das aus zwei Operationsschritten und einer knöchernen Einheilungsphase von insgesamt 6 Monaten besteht. Zunächst wird die Fixationsschraube mit engem Kontakt zum inneren Kortex in den Markraum des Stumpfes implantiert. Anschließend erfolgt eine nicht endbelastende dreimonatige Einheilung. Auf diese folgt der zweite Operationsschritt, bestehend aus der Weichteiltechnik einer Faszien-zu- Periost-Naht und anschließender Bildung eines direkten Haut-Knochen-Interface, durch das schlussendlich die Anbindung mittels Anbindungsschraube in den Pressfit- Teil der Fixation geschraubt wird. Danach erfolgt eine weitere dreimonatige Rehabilitation mit zunehmender Belastung. Ein ähnliches zweizeitiges Vorgehen sieht die Versorgung mittels Endo-Exo- Prothese vor, wobei die Rehabilitation nach dem zweiten Schritt variabel kürzer gestaltet sein kann.</p> <h2>Die Verbesserungen</h2> <p>Das zusammenfassende Ergebnis zweier qualitativer Studien über die Anfangszeit mit der neuen Prothese und den Unterschied zur Schaftprothese zeigt, dass nach dem notwendigen anstrengenden Training mit der Kurzprothese, dem anschließenden Kampf mit der Aktivierung des Gleichgewichtes und dem intensiveren Einsatz der Muskulatur durch die neue Bewegungsart schließlich nach beginnenden Verbesserungen im Alltag mit der Osseointegration auch eine Selbstwahrnehmung wie vor der Amputation entsteht. Insgesamt zeigten nach 24 Monaten knapp 70 % der Patienten Verbesserungen. Diese Ergebnisse sind in Fallserien aus Ländern mit dem bisher höchsten Patientenaufkommen (Schweden, den Niederlanden und Australien) auch objektiv mit hoher Signifikanz nachweisbar. Die Auswertung des Fragebogens für Patienten nach einer transfemoralen Amputation (Q-TFA, ein neues 4-teiliges Messinstrument zur Selbstberichterstattung für junge transfemoral Amputierte mit der Unterteilung nach Nutzung, Mobilität, Problemen und globaler Gesundheit mit jeweils separater Bewertung, skaliert von 0–100) zeigt Verbesserungen von durchschnittlich 18–39 Punkten in allen Bereichen sowie Verbesserungen in der Funktion und in der körperlichen Rollenfunktion des SF36 um durchschnittlich 23 Punkte nach 24 Monaten. Als weiterer objektiver Parameter der verbesserten Funktion zeigt sich eine Verkürzung im Timed-up-and-go-Test (TUG) von 15,1 auf 8,1 Sekunden (Fröhlke et al.).</p> <h2>Wermutstropfen: Infektionen</h2> <p>Trotz fantastischer Ergebnisse bei der Lebensqualitätsverbesserung sei das Risiko für Infektionen erwähnt. Bei Titanimplantaten beträgt das Langzeitrisiko einer oberflächlichen Weichteilinfektion bei einem mittleren Follow-up von 95 Monaten 55 % (Brånemark, JBJS 2014). Diese Weichteilinfektionen sind allerdings konservativ oder mittels antibiotischer Therapie beherrschbar. Dennoch entwickelten 16 von 96 Patienten Osteomyelitiden. Von diesen mussten bei 10 Patienten die Implantate entfernt werden, was einem kumulativen 10-Jahres-Risiko von 9 % entspricht. Die Press-fit-Implantate zeigten bei einem mittleren Follow-up von 34 Monaten eine Infektionsrate von insgesamt 34 %, wobei in dieser kürzeren Beobachtungszeit keine Osteomyelitiden bemerkt wurden. Andererseits zeigten sich bei 26 % der Patienten andere Nebenwirkungen wie Stoma, Hypergranulation oder Pinbruch. Die Patienten müssen über das Risiko der Infektion aufgeklärt werden. Standardisierungen und Modifikationen hinsichtlich des Implantates, der Implantiertechnik, aber auch der Weichteiltechnik im zweiten Operationsschritt sollen das Risiko deutlich senken. Hier bleibt abzuwarten, in welchem Ausmaß dies wirklich der Fall sein wird. Des Weiteren besteht die Frage, ob eine Früherkennung lokaler Infektionen (ebenfalls in der Querschnittsuntersuchung nicht regelhaft durchgeführt) und eine Verbesserung der Compliance hinsichtlich der täglichen Hygienemaßnahmen im Bereich der transkutanen Komponenten insgesamt zu einer deutlichen Risikosenkung führen werden. Erste Daten geben Anlass zur Hoffnung.</p> <h2>Ausblick</h2> <p>Wenngleich die bisherige Indikationsstellung eher auf traumatisch oder onkologisch Amputierte fokussiert blieb, kann eine Indikationserweiterung auf diabetische, vaskuläre Indikationen, insbesondere nach offizieller Bestätigung geringerer Infektionsraten durch geänderte Standardprotokolle, erwartet werden. Indikationserweiterungen im Bereich des Daumens und bei einem Zustand nach transhumeraler Amputation bestehen bereits und ermöglichen völlig neue bionische Extremitätenrekonstruktionen. Durch die Osseointegration der Prothesenanbindung können myoelektrische Elektroden wesentlich weniger störanfällige Potenziale ableiten und zur Steuerung der Prothese eingesetzt werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Ortho_1903_Weblinks_jatros_ortho_1903_s18_abb1_hobusch.jpg" alt="" width="550" height="406" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Ortho_1903_Weblinks_jatros_ortho_1903_s19_abb2_hobusch.jpg" alt="" width="250" height="624" /></p></p>
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