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Besondere Kompetenzen in der Psychiatrie

Gendersensitive Perspektiven in der Suchtforschung und -therapie

Gendersensible Betrachtungen spielen auch in der Suchtforschung und -behandlung eine wichtige Rolle. Ohne sie verkennt man womöglich die Motivationen des Substanzgebrauchs von LGBTQIA+-Patient:innen. Gendersensible Betrachtungen helfen zudem, die Epidemiologie besser zu verstehen sowie die Kriminalisierung und die Stigmatisierung zu reduzieren. Doch leider sind nicht alle Erkenntnisse dieser Forschung generalisierbar.

Der Beachtung gendersensitiver Vorstellungen und Erkenntnisse kommt im aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs große Bedeutung zu. Die Thematik der verschiedenen Aspekte der Abhängigkeiten in ihren geschlechtlichen Bezügen stellt hierbei keine Ausnahme dar. Die epidemiologische Entwicklung der Suchterkrankungen in Österreich wirft nicht nur gesundheitliche, sondern ebenso gendersensible Fragen auf. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde die entsprechende Forschung in der Medizin, vor allem aber in den Sozialwissenschaften im internationalen Raum intensiviert. Dies führte zur Formulierung der aktuellen Rahmenbedingungen für einen adäquaten Umgang mit den diversen Phänomenen geschlechtsbezogenen Verhaltens sowie geschlechtsbedingter Entwicklungen und Störungen.

Relevanz geschlechterspezifischer Suchtforschung

Geschlechtsspezifische Betrachtungen in der Forschung sind notwendig, um die verschiedenen Herausforderungen in der Suchtbehandlung besser zu verstehen und zu bewältigen. Durch internationale Forschung ist mit der kompetenten Umsetzung des Prinzips Gendersensibilität ein verbesserter Umgang mit Abhängigen möglich. Zudem verbesserte sich dadurch das Verständnis der Epidemiologie und der Bedeutung des Substanzgebrauchs für verschiedene Teilpopulationen.

Auf gesellschafts- und suchtpolitischer Ebene hat nicht zuletzt der gendersensible Zugang international dazu beigetragen, dass Kriminalisierung und Stigmatisierung von Substanzkonsument:innen zunehmend hinterfragt wurden und Konsument:innen heute selbst ihren Standpunkt in den Diskurs einbringen können. Dadurch wurde ein verbessertes Verständnis für die Bedeutung des Substanzgebrauchs für differenzierte Populationen entwickelt, das unter entsprechend akzeptierenden gesellschaftlichen Bedingungen therapeutische Entwicklungen ermöglicht und auf die Förderung und praktische Umsetzung von Konzepten im Sinne der „Harm Reduction“ positiven Einfluss ausübt. Unter dem Begriff „Harm Reduction“ werden verschiedene Ansätze verstanden, um die möglichen Schäden durch Drogengebrauch (wie z.B. Infektion mit Krankheitserregern durch Spitzentausch) zu reduzieren.

Diese Verhältnisse lassen sich durch einen Blick auf bestimmte Entwicklungen des genderbezogenen Substanzgebrauchs und seiner Interpretation, die seit den 1990er-Jahren ablaufen, exemplifizieren.

Beispiel 1: weiblicher Substanzgebrauch

Allgemein steht, wenn von gendersensibler Suchtarbeit mit Frauen gesprochen wird, oftmals der generative Aspekt des weiblichen Lebens im Zentrum. Dieser Umstand wird sichtbar, wenn die Forderung nach einer Verbesserung der Betreuung substanzabhängiger und -gebrauchender Schwangerer als gendersensible Praxis bezeichnet wird. Aufgrund der Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Forschung samt Erschließung neuer Forschungsräume in den 1990er-Jahren folgte jedoch eine veränderte und wesentlich erweiterte Interpretation der Bedeutung des weiblichen Substanzgebrauches: Der Slogan „doing gender – doing drugs“ von Fiona Measham1, der in dieser Periode entwickelt wurde, beruhte auf der Erkenntnis, in welch großem Ausmaß Substanzgebrauch das Geschlecht manifestiert – und umgekehrt, wie sehr das Geschlecht Ausmaß und Intention des Substanzgebrauchs steuert. Diese Erkenntnisse und Schlussfolgerungen trugen dazu bei, dass sich der Brennpunkt des Interesses erweiterte oder verschob. Die traditionellen negativ konnotierten Begründungen des weiblichen Begehrens nach Substanzerfahrung wurden um Aspekte positiven Begehrens, speziell Drogeneffekt-bezogener Lusterfahrungen, erweitert. Diese Neuorientierung ergab sich aus veränderten Forschungsfragestellungen, veränderter Interviewtechnik, die im Sinne der „autoethnografischen Methode“2,3 der Selbstdarstellung und Selbstinterpretation hohe Bedeutung zuerkannte, sowie der Intensivierung der qualitativen Forschung in der Tanz- und Klubszene.4 Das große Interesse, das nunmehr den Aussagen der Betroffenen entgegengebracht wurde, gewann auch Einfluss auf die Entwicklung des „Narkofeminismus“, einer Bewegung, die seit 2016 für die Rechte substanzgebrauchender Frauen eintritt.5

Beispiel 2: Forschung & Behandlung in der LGBTQIA+-Population

Heino Stöver, der als maßgeblicher Experte auf dem Feld der gendersensiblen Suchtarbeit gilt, trat 2021 für eine reformierteSuchtarbeit ein, deren Ziel es ist, das Handlungsspektrum und die Lebensmöglichkeiten von Geschlechtern zu erweitern. Dafür sei es notwendig, „ein weites Spektrum geschlechtlicher Identitäten jenseits polarer Zuschreibungen und eine Vielzahl damit verbundener Lebensentwürfe und Leitbilder als gleichwertig anzuerkennen“.6 Damit wurde ein Weg zur gendersensiblen Suchtarbeit eröffnet, der in Deutschland und Österreich noch recht unerschlossen ist, während in anderen Ländern über die Umsetzung dieser Aufgabenstellung bereits reiche und kontroversielle Erfahrung vorhanden ist.

Die neue Zielsetzung bringt neue Anforderungen und erfordert mitunter in manchen Handlungsräumen eine Reinterpretation bzw. ein Umdenken. Sowohl für den therapeutischen Zugang wie auch für das Verständnis der Bedeutung des Drogengebrauchs in genderdiversen Gruppen hat diese neue Zielsetzung Konsequenzen.

Zunächst ist es erforderlich, sich der Komplexität des Themas bewusst zu werden. Der therapeutische Umgang mit genderdiversen Populationen ist hoch komplex, schwierig und bedarf einer umfassenden Konzeptualisierung. Schließlich will man nicht in eine Diskriminierungsfalle tappen, die das multiple Stigma und den Minderheitenstress der Betroffen noch zusätzlich verstärkt.7 Es ist aus internationalen Untersuchungen bekannt, dass der Gebrauch aller Kategorien von Rausch- und Suchtmitteln in der LGBTQIA+-Community höher ist als in der allgemeinen Bevölkerung.8,9 Als Ursache bzw. auch als verschärfender kultureller Aspekt werden die Erfahrungen von „Minderheitenstress“ und multipler intersektionaler Diskriminierung genannt.10

Grundsätzlich laufen Forschungsprojekte zur Bedeutung dieses Phänomens in der genderdiversen Population nach zwei Paradigmen ab: Traditionell gilt einerseits das Verständnis, dass gehäufter Substanzgebrauch eine zusätzliche Belastung darstellt und die Intersektionalität der Diskriminierung und Stigmatisierung verstärkt. Zukunftsweisend erscheint jedoch andererseits eine neue Ausrichtung im wissenschaftlichen und therapeutischen Umgang mit dem Problem. Mit einer neuen Ausrichtung wird versucht, analog zur aktuellen Betrachtungsweise im feministischen Diskurs zur Bedeutung des Substanzgebrauchs diesem Umgang eine Chance für die genderdiverse Population zuzuordnen.11

In dieser Situation wird international der Ausweitung des Prinzips der gendersensiblen Suchtarbeit in Betreuung und Beforschung der genderdiversen Population ein hoher Rang zuerkannt.6 Die entsprechenden Bemühungen gelten der Epidemiologie des Substanzgebrauchs, der Konsummotivation in dieser Population wie auch der Erkenntnis von Chancen, die dieser Gebrauch in verschiedenen Ausprägungen (z.B. im Zusammenhang mit Chemsex-Experimenten) bei genderdiversen Personen und Gruppen bietet.12–16

Die Autor:innen, die diesen Standpunkt vertreten, ordnen ihm große Bedeutung für die Entwicklung eines sinnvollen Zugangs zu den Problemen der LGBTQIA+-Population und korrespondierenden „Harm Reduction“-Bemühungen zu. Ihre Forschung habe erbracht, dass das Streben nach Vergnügen und der Wunsch, die Erfahrung des Selbst in der Welt zu verändern, wichtige Gründe dafür sind, dass sich viele LGBTQIA+-Personen zum Drogenkonsum hingezogen fühlen. Auch verstünden diese Personen den von ihnen betriebenen Substanzgebrauch als eine Praxis, die wie andere auch dazu beiträgt, LGBTQIA+-Kulturen und -Identitäten zu verwirklichen. Aufgrund dieser Beobachtung schlagen die Autor:innen ein Umdenken vor, das anerkennt, dass Vergnügen, Risiko, Fürsorge und intime Experimente wichtige Anliegen innerhalb der LGBTQIA+-Kulturen sind und neue Denkansätze hinsichtlich der Rolle von Drogen und Rausch im sozialen Leben erfordern und ermöglichen.17

Fazit und kritische Bemerkung

Gendersensible Suchtarbeit bedarf eines gesellschafts- und suchtpolitischen Rahmens, der ihre Umsetzung ermöglicht. Die oben aufgezeigten Beispiele zeigen, dass in dieser Hinsicht ein Riss durch die westliche Kulturlandschaft geht, der sich am besten anhand der Cannabispolitik darstellen lässt. In der Betreuung von genderdiversen Personen wird dem Gebrauch von Cannabis eine positive Wirkung im Sinne einer Identitätsstärkung und Bewältigung stigmatisierender Erfahrungen zugeordnet.11 Dieser eventuell günstige Effekt ist allerdings davon abhängig, dass ein legaler Rahmen gegeben ist, der sozialen Cannabisgebrauch zulässt. Die Erkenntnisse der Forschung sind dementsprechend in diesem Bereich nicht für den europäischen Raum generalisierbar und durch internationale Forschung nur unzureichend überprüfbar. Prinzipiell ist es wünschenswert, dass innerhalb eines Kulturkreises vergleichbare Bedingungen und Chancen für Personen, die unter vergleichbaren Beeinträchtigungen leiden, geschaffen werden. Für den Ausbau einer effizienten gendersensiblen Suchtarbeit scheint ein Umdenken in die oben aufgezeigte Neuorientierung aber nahezu unerlässlich.

1 Measham F: “Doing Gender”—“Doing Drugs”: Conceptualizing the gendering of drugs cultures. Contemporary Drug Problems 2002; 29(2): 335-73 2 Ettore E: Revisioning women and drug use. gender, power and the body. London; Palgrave Macmillan: 2007 3 Ettorre E: Autoethnography as feminist method: sensitising the feminist ‚I‘. Routledge 2016 4 Hunt G et al.: Youth, drugs, and nightlife. Routledge 2010 5 Farrugia A et al.: Narcofeminist affects: Gender, harm and fun in young women and gender diverse people’s experiences of alcohol and other drug consumption. The Sociological Review 2025; doi.org/10.1177/ 003802612513173186 Stöver H: Gender und Sucht. Wie kann gendersensible Suchtarbeit gelingen? Konferenzvortrag im Rahmen der Jahrestagung Gender.Frau.Sucht – Genderfragen in (Post-)Corona-Zeiten. Hamburg; 17.11.2021 7 Spiers J: Working inclusively with gender and sexual diversity. In: Ruth E, & Spiers J: A Pragmatic guide to low intensity psychological therapy: care in high volume. Elsevier 2023; 11-135 8 Green KE, Feinstein BA: Substance use in lesbian, gay, and bisexual populations: an update on empirical research and implications for treatment. Psychol Addict Behav 2012; 26(2): 265-78 9 Blog der UK Addiction Treament Centres London: Understanding the prevalence of drug use in the LGBTQ+ community, Stand: 27.03.2025. Zuletzt aufgerufen: 4.08.2025 10 Race K et al.: Undoing minority stress: rethinking queer and gender-diverse substance use. Contemporary Drug Problems 2025; doi.org/10.1177/0091450925134860911 Barborini et al.: „To smoke feels gender“: Exploring the transformative and emancipatory capacities of cannabis among transgender, non-binary and gender non-conforming (TGNC) youth. Int J Drug Policy 2024: 131: 104536 12 Moyle L et al.: Pharmacosex: Reimagining sex, drugs and enhancement. Int J Drug Policy 2020: 86: 102943 13 Pienaar K et al. a: Drugs as technologies of the self: Enhancement and transformation in LGBTQ cultures. Int J Drug Policy 2020: 78: 102673 14 Florêncio J: Drugs, techno and the ecstasy of queer bodies. The Sociological Review 2023; 71(4): 861-80 15 Florêncio J: Chemsex cultures: Subcultural reproduction and queer survival. Sexualities 2021; 26(5-6): 556-73 16 Chaney M et al.: Substance use and sexual health and wellbeing: a special commentary. Journal of Counseling Sexology & Sexual Wellness: Research, Practice, and Education 2023; 4(2): 66-9 17 Pienaar K et al. b: Sexualities and intoxication: “to be intoxicated is to still be me, just a little blurry”—drugs, enhancement and transformation in lesbian, gay, bisexual, transgender and queer cultures. In: Hutton F (eds): Cultures of intoxication. Palgrave Macmillan 2020, Cham.

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