
Angststörungen: «Essenziell ist eine individuell angepasste Behandlung»
Unser Gesprächspartner:
Dr. med. Joe Hättenschwiler
Gründungspräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression, SGAD
Ehemaliger Chefarzt des Zentrums für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich, ZADZ
E-Mail: jhaettenschwiler@zadz.ch
Das Interview führte Dr. med. Felicitas Witte
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Vor 25 Jahren gab es wenig Evidenz, welche Behandlungen helfen. Heute werden zwar immer noch Patienten stigmatisiert, aber dank wissenschaftlich basierter Empfehlungen lassen sich Ängste mittlerweile behandeln. Dr. med. Joe Hättenschwiler, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), erklärt, wie man Patienten personalisiert behandelt und je nach Art und Ausmass der Angststörung nicht-medikamentöse und/oder medikamentöse Massnahmen einsetzt.
Herr Dr. Hättenschwiler, welchen Stellenwert hatten Angststörungen Mitte der 1990er-Jahre?
J. Hättenschwiler: Sie fristeten ein Schattendasein. Es gab Vorurteile, es fehlten strukturierte Behandlungsangebote, der Einsatz von Medikamenten war noch nicht ausgereift und wirksame psychotherapeutische Methoden waren noch nicht breit verfügbar. Erst seit 2011 gibt es für die Schweiz spezifische Behandlungsempfehlungen.1 Wir wissen heute evidenzbasiert, welche Medikamente und welche Psychotherapien wirken. Allerdings werden immer noch Patienten stigmatisiert, bekommen nicht die richtige Therapie oder müssen lange auf einen Arzttermin warten.
Warum hat die SGAD eigene Empfehlungen für die Schweiz geschrieben?
J. Hättenschwiler: Internationale Leitlinien sind zwar sehr hilfreich und umfassend, entsprechen aber nicht den hiesigen Rahmenbedingungen. Unsere Empfehlungen stützen sich auf die gleiche Evidenz wie die der deutschen Leitlinie.2 Wir berücksichtigen aber beispielsweise, ob bestimmte Medikamente oder Therapieangebote hierzulande verfügbar sind. Ausserdem sind unsere Empfehlungen kürzer und kompakter. Wir haben sie auch auf Französisch übersetzen lassen und sind auf kulturelle Unterschiede in der Behandlung und Wahrnehmung von Angststörungen eingegangen.
Wann halten Sie Medikamentefür angebracht?
J. Hättenschwiler: Wenn die Angststörung mittelschwer bis schwer ausgeprägt ist, Alltagsfunktionen eingeschränkt sind oder wenn eine Psychotherapie allein nicht hilft. Einen hohen Stellenwert hat der Wunsch der Patienten. Manche wollen nur Medikamente, zum Beispiel wenn sie schon länger erfolglos eine Psychotherapie gemacht haben. Auch bei hohem Leidensdruck kann eine medikamentöse Unterstützung priorisiert werden.
Welches Präparat solltedie erste Wahl sein?
J. Hättenschwiler: Wir empfehlen SSRI und SNRI wie Escitalopram, Citalopram, Sertralin, Paroxetin oder Venlafaxin und Duloxetin. Diese Arzneimittel sind im Allgemeinen gut verträglich und zeigen verlässliche Wirksamkeit.
Antidepressiva können ziemliche Nebenwirkungen verursachen. Wie erklären Sie das den Patienten?
J. Hättenschwiler: Übelkeit, Kopfschmerzen, innere Unruhe, sexuelle Funktionsstörungen und andere Nebenwirkungen sind in der Tat unangenehm, aber meist vorübergehend und gut behandelbar. Viele Betroffene erleben eine spürbare Verbesserung ihrer Symptome und gewinnen wieder Lebensqualität. Eine aktuelle Cochrane-Analyse mit insgesamt 12226 Teilnehmern zeigt, dass Antidepressiva die Angstsymptome deutlich stärker besserten als Placebo.3 Die Angst verschwindet zwar nicht von heute auf morgen, sie verliert aber an Macht. Patienten mit grossen Sorgen um Nebenwirkungen erkläre ich, dass begleitende Massnahmen wie Psychotherapie, Sport und Stressabbau einen zusätzlichen positiven Effekt haben und dass man die Dosis der Medikamente dann oft reduzieren kann.
Gibt es Patienten, die ohne Medikamente auskommen?
J. Hättenschwiler: Ja, insbesondere bei erstmaligem Auftreten einer Angststörung oder bei leichteren Formen. Essenziell ist, die Therapie individuell anzupassen. Kürzlich betreute ich eine junge Frau mit einer sozialen Angststörung, die erstmals im Studium exazerbierte. Die Frau konnte mit einer kognitiven Verhaltenstherapie und Expositionsübungen innerhalb weniger Monate ihre Angst gut beherrschen. Ein Patient mit generalisierter Angststörung war beruflich stark eingespannt, litt unter Schlafstörungen und schmerzhaften muskulären Verspannungen. Der Mann profitierte von ausführlicher Psychoedukation und Psychotherapie. Er lernte Entspannungsverfahren und begann mit regelmässigem Sport. Bei einer älteren Patientin mit ausgeprägter Höhenangst hatte sich die Symptomatik im Anschluss an eine kritische Situation in den Bergen verstärkt. Nach Psychoedukation und einer intensiven Exposition in virtueller Realität hatte sie deutlich weniger Angst, sodass sie ihr geliebtes Wandern wieder geniessen konnte. Alle drei kamen ohne Medikamente aus.
Wann geht es nicht ohne?
J. Hättenschwiler: Vor allem zwei Formen sind schwierig zu behandeln: erstens die generalisierte Angststörung, da sie oft schleichend über viele Jahre entsteht und sich neben der starken Besorgtheit prominent auf der körperlichen Ebene manifestiert. Die Patienten klagen etwa über starke Unruhe, Herzrasen, Schlafstörungen, schmerzhafte Muskelverspannungen oder chronische Magen-Darm-Beschwerden. Die Angststörung ist oft mit weiteren Komorbiditäten verbunden, wie depressiven Störungen, Abhängigkeitserkrankungen oder chronischen Schmerzen.
Wie hilft man den Betroffenen?
J. Hättenschwiler: Ich kombiniere in der Regel kognitive Verhaltenstherapie mit Entspannungsverfahren und Atemtherapie. Zudem motiviere ich die Patienten zu regelmässiger körperlicher Bewegung. Führt das nicht zu einer Verbesserung, braucht es Medikamente. Wichtig ist, auch die körperlichen Symptome ernst zu nehmen und in die Behandlung zu integrieren, zum Beispiel durch Zusammenarbeit mit Hausärzten.
Sie sprachen von zwei schwierig zu behandelnden Angstformen.
J. Hättenschwiler: Ja, die zweite ist die soziale Phobie. Häufig beginnen die Symptome bereits in der Kindheit oder in der frühen Pubertät, einer Phase, in der viele soziale Entwicklungsprozesse stattfinden und sich das Selbstbild formt. Die Störung ist dementsprechend tief verankert. Erschwerend kommt hinzu, dass die Betroffenen oft soziale Situationen meiden. Es ist eine Herausforderung, Vertrauen aufzubauen, regelmässige Expositionen durchzuführen und Rückzug zu verhindern. Die Patienten benötigen viel Ausdauer und einige auch Medikamente. Die meisten Angststörungen sind aber behandelbar, wenn die Therapie individuell angepasst sowie ausreichend lang und konsequent durchgeführt wird.
Behandeln Sie Kinder, Senioren und Schwangere genauso wie Erwachsene?
J. Hättenschwiler: Für Kinder sind altersgerechte Interventionen wichtig, etwa spielerische Verfahren oder kreative Ausdrucksformen wie Zeichnen und Rollenspiele. Ausserdem sollten die Eltern aktiv in die Therapie einbezogen werden. Je nach Urteilsfähigkeit werden die Kinder an Therapieentscheidungen beteiligt. Bei älteren Menschen muss man unter Umständen die Dosis der Medikamente anpassen und das Nebenwirkungs- und Interaktionsrisiko beachten. Bei Schwangeren steht die Psychotherapie im Vordergrund. Sind dennoch Medikamente indiziert – etwa bei Suizidalität oder Zwangsstörungen mit starkem Leidensdruck oder generalisierter Angststörung mit starker somatischer Symptomatik –, ist eine sehr sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich. Ich empfehle, www.mediq.ch , www.embryotox.de oder ein spezialisiertes Zentrum zu konsultieren. Wir greifen auf Präparate mit guter Datenlage betreffend ihrer Anwendungssicherheit in der Schwangerschaft zurück.1
Wie sehen Sie das Thema Angststörungen in den kommenden Jahren?
J. Hättenschwiler: Ich denke, wir stehen an einem Wendepunkt. Die Prävalenz von Angststörungen scheint insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zuzunehmen. Weltweit ist die Inzidenz zwischen 1990 und 2021 in der Altersgruppe 10–24 Jahre deutlich gestiegen, vor allem nach 2019.4 Das kann an den sozialen Medien und am Leistungsdruck liegen, an der Pandemie, geopolitischen Verwerfungen oder zunehmender Gesundheits- und Zukunftsangst unter Jugendlichen. Steigende Behandlungszahlen verlangen viele zusätzliche Fachpersonen. Die steigende Prävalenz wird zu grossen Herausforderungen im Versorgungssystem führen. Aber das Wissen und die Offenheit gegenüber Angststörungen in der Öffentlichkeit und in der Fachwelt nehmen zu. Das bringt auch neue Chancen.
Welche neuen Therapieansätze halten Sie für vielversprechend?
J. Hättenschwiler: Neue Ansätze wie digitale Therapien, moderne Medikamente, Psychedelika und Exposition mittels virtueller Realität eröffnen echte Chancen – besonders für schwer behandelbare Fälle. Entscheidend ist aber ein verantwortungsvoller, wissenschaftlich fundierter Einsatz, da viele Verfahren sich noch in der Entwicklung oder Prüfung befinden. Ich bin überzeugt, dass in Zukunft individualisierte Therapiepläne (z. B. auf Basis von Genetik oder Neuroprofilen) gezieltere und wirksamere Behandlungen ermöglichen.
Literatur:
1 Seifritz E et al.: Die Behandlung der Angsterkrankungen. Panikstörung, Agoraphobie, generalisierte Angststörung, soziale Angststörung, spezifische Phobien. Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD, 2024. Abrufbar unter: https://www.psychiatrie.ch/fileadmin/SGPP/user_upload/Fachleute/240328_Behandlungsempfehlungen_DE.pdf 2 Bandelow B et al: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen. Version 2, 2021. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische medizin un Ärztliche Psychotherapie e.V. (DGPM), 2014. Abrufbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-028 3 Kopcalic K et al.: Antidepressants versus placebo for generalised anxiety disorder (GAD). Cochrane Database Syst Rev 2025; 1(1): CD012942 4 Bie F et al.: Rising global burden of anxiety disorders among adolescents and young adults: trends, risk factors, and the impact of socioeconomic disparities and COVID-19 from 1990 to 2021. Front Psychiatry 2024; 15: 1489427
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