
ADHS: «Die Flut von Outings ist für tatsächlich Betroffene verheerend»
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Thomas Müller
Ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen
Co-Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS
E-Mail: thomas.mueller@privatklinik-meiringen.ch
Das Interview führte Dr. med. Felicitas Witte
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Fast jedes zweite Kind mit Aufmerksamkeitdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hat noch als Erwachsener Symptome.1 Vor 25 Jahren gab es kaum Studien dazu, wie man die Betroffenen am besten behandelt. Heute steht eine Vielzahl von Präparaten zur Verfügung. Prof. Dr. med. Thomas Müller, Co-Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS, erklärt, wie man in der Praxis vorgeht und warum er den Trend der Selbstdiagnosen kritisch sieht.
Herr Professor Müller, als Sie Anfang der 2000er-Jahre begannen, sich für ADHS zu interessieren – was war damals Stand der Dinge?
T. Müller: Ich hörte einen Vortrag von Dr. med. Doris Ryffel-Rawak. Die Psychiaterin hatte eine Praxis in der Nähe von Bern. Sie war Mitbegründerin von Selbsthilfeorganisationen für erwachsene ADHS-Patienten und der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS und hatte einige Bücher zu ADHS bei Erwachsenen geschrieben. Ich fand das spannend. Damals war weitgehend unbekannt, dass die Symptomatik sich auch im Erwachsenenalter fortsetzen würde. Es gab kaum Studien, wie wir die älteren Patienten behandeln könnten. Immerhin gab es mit Concerta® – also Methylphenidat – schon ein erstes Medikament, das auch im Erwachsenenalter zur Verfügung stand. So konnten wir viele Betroffene erfolgreich behandeln. Es gab aber einige Wissenslücken, etwa wie man strukturiert abklärt oder wie man bei komorbiden somatischen oder psychiatrischen Erkrankungen vorgeht.
Wie ist die Situation heute?
T. Müller: Wir haben verschiedene wirksame Medikamente, aber es dauert immer noch zu lange, bis die Diagnose gestellt wird und Betroffene eine Therapie bekommen. Gerade bei Erwachsenen dauert es. In einer Studie der Universität in Turin waren es im Schnitt 17 Jahre!2 Wir haben keine Zahlen für die Schweiz, aber selbst wenn es «nur» einige Monate sind, ist das viel zu lang. Wird ADHS nicht zeitnah behandelt, steigt das Risiko für Komplikationen durch die unentdeckte Krankheit, etwa Unfälle, Depressionen oder gar Suizid. Auf der anderen Seite ist ADHS in aller Munde. Stars wie Paris Hilton outen sich, ADHS wird als «Superkraft» bezeichnet und ist plötzlich «cool». Viele Nicht-Fachpersonen glauben mitreden zu können. Es ist von Neurodiversität die Rede, also dass die Betroffenen nicht krank seien, sondern dass ihre Symptome nur bestimmte Ausprägungen eines normalen Verhaltens seien. Die Flut von Outings und Selbstdiagnosen ist für die tatsächlich Betroffenen verheerend. Ich kenne Patienten, die sich nicht mehr trauen, mitzuteilen, dass sie als Kind ADHS hatten: Man würde ihnen unterstellen, sie wollten etwas Besonderes sein und nicht arbeiten wollen. Hier sind wir Ärzte gefragt. Wir müssen professionell abklären, damit Menschen, die die Behandlung brauchen, diese auch bekommen, und diejenigen nicht, die nur glauben, ADHS zu haben.
Bisher gibt es keine Schweizer Behandlungsempfehlungen. Nach welcher Leitlinie soll man sich richten?
T. Müller: In der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS bereiten wir gerade eine Empfehlung vor, beauftragt wurde diese von der Schweizerischen Fachgesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Bis dahin kann man die deutsche AWMF-Leitlinie zu Rate ziehen,3 die allerdings aus dem Jahr 2018 stammt. 2023 ist ein aktuellerer Review erschienen, den ich hilfreich finde.4
Verschreiben Sie jedem erwachsenen Patienten Stimulanzien?
T. Müller: Nein. Coaching und Patientenedukation können insbesondere bei leichten Fällen durchaus ausreichen. Ein Stimulans schlage ich dann vor, wenn die Symptome die Patienten im Alltag und im Beruf einschränken und sie darunter leiden. Ich setze meist zunächst Methylphenidatpräparate ein. Welches Methylphenidat ich wähle, hängt von der gewünschten Wirkung ab – also schnell oder lang wirkend – und davon, ob der Patient vorher schon mal ADHS-Medikamente hatte, welche Begleitmedikamente er jetzt nimmt und ob die Arzneien erstattet werden. Ideal sind die retardierten Präparate, denn Methylphenidat hat eine Halbwertszeit von nur zwei Stunden und wird schnell abgebaut. Ein kurz wirksames Methylphenidat verschreibe ich manchmal zum Testen oder zusätzlich zum Langzeitpräparat, etwa in Prüfungssituationen. An Amphetamine denke ich, wenn sich ein Patient zum Beispiel einen ganzen Arbeitstag gut konzentrieren möchte und eine gleichbleibende Wirkung über den Tag wünscht. Lisdexamphetamin eignet sich hier gut, denn das ist ein Prodrug, das im Blut kontinuierlich zum aktiven Metaboliten Dexamphetamin umgewandelt wird. Bei Kontraindikationen für Stimulanziengreife ich auf Atomoxetin, Guanfancin oder Bupropion zurück. Diese Therapien sind dann aber «off-label» und man muss das den Kassen gegenüber gut begründen.
In einer aktuellen Metaanalyse5 besserten nur Stimulanzien und Atomoxetin Hyperaktivität, Konzentrationsstörungen und unüberlegtes Handeln innert drei Monaten. Bestimmte Psychotherapien, Achtsamkeitstraining und Psychoedukation linderten die Symptome, wenn überhaupt, erst nach längerer Zeit. Überrascht Sie das?
T. Müller: Zunächst bestätigt die Studie das, was wir im klinischen Alltag merken: Wir haben sehr potente Behandlungsmethoden, die rasch wirken. Mir fehlen hier aber Langzeiterfahrungen. Die Patienten wurden maximal 52 Wochen nachbeobachtet. Gerade bei Psychotherapien wissen wir, dass ein Effekt oftmals erst nach längerer Zeit eintritt. Dass die nichtmedikamentösen Massnahmen die Kernsymptome nicht besserten, wundert mich aber nicht. Denn während die Medikamente die durcheinandergeratenen Botenstoffe im Hirn, salopp gesagt, in Ordnung bringen, haben die nichtmedikamentösen Massnahmen diesen Effekt nicht. Psychotherapien eignen sich vor allem dann, wenn der Patient begleitend komorbide psychiatrische Probleme hat, etwa Depressionen oder Ängste.
In der Studie beurteilten nur die untersuchenden Ärzte die nichtmedikamentösen Therapien als effektiv, nicht aber die Patienten selbst. Wie erklären Sie sich das?
T. Müller: Die positive Erwartungshaltung der Ärzte könnte eine Rolle gespielt haben. Auch können Patienten bei manchen psychologischen Therapien – zum Beispiel Achtsamkeitstraining – unangenehme Nebenwirkungen haben, etwa Flashbacks, Panikattacken, Ängste oder depressive Verstimmungen. Es ist vorstellbar, dass der Patient die Therapie dann als weniger effektiv beurteilt. Ich sehe immer wieder Patienten, die partout Medikamente wollen und Psychotherapien ablehnen. Am erfolgreichsten sind wir mit einer integrativen Nutzung von Psychotherapie, Psychoedukation und Coaching plus – sofern indiziert – medikamentöser Behandlung.
Wie sehen Sie die nahe Zukunftder ADHS-Behandlung?
T. Müller: Wir haben das Privileg, dass wir im Vergleich zu anderen Krankheiten schon sehr wirksame Medikamente haben. Die Effektstärken sind erstaunlich hoch. Insofern ist mindestens in Bezug auf die Wirksamkeit kaum mehr zu erwarten. In Bezug auf die Nebenwirkungen wäre noch Luft nach oben für etwas verträglichere Präparate. Mit neuen Medikamenten rechne ich, derzeit sehe ich allerdings nichts am Horizont. Forscher fanden 2024 zwar 24 randomisierte klinische Studien zu neuen Substanzen mit Ergebnissen zu relevanten Endpunkten, aber nur ein Präparat – Centanafadin, ein Norepinephrin-, Dopamin- und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer – zeigte eine Wirksamkeit gegen ADHS-Kernsymptome. Die Effektgrösse war mit 0,28 bis 0,40 allerdings gering.6 Auch die Autoren schreiben: Es ist bisher kein Medikament mit der Wirkung von Stimulanzien oder Atomoxetin und einem besseren Nebenwirkungsprofil in Aussicht.
Was ist mit Viloxazin? Das wurde kürzlich in den USA neu für ADHS zugelassen.
T. Müller: Das ist ein altbekanntes Antidepressivum, ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Ich bin gespannt auf die Erfahrungen aus den USA. Es wäre gut, wenn sich die Wirksamkeit bestätigt, denn es ist immer gut, mehr Präparate in Reserve zu haben. Ich sehe Viloxazin ähnlich wirksam wie Atomoxetin, aber mit weniger Nebenwirkungen auf das Herz-Kreislauf-System.
Werden wir ADHS irgendwannheilen können?
T. Müller: Einerseits wäre das wünschenswert. Da ADHS aber genetisch bedingt ist und wahrscheinlich durch Zusammenwirken von Hunderten verschiedener Genvarianten entsteht, stellt sich eine allfällige Heilung aus meiner Sicht als schwierig dar, weil wir dann eine «Multigentherapie» bräuchten, die es vermutlich in absehbarer Zeit nicht geben wird. Andererseits frage ich mich: Wollen wir ADHS heilen? Personen mit ADHS haben zum Beispiel Charaktereigenschaften, die sie für bestimmte Berufe prädestinieren. In einer Studie mit 694 Teilnehmern7 zeichneten sich diejenigen mit ADHS-Symptomen dadurch aus, dass sie sich besser auf eine Sache fokussieren können, anpassungsfähiger im Denken sind und sensibler auf ihre Mitmenschen reagieren. Sie eignen sich daher womöglich besonders für Jobs in der Notfallmedizin, bei der Feuerwehr oder der Polizei oder im Kreativbereich als Fotograf, Sänger, Schauspieler oder Journalist. In unserer Gesellschaft sollten wir die Stärken von Menschen mit ADHS mehr unterstützen und nützen – davon profitieren dann auch die Betroffenen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Literatur:
1 Sibley MH et al.: Method of adult diagnosis influences estimated persistence of childhood ADHD: a systematic review of longitudinal studies. Lancet Psychiatry 2016; 3(12): 1157-65 2 Oliva F et al.: Diagnostic delay in ADHD: Duration of untreated illness and its socio-demographic and clinical predictors in a sample of adult outpatients. Early Interv Psychiatry 2021; 15(4): 957-65 3AMWF-Leitlinie (in Überarbeitung): https://register.awmf.org/assets/guidelines/028-045l_S3_ADHS_2018-06-abgelaufen.pdf 4 Williams OC et al.: Adult attention deficit hyperactivity disorder: a comprehensive review. Ann Med Surg 2023; 85: 1802-10 5 Ostinelli EG et al.: Comparative efficacy and acceptability of pharmacological, psychological, and neurostimulatory interventions for ADHD in adults: a systematic review and component network meta-analysis. Lancet Psychiatry 2025; 12(1): 32-43 6 Veronesi GF et al.: Treatments in the pipeline for attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) in adults. Neurosci Biobehav Rev 2024; 163: 105774 7 Schippers LM et al.: Associations between ADHD traits and self-reported strengths in the general population. Compr Psychiatry 2024; 130: 152461
Das könnte Sie auch interessieren:
Silexan wirkt bei Angst und Depressionen
Angststörungen und Depressionen stellen in der klinischen Praxis häufig einander begleitende Komorbiditäten dar, die sich gegenseitig verstärken können. In einem aktuellen Review war das ...
«Die Tarife können nicht als der einzige Grund für die Lücken in der Versorgung gesehen werden»
Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung in der Schweiz geriet in den vergangenen Jahren wiederholt in die Kritik. Im Frühjahr hat nun der Bundesrat eine Tarifreform beschlossen ...
Angststörungen: «Essenziell ist eine individuell angepasste Behandlung»
Vor 25 Jahren gab es wenig Evidenz, welche Behandlungen helfen. Heute werden zwar immer noch Patienten stigmatisiert, aber dank wissenschaftlich basierter Empfehlungen lassen sich Ängste ...