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Wichtigkeit der primären Indikationsstellung und Rate von Revisionsoperationen
Leading Opinions
Autor:
Prof. Dr. med. Mazda Farshad
Universitätsklinik Balgrist<br> E-Mail: mazda.farshad@balgrist.ch
Autor:
Dr. med. Michael Betz
30
Min. Lesezeit
23.11.2017
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<p class="article-intro">Revisionsoperationen nach Wirbelsäuleneingriffen sind, je nach zugrunde liegender Pathologie, mit variabler Inzidenz dokumentiert. Wir fokussieren uns in diesem Artikel einerseits auf die Indikationsstellung in der Wirbelsäulenchirurgie und andererseits auf die Rate von Revisionsoperationen nach chirurgischer Behandlung der häufigsten Krankheitsbilder, nämlich der lumbalen Diskushernie, der Spinalkanalstenose und der lumbalen Segmentdegeneration.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die korrekte Indikationsstellung ist ausschlagend für den Erfolg eines wirbelsäulenchirurgischen Eingriffs.</li> <li>Falsche Indikationen führen zum Behandlungsfehlschlag und können Revisionsoperationen verursachen.</li> <li>Auch nach korrekter Indikationsstellung können jedoch Revisionsoperationen erforderlich werden.</li> <li>Nach Diskushernienoperation und Spondylodesen können im Langzeitverlauf Revisionsraten von bis zu 20 % auftreten.</li> <li>Die häufigste Ursache für Revisionsoperationen nach Spondylodesen ist die Anschlusssegmenterkrankung.</li> </ul> </div> <p>Die korrekte Indikationsstellung für einen wirbelsäulenchirurgischen Eingriff ist ausschlaggebend für den Erfolg der Operation. Idealerweise erlauben eine vollständige Anamnese und klinische Untersuchung eine klinisch eindeutige Diagnose, welche mit der Bildgebung korreliert. Nicht immer haben jedoch radiologische Befunde eine klinische Signifikanz.<sup>1</sup> Die Klarstellung der zu erwartenden Symptomlinderung, die detaillierte Planung der Operation sowie klare postoperative Behandlungsschemata sind weitere Grundbausteine des Behandlungserfolges. Unnötige oder falsche Indikationen sind leider sehr häufig (17–60 % ),<sup>2, 3</sup> führen zum Behandlungsfehlschlag und verursachen oft Revisionsoperationen.</p> <h2>Indikationsstellung eines wirbelsäulenchirurgischen Eingriffs</h2> <p>Die Indikation zu einem operativen Eingriff wird bei gegebener klinisch-morphologischer Korrelation und hohem Leidensdruck gestellt, wenn die konservativen Therapieoptionen ausgeschöpft sind und sowohl zeitlich als auch qualitativ nur eine ungenügende Verbesserung der Symptome erreicht werden konnte. Ausnahmen sind akute neurologische Ausfälle, instabile Frakturen, massiv destruierende Infektionen, gewisse Tumoren und andere akute Situationen, die eine sofortige operative Therapie zur Vermeidung von Folgeschäden notwendig machen.</p> <h2>Indikation zur lumbalen Diskushernienoperation</h2> <p>Diskushernien entstehen am häufigsten in der 3. und 4. Lebensdekade in den Bandscheibenhöhen L4/5 und L5/S1. Häufig führt die Herniation durch Druck neuraler Strukturen zu einer Radikulopathie, sehr selten zu einem Cauda-equina- Syndrom. Bei keiner oder minimaler neurologischer Symptomatik wird eine Diskushernie primär konservativ behandelt (periradikuläre Infiltration, Analgetika, evtl. Physiotherapie usw.) – mit einer Erfolgsrate von ca. 80 % .<sup>4, 5</sup> Scheitert die konservative Therapie oder treten neurologische Ausfälle auf (z.B. signifikante Muskelkraftminderung), sind eine mikrochirurgische Dekompression und Sequestrektomie indiziert, wodurch bei korrekter Durchführung sehr zuverlässige Resultate erzielt werden.<sup>6</sup> Eine Reherniation kann jedoch bei bis zu einem Viertel der Patienten auftreten, auch wenn diese nicht immer symptomatisch sein muss.<sup>7–9</sup></p> <p><strong>Primäre Indikation:</strong> Eine korrekte Indikation zur mikrochirurgischen Diskektomie sind eine sensomotorische schmerzhafte Radikulopathie oder eine schmerzhafte Radikulopathie, welche auf konservative Massnahmen ungenügend ansprechen (d.h.: mindestens eine periradikuläre Infiltration, >6 Wochen Warten, Analgetika und evtl. Physiotherapie).</p> <h2>Lumbale Spinalkanaldekompression</h2> <p>Eine Claudicatio spinalis, als Kardinalsymptom einer lumbalen Spinalkanalstenose, ist am häufigsten multifaktoriell verursacht – osteophytäre Ausziehungen (vertebrale Spondylose und Facettengelenksosteophyten), Hypertrophie und/oder Kollaps des Lig. flavum, Diskusprotrusion – und manchmal begünstigt durch eine Listhese (am häufigsten L4/5) mit oder ohne Segmentinstabilität. Die klinische Symptomatik und nicht die Bildgebung ist ausschlaggebend, da bis zu 21 % der über 60-Jährigen radiologisch eine asymptomatische Spinalkanalstenose aufweisen.<sup>1</sup> Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die vaskuläre Claudicatio intermittens, die meist mit einer guten klinischen Untersuchung differenziert werden kann. Eine relevante Einschränkung der Lebensqualität durch eine Spinalkanalstenose mit limitierter Gehstrecke, welche auf konservative Massnahmen (z.B. epidurale Infiltration) zeitlich und/oder qualitativ unzureichend anspricht, kann zuverlässig mit einer Dekompressionsoperation behandelt werden.<sup>10, 11</sup> In welchen Situationen zusätzlich eine Spondylodese durchgeführt werden soll, wird zum Teil noch debattiert.<sup>12</sup></p> <p><strong>Primäre Indikation:</strong> Die Claudicatio spinalis (nach Ausschluss einer Claudicatio intermittens), welche auf konservative Massnahmen unzureichend anspricht, eine relevante Einschränkung der Lebensqualität bewirkt und ein klares radiologisches Korrelat findet, kann zuverlässig mittels operativer Dekompression behandelt werden. Es muss präoperativ evaluiert werden, ob eine simultane Spondylodese nötig ist. Eine Fusion ist z.B. bei mechanischer Lumbalgie aufgrund einer Segmentinstabilität oder eines Facettengelenkssyndroms, gleichzeitiger Neuroforamenstenose mit Radikulopathie oder einer symptomatischen Diskopathie notwendig. Zusätzlich muss die Facettengelenkskonfiguration beachtet werden, denn bei sehr sagittal gestellten Facettengelenken und angeborenem kleinem Spinalkanal ist die Gefahr einer Facettenfraktur mit postoperativer Instabilität nach Recessotomie gesteigert. In solchen Fällen kann eine primäre Spondylodese eine frühe Revisionsoperation verhindern.</p> <h2>Lumbale Spondylodese</h2> <p>Lumbale Fusionen (Spondylodesen) werden immer häufiger zur Behandlung verschiedenster Pathologien angewandt. Segmentinstabilität und symptomatische Segmentdegeneration mit Diskopathie und Facettengelenksarthrose mit oder ohne intraspinale oder neuroforaminale Pathologien sind die häufigsten Indikationen für eine Spondylodese. Es bedarf jeweils einer individualisierten Analyse, ob Segmente fusioniert werden sollen, und wenn ja, welche Segmente auf welche Art und Weise.</p> <p><strong>Primäre Indikation:</strong> Rein radiologische Befunde (z.B. Diskopathie) ohne passende klinische Symptomatik dürfen nicht mittels Spondylodese therapiert werden. Neurologische Symptome (Radikulopathie ± Claudicatio spinalis) und eine schwere Lumbalgie mit radiologisch klarem Korrelat (z.B. Segmentdegeneration mit Listhese und Kollaps der Neuroforamina) können mittels einer kombinierten Dekompression und Spondylodese behandelt werden. Die Selektion der zu fusionierenden Levels und die entsprechende Technik müssen präoperativ definiert werden. Dabei sind auch biomechanische Prinzipien, die Balance der Wirbelsäule und die biologisch individuellen Eigenschaften des Patienten zu respektieren.</p> <h2>Revisionen in der Wirbelsäulenchirurgie</h2> <p>Neben iatrogenen Ursachen, welche ein Scheitern eines chirurgischen Wirbelsäuleneingriffs begünstigen und potenziell eine Revisionsoperation erforderlich machen, gibt es biologische Ursachen, welche auch bei richtig gestellter Indikation und korrekt durchgeführter Operation für eine Folgeoperation prädiktiv sind. Hier sind beispielsweise Infektionen mit einer Inzidenz von etwa 2 % <sup>13</sup> und postoperative Hämatome zu nennen.</p> <h2>Revisionen nach lumbaler Diskushernienoperation</h2> <p>Trotz verfeinerter Operationsmethoden werden immer noch Revisionsraten von ca. 14 % nach einer Diskushernienoperation berichtet.<sup>14, 15</sup> Historisch wird von einem bis zu 10-fach erhöhten Risiko für die Notwendigkeit einer Reoperation in den folgenden 10 Jahren nach erfolgter Diskushernienchirurgie gesprochen.<sup>16</sup> Gründe für eine Revisionsoperation können eine Reherniation, eine Infektion, die Operation des falschen Levels oder eine Duraläsion mit Liquorverlustsyndrom sein.</p> <h2>Revisionen nach lumbaler Dekompressionsoperation</h2> <p>Die möglichen Ursachen für eine notwendige Revisionsoperation nach lumbaler Dekompression decken sich weitestgehend mit den oben genannten bei lumbaler Diskushernienoperation. Daneben wäre noch die postoperative Segmentinstabilität zu nennen. Durch zu aggressive Entfernung der Mittellinienstrukturen oder eine Recessotomie mit Wegnahme der Facetten (>50 % )<sup>17</sup> oder bei unerkannter, bereits präoperativ vorhandener Instabilität kann es postoperativ einerseits zu einer mechanischen Lumbalgie<sup>18, 19</sup> kommen, anderseits zur Listhese oder akzelerierten Segmentdegeneration mit oder ohne foraminale Kompression. Die Therapie besteht dann in einer Revision mit Spondylodese.</p> <h2>Revisionen nach Spondylodesen</h2> <p>Nicht nur nach Diskushernien- oder Dekompressionsoperationen, sondern auch nach Fusionen im Bereich der lumbalen Wirbelsäule werden Revisionsraten von ca. 13 % in 5 Jahren<sup>20</sup> und bis zu 20 % in 10 Jahren<sup>21</sup> berichtet. In einer vor Kurzem publizierten prospektiven Studie aus Finnland wurde eine Revisionsrate von 20 % innerhalb von 4 Jahren nach primärer Spondylodese dokumentiert.<sup>22</sup> Mögliche Ursachen für die Notwendigkeit einer Revisionsoperation nach Spondylodese sind Schraubenfehllagen,<sup>23, 24</sup> Pseudarthrosen,<sup>25, 26</sup> Schraubenlockerungen<sup>27</sup> und insbesondere Anschlusssegmentdegenerationen.<sup>22, 25, 26, 28</sup><br /> Anschlusssegmentdegenerationen stellen ein noch wenig verstandenes Problem dar.<sup>29</sup> Es ist unklar, inwieweit eine Spondylodese zum natürlichen Verlauf einer Degeneration eines benachbarten Segments beiträgt oder diese eventuell beschleunigt. Biomechanische Studien zeigen einen vermehrten Stress in den der Fusion benachbarten Bandscheiben. Radiologische Studien zeigen, dass die Anschlusssegmente häufig degenerieren, aber dass dies wenig mit einer klinischen Symptomatik korreliert. Gewisse Autoren berichten von 14 % der Patienten, welche eine symptomatische Anschlusssegmentdegeneration, d.h. eine Anschlusssegmenterkrankung in den ersten fünf Jahren nach einer lumbalen Fusion, entwickeln,<sup>30</sup> andere berichten von bis zu 37 % in zehn Jahren<sup>31</sup>. Es ist unklar, inwieweit und wie schnell ein Nachbarsegment eines erkrankten Segmentes ohne jegliche chirurgische Intervention erkrankt, da eine Segmentdegeneration auch ohne Operation bereits eine pathologische Kinematik beherbergt. Risikofaktoren für eine Anschlusssegmentproblematik sind Fehler in der operativen Technik, Länge der Fusion, sagittale Dysbalance, bereits fortgeschrittene Degeneration, Alter, weibliches Geschlecht und Osteoporose.<sup>32</sup></p> <h2>Konklusionen</h2> <ul> <li>Zu viele Indikationsstellungen zur operativen Behandlung von Wirbelsäulenleiden sind falsch oder unnötig. Sie stellen die Hauptursache des Scheiterns chirurgischer Behandlungen dar und erzeugen revisionsbedürftige Pathologien.</li> <li>Eine Indikation zum wirbelsäulenchirurgischen Eingriff erfolgt bei pathoanatomisch klarer Korrelation von Symptomen und zeitlich und/oder qualitativ unzureichender Wirkung konservativer Massnahmen sowie entsprechendem Leidensdruck. Ausgenommen sind akute Situationen (signifikante neurologische Problematik, instabile Frakturen usw.) und/oder Eingriffe zur Vermeidung von Sekundärschäden.</li> <li>Auch nach korrekter Indikationsstellung können Revisionsoperationen erforderlich werden. Nach Diskushernienoperationen und Spondylodesen können im Langzeitverlauf Revisionsraten von bis zu 20 % auftreten. Die häufigste Ursache für Revisionsoperationen nach Spondylodesen ist die Anschlusssegmenterkrankung.</li> </ul></p>
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<p><strong>1</strong> Boden SD et al.: J Bone Joint Surg Am 1990; 72: 403-8 <strong>2</strong> Epstein NE, Hood DC: Surg Neurol Int 2011; 2: 83 <strong>3</strong> Epstein NE: Surg Neurol Int 2013; 4: S353-8 <strong>4</strong> Gibson JN, Waddell G: Spine 2007; 32: 1735-47 <strong>5</strong> Sedighi M, Haghnegahdar A: Global Spine J 2014; 4: 233-44 <strong>6</strong> Weinstein JN et al.: JAMA 2006; 296: 2451-9 <strong>7</strong> Aichmair A et al.: Evid Based Spine Care J 2014; 5: 77-86 <strong>8</strong> Law JD, Lehman RA, Kirsch WM: J Neurosurg 1978; 48: 259-63 <strong>9</strong> Keskimaki I et al.: Spine 2000; 25: 1500-8 <strong>10</strong> Weinstein JN et al.: J Bone Joint Surg Am 2009; 91: 1295-304 <strong>11</strong> Weinstein JN et al.: N Engl J Med 2008; 358: 794-810 <strong>12</strong> Deyo RA et al.: JAMA 2010; 303: 1259-65 <strong>13</strong> Ramirez LF, Thisted R: Neurosurgery 1989; 25: 226-30; discussion 230-1 <strong>14</strong> Osterman H et al.: Spine 2003; 28: 621-7 <strong>15</strong> Heindel P et al.: Spine 2017; 42: E496-E501 <strong>16</strong> Bruske-Hohlfeld I et al.: Spine 1990; 15: 31-5 <strong>17</strong> Abumi K et al.: Spine 1990; 15: 1142-7 <strong>18</strong> Tamai K et al.: Global Spine J 2017; 7: 21-7 <strong>19</strong> Herkowitz HN, Kurz LT: J Bone Joint Surg Am 1991; 73: 802-8 <strong>20</strong> Greiner-Perth R et al.: Spine 2004; 29: 2516-20 <strong>21</strong> Martin BI et al.: Spine 2007; 32: 382-7 <strong>22</strong> Irmola TM et al.: Spine 2017 [Epub ahead of print] <strong>23</strong> Amato V et al.: J Neurosurg Spine 2010; 12: 306-13 <strong>24</strong> Laine T et al.: Eur Spine J 2000; 9: 235-40 <strong>25</strong> Suh SP et al.: Asian Spine J 2017; 11: 463-71 <strong>26</strong> Adogwa O et al.: J Neurosurg Spine 2013; 18: 139-46 <strong>27</strong> Pearson HB et al.: J Orthop Res 2017 [Epub ahead of print] <strong>28</strong> Scemama C et al.: J Neurosurg Spine 2016; 25: 46-51 <strong>29</strong> Tobert DG et al.: Clin Spine Surg 2017; 30: 94-101 <strong>30</strong> Etebar S, Cahill DW: J Neurosurg 1999; 90: 163-9 <strong>31</strong> Ghiselli G et al.: J Bone Joint Surg Am 2004; 86-A: 1497-503 <strong>32</strong> Park P et al.: Spine 2004; 29: 1938-44</p>
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