
Neue Studie zeigt erhöhtes Risiko für Langzeitgebrauch in der Orthopädie
Bericht:
Dr. med. Felicitas Witte
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Bestimmte orthopädische Eingriffe gehen mit einem erhöhtem Risiko für Opioid-Langzeitgebrauch einher, was die Gefahr von Abhängigkeit und Sucht erhöht. Wie bewahrt man seine Patienten davor, wie sieht eine leitliniengerechte perioperative Schmerzmedikation aus und wie setzt man Opioide verantwortungsvoll ein?
Orthopädische Operationen sind oft sehr schmerzhafte Eingriffe. Zur perioperativen Schmerztherapie sollten in erster Linie Nichtopioidanalgetika eingesetzt werden, unterstützt durch andere Techniken zur Schmerzreduktion. Lindern diese die Schmerzen nicht, können Opioide verwendet werden. Diese wirken stark schmerzlindernd, können aber – wenn auch selten – abhängig machen. Ein Hinweis auf Abhängigkeit ist, wenn der Patient sie noch Monate nach dem Eingriff benötigt. Eine Forschergruppe aus der Schweiz und Deutschland hat nun gezeigt, dass dies besonders nach orthopädischen Operationen häufig vorkommt.1 Von 2326 Patienten aus 11 europäischen Kliniken – darunter 5 aus der Schweiz – nahmen 82 noch nach einem Jahr Opioide und jeder dritte von ihnen hatte einen orthopädischen Eingriff gehabt.
Die Angaben, wie viele Patienten zu Langzeit-Opioidanwendernwerden,schwanken ziemlich. In manchen Studien sind es nur 1–2%, in anderen bis zu 24%. «Jeder Langzeit-Opoidanwender sollte uns zu denken geben», sagt Prof. Dr. med. Winfried Meißner, Leiter der Sektion Schmerztherapie in der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin im Universitätsklinikum Jena, der an der Studie mitgearbeitet hat. «Braucht ein Patient Opioide länger als einige Wochen, muss man gemeinsam mit ihm überlegen, warum das so ist, nach Alternativen suchen und ihn am besten in einem interdisziplinären Schmerzzentrum vorstellen.»
Auch «kleine» Eingriffe sind oft sehr schmerzhaft
Zwei von drei Patienten haben nach orthopädischen Eingriffen Schmerzen und mehr als jeder zweite noch nach 2 Tagen.2 Die Gruppe um Winfried Meißner analysierte bereits vor einiger Zeit, dass orthopädische Eingriffe zu den schmerzhaftesten im Vergleich zu anderen Operationen gehören. In einer ihrer Studien mit 50523 Patienten aus Deutschland belegten Operationen an Knochen und Gelenken 15 der Top-20-Plätze der intensivsten Schmerzen. Darunter waren Operationen an der Wirbelsäule, aber auch vermeintlich «kleine» Eingriffe am Sprunggelenk oder an der Hand.3
Werden Schmerzen nach der Operation nicht genügend gelindert, dauert die Genesung länger und das Risiko für Komplikationen, etwa Thrombosen, steigt. Opioide sind sehr effektiv gegen akute Schmerzen, aber sie können unangenehme Nebenwirkungen, wie Atemprobleme, Schläfrigkeit, Stimmungsveränderungen oder Schwindel, verursachen und sie bergen das Risiko für eine Suchtentwicklung.
Immer mehr Verschreibungen
Langzeit-Opioideinnahme ist einer der Faktoren, die zur Opioidkrise in den Vereinigten Staaten beitragen. Dort starben gemäss der Gesundheitsbehörde CDC von 1999 bis 2021 fast 645000 Menschen an einer Überdosis von Opioiden. Im Jahr 2021 waren es fünfmal so viele wie 1999 und in jedem fünften Fall waren rezeptpflichtige Opioide involviert.
Seit einiger Zeit sorgen sich europäische Ärzte, ob es auch hierzulande zu einer Opioidkrise kommen könnte4 – dies auch unter dem Aspekt, dass jahrzehntelang immer mehr Opioide verschrieben wurden. Von 2000 bis 2019 haben sich die Verkäufe von Opioiden in der Schweiz mehr als verdoppelt und die Anrufe in Giftnotruf-Zentralen wegen behandlungsbedürftiger Opioidüberdosierung verdreifacht.5 Auch in Deutschland werden immer mehr Opioide verschrieben. Immerhin scheinen in der Schweiz die Verkäufe seit 2016 weitgehend stabil zu bleiben. Trotzdem sollte man jede Opioidverschreibung kritisch hinterfragen: In einer Studie der Universität Witten/Herdecke hatte jeder fünfte von 275 Patienten, denen der Arzt Opioide verschrieben hatte, eine Opioidgebrauchsstörung entwickelt.6 Ein solches Verhalten kann zu einer manifesten Sucht führen.
Man dürfe aber jetzt nicht jedem orthopädischen Patienten pauschal Opioide verwehren, sagt Meißner: «Sie sind wertvolle Medikamente, wenn sie verantwortlich eingesetzt werden.» Er kritisiert an den Studien, dass meist alle orthopädischen Operationen in einen Topf geworfen worden wären. «Man kann einen Eingriff nicht mit einem anderen vergleichen, und ausserdem ist noch jeder Patient unterschiedlich.» Johannes Dreiling aus Meißners Arbeitsgruppe hat auf dem Deutschen Anästhesiekongress im April 2023 erste Ergebnisse seiner Studie mit 357428 Patienten vorgestellt.7 Demnach hängt das Risiko für Langzeit-Opioideinnahme zum einen von der Art der Operation ab, zum anderen von den Patienten. So bekam zwar insgesamt nur jeder hundertste aller operierten Patienten 9Monate nach der Operation noch Opioide verschrieben. Aber orthopädische Patienten benötigten sie deutlich öfter als der Durchschnitt aller Operierten: Nach einer Oberschenkelamputation war es jeder sechste, nach einer Unterschenkelamputation jeder siebte und nach Wirbelsäulenoperationen oder teilweisem Schultergelenkersatz jeder sechzehnte. Auch nach wiederholten Knieoperationen nach Ge-lenkersatz – etwa wegen Infekt oder weil sich die Prothese gelockert hatte – und nach Zehenamputation seien noch deutlich mehr Patienten auf Opioide angewiesen als im Durchschnitt, sagt Meißner. Es gäbe zudem Hinweise, dass psychische Erkrankungen wie Depressionen das Risiko erhöhten, nach der Operation noch längere Zeit Opioide zu benötigen. Einen Einfluss hat auch die Tatsache, ob jemand vor der Operation schon Schmerzmittel genommen hat oder nicht.
Prof. Dr. med. Andreas Seekamp, Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), ist von diesen Ergebnissen nicht überrascht: «Die Studie spiegelt wider und belegt mit Zahlen, was wir Orthopäden im Alltag erleben.» Amputationen können Phantomschmerzen verursachen. «Andere Eingriffe – etwa an der Wirbelsäule – sind mitunter schmerzhafter, wenn wir invasiv arbeiten müssen, oder weil – wie im Falle der Schulter – nicht so viele Muskeln und Fettgewebe vorhanden sind wie etwa bei der Hüfte oder beim Knie, die die Schmerzen abfangen können.» Es könnte aber auch sein, dass ein Patient mit Wirbelsäulenproblemen auch an anderen Stellen Verschleisserscheinungen hat, die ihm Schmerzen bereiten, die sich durch die Operation dann natürlich auch nicht bessern. «Deshalb ist es so wichtig, vorab genau zu prüfen, ob die OP-Indikation stimmt», so Seekamp. Dies ist immer eine individuelle Entscheidung. So kann beispielsweise ein Kniegelenkersatz in Betracht gezogen werden, wenn der Patient trotz Analgetika und Physiotherapie im Alltag ständig starke Schmerzen hat, die ihn in seinen Alltagsaktivitäten stark einschränken, sodass er eine verringerte Lebensqualität hat. «Ich möchte nicht ausschliessen, dass manchmal zu rasch zu einer Operation geraten wird», sagt Seekamp. «Vor allem bei Patienten, die jahrelang unter chronischen und starken Schmerzen leiden, muss man die Indikation sehr gründlich prüfen, denn die Betroffenen setzen grosse Hoffnung in die Operation.» Hat ein Patient lange Zeit Schmerzen, kann es sein, dass diese sich verselbstständigt haben und das Schmerzzentrum im Gehirn auf Reize, die sonst keine Schmerzen auslösen, mit einem Schmerzgefühl reagiert. «Hier ist sehr fraglich, ob die Schmerzen nach der Operation verschwinden», sagt Seekamp. «Womöglich profitiert der Patient mehr von einer multimodalen Schmerztherapie.»
Alternativen zu Opioiden
Wie Schmerzen nach orthopädischen Operationen behandelt werden sollten, ist in Leitlinien festgehalten. So empfiehlt die Europäische Gesellschaft für Regionalanästhesie und Schmerztherapie in erster Linie nichtopioidhaltige Medikamente wie Paracetamol oder Ibuprofen. Die Schmerzmittel sollten schon vor oder während des Eingriffs gegeben werden. Opioide sind der «Rettungsanker», der erst eingesetzt werden sollte, wenn andere Massnahmen nicht helfen. Neben klassischen Schmerzmitteln sollte man auch andere Techniken zur Schmerzreduktion nutzen, zum Beispiel Injektionen mit Lokalanästhetika, eine intravenöse Cortisondosis oder – nach Eingriffen an der Wirbelsäule – einen Epiduralkatheter. «Wenn der Patient trotzdem ein Opioid braucht, sollte man ihn nach ein paar Wochen wieder einbestellen und mit ihm gemeinsam nach der Ursache suchen», rät Meißner. «Und wenn er trotz normalen Heilungsverlaufs weiterhin Schmerzen hat, sollten zunächst kurzfristig Nichtopioid-Analgetika und nichtmedikamentöse Alternativen eingesetzt werden, beispielsweise Physiotherapie oder transkutane elektrische Nervenstimulation.»
PrePac: Projekt zur Prävention von Schmerzchronifizierung
In der eingangs erwähnten Studie aus der Schweiz und Deutschland hatten Patienten, die vorab schon Opioide wegen chronischer Schmerzen nahmen, ein höheres Risiko für einen Opioid-Langzeitgebrauch.1 Eine der Massnahmen, um Opioid-Langzeitabhängigkeit zu verhindern, ist daher die Prävention chronischer Schmerzen. Dies ist das Ziel des PrePaC-Projektes des Schmerzzentrums im Inselspital Bern.8 Pre-PaC steht für «Prevention of Pain Chronification». Das Projekt wird von der Gesundheitsförderung Schweiz finanziert. Patienten mit akuten Schmerzen sollen so unterstützt und behandelt werden, dass ihre Schmerzen nicht chronisch werden. Die Projektleiter organisieren unter Einbezug von Betroffenen ein Netzwerk aus Experten, damit Patienten, Arbeitgeber und Fachleute rasch den richtigen Ansprechpartner finden. Zudem entwickeln sie einen Gesundheitspfad, damit Risikofaktoren für Chronifizierung früh erkannt und die Betroffenen evidenzbasiert therapiert und sozialmedizinisch betreut werden. Ausserdem sollen Kurse zum biopsychosozialen Schmerzmodell für Patienten, Fachleute und Arbeitgeber angeboten werden und darüber hinaus wird eine Internetplattform mit leicht verständlichen, evidenzbasierten Informationen aufgebaut.
«Insbesondere die soziale Komponente im biopsychosozialen Modell wird in der Therapie noch viel zu wenig berücksichtigt», sagt Prof. Dr. med. Konrad Streitberger, Projektleiter von PrePac und Leiter des Schmerzzentrums im Inselspital Bern. «Ich kann verstehen, dass im hektischen Praxisalltag wenig Zeit ist und man rasch ein Analgetikum verschreibt, statt zu eruieren, welche psychosozialen Faktoren den Schmerz aufrechterhalten.» Das sind zum Beispiel Stress, Depressionen, Ängste oder Probleme im Job oder in der Partnerschaft. Hinzu komme das Tarifsystem, sagt Streitberger, das falsche Anreize schaffe und die rasche Verschreibung eines Schmerzmittels fördere, um kurze Konsultationszeiten einzuhalten. «Leider haben wir immer noch keine Möglichkeit, Prävention, Gesundheitsförderung und Sozialberatung des Patienten abzurechnen», sagt Streitberger. «Im Rahmen des Projekts konnten wir einmalig in der Schweiz eine Sozialarbeiterin für das Schmerzzentrum einstellen und eine sozialmedizinische Schmerzsprechstunde aufbauen. Ein modernes Gesundheitssystem wie das unsrige sollte hier endlich umdenken.»
Das PrePaC-Projekt soll fortwährend evaluiert werden. Auf der Internetseite werden schon Fortbildungen angeboten. Man kann an die Projektleiter schreiben und mitmachen, und es werden jetzt die ersten Patienten in einen Gesundheitspfad «Akute muskuloskelettale Schmerzen – Prävention einer Chronifizierung» eingebunden.
Streitberger hält Prävention und Aufklärung auch deshalb für dringend notwendig, weil die Schweizer immer mehr Schmerzmittel nehmen. Hatte in der Schweizerischen Gesundheitsbefragung im Jahr 1992 in der Woche zuvor «nur» jeder Achte Schmerzmittel genommen, war es 2007 schon jeder Fünfte und im Jahr 2022 jeder Vierte.9 Gemäss dem Marktforschungsinstitut IQVIA werden in der Schweiz pro Jahr rund 22,4 Millionen Packungen Schmerzmittel verkauft, davon 14,4 Millionen rezeptfrei. «Jeder Arzt, jede Ärztin muss immer kritisch hinterfragen, wenn der Patient regelmässig Schmerzmittel nimmt oder ständig nach einem Rezept fragt», sagt Streitberger. Sorgen macht ihm vor allem, dass Patienten mit chronischen Schmerzen Opioide nehmen. «Der Patient entwickelt eine Toleranz, die Opioide wirken nicht mehr, und der Patient hat ein hohes Risiko für Abhängigkeit oder eine Überdosis. Immerhin ist hierzulande die Abgabe von Opioiden strenger kontrolliert, aber wohin das führen kann, zeigt uns die Opioidkrise in den USA.»
Inadäquate Opioidverschreibungen
Im Jahr 2022 erhielten 500000 Personen in der Schweiz innerhalb von 3 Monaten zwei oder mehr Schmerzmittel.
Davon erhielten 125000 Personen (25%) eine gemäss Qualitätsindikatoren inadäquate Opioidverschreibung.
Quelle: Helsana, Hochrechnung auf die gesamte Schweiz (2002) https://reports.helsana.ch/versorgung/#drei
Literatur:
1 Hofer DM et al.: Trajectories of pain and opioid use up to one year after surgery: analysis of a European registry. Br J Anaesth 2024; 132(3): 588-98 2 Ndebea AS et al.: Prevalence and risk factors for acute postoperative pain after elective orthopedic and general surgery at a tertiary referral hospital in tanzania. J Pain Res 2020; 13: 3005-11 3 Gerbershagen HJ et al.: Pain intensity on the first day after surgery: a prospective cohort study comparing 179 surgical procedures. Anesthesiology 2013; 118(4): 934-44 4 Just J et al.: Kritische Auseinandersetzung mit neuen Daten zur Prävalenz von Opioidgebrauchsstörungen bei Patienten mit chronischen Schmerzen in Deutschland. Schmerz 2022; 36: 13-18 5 Hooijman MF et al.: Opioid sales and opioid-related poisonings in Switzerland: a descriptive population-based time-series analysis. Lancet Reg Health Eur 2022; 20: 100437 6 Just JM et al.: Rate of opioid use disorder in adults who received prescription opioid pain therapy-A secondary data analysis. PLoS One 2020; 15(7): e0236268 7 Dreiling J et al.: Persistierender Opioidgebrauch nach operativem Eingriff – erste Ergebnisse der LOPSTER-Studie. Anästh Intensivmed 2023; 64(Suppl 7): S180-1 8 https://schmerzzentrum.insel.ch/de/unser-angebot/projekt-prepac-prevention-of-pain-chronification 9 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022. www.bag.admin.ch
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