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Standards in der Versorgung von Multiligamentverletzungen des Kniegelenks
Jatros
Autor:
Prim. PD Dr. Vinzenz Smekal
UKH Klagenfurt<br>E-Mail: vinzenz.smekal@auva.at
30
Min. Lesezeit
20.09.2018
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<p class="article-intro">Multiligamentverletzungen gelten als schwerste Weichteilverletzungen des Kniegelenkes. Aufgrund ihrer Seltenheit, der unterschiedlichen Ausprägungen und Verletzungsschwere sowie der unterschiedlichen Behandlungsstrategien fehlen Studien mit großen Fallzahlen und homogenen Patientenkollektiven. Nach heutigem Stand liegt deshalb in der Behandlung dieser Verletzungen kein evidenzbasierter Standard vor. Einige Metaanalysen auf der Basis von veröffentlichten Fallserien erlauben allerdings Rückschlüsse hinsichtlich der bestmöglichen Behandlung.</p>
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<p class="article-content"><h2>Ätiologie</h2> <p>Multiligamentverletzungen am Knie sind in der Regel Hochenergietraumen und können als Kniegelenksluxation vorliegen. Dabei lässt sich ein weites Spektrum von Niedriggeschwindigkeitstraumen bei adipösen Patienten bis hin zu Hochgeschwindigkeitstraumen bei polytraumatisierten Patienten beobachten. Die Diversität und Komplexität, mit einer hohen Rate an begleitenden Gefäß-, Nerven- und Weichteilverletzungen, machen unterschiedlichste individuelle Herangehensweisen notwendig und beeinflussen die zeitliche Abstimmung und das Behandlungsverfahren selbst.</p> <h2>Klassifikation</h2> <p>Klassifikationen der Kniegelenksluxationen respektive Multiligamentverletzungen sind die Voraussetzung für die wissenschaftliche Diskussion, da dadurch Behandlungsergebnisse erst vergleichbar werden. Sie werden nach der Richtung der Gewalteinwirkung klassifiziert. Da die Tibia in Relation zum Femur luxiert, werden Luxationen je nach der Position der Tibia in vordere, hintere, laterale, mediale und rotatorische Kniegelenksluxationen eingeteilt. <br />Die vordere Luxation entsteht durch ein Überstreckungstrauma, die hintere Luxation durch ein Anpralltrauma, auch als „dashboard injury“ bezeichnet; mediale und laterale Luxationen entstehen durch Gewalteinwirkung von innen oder außen auf das Kniegelenk. <br />Multiligamentverletzungen mit regelrechtem Gelenkkontakt werden nach vorliegenden strukturellen Schäden anhand der anatomischen Klassifikation nach Schenk eingeteilt. Als KD III M wird die Ruptur des vorderen und hinteren Kreuzbandes sowie des medialen Seitenbandes klassifiziert. KD III L bezeichnet die Ruptur des vorderen und hinteren Kreuzbandes sowie des lateralen und posterolateralen Seitenbandkomplexes. Als KD IV bezeichnet man die Ruptur aller vier Hauptligamente. Das Suffix C bezeichnet dabei eine zusätzlich vorliegende Gefäßverletzung, das Suffix N eine zusätzlich vorliegende Nervenverletzung. <br />So bezeichnet KD III L C N eine Ruptur beider Kreuzbänder, des lateralen und posterolateralen Seitenbandkomplexes, begleitet von einer Verletzung der Poplitealarterie und des Tibialis- oder Peroneusnervs.</p> <h2>Diagnose und Akutversorgung</h2> <p>Die Diagnose einer Kniegelenksluxation ist vor allem beim Management schwerst verletzter Patienten eine Herausforderung, da die Behandlung offensichtlicher lebensbedrohlicher Verletzungen die Aufmerksamkeit des Unfallchirurgen oder Notfallmediziners bindet. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass bei der Einlieferung die meisten Luxationen reponiert vorliegen (okkulte Luxationen). Eine übersehene Kniegelenksluxation mit begleitendem Gefäßschaden führt in der Regel zu einer akuten Ischämie, die konsekutiv zum Verlust des Beines führt und durch metabolischen Zerfall und Azidose das Leben eines Schwerverletzten gefährdet. So hat in der Akutversorgung der Erhalt des Lebens vor Erhalt der Extremität durch Behandlung von Gefäß- und Nervenschäden oberste Priorität. Die kontrollierte algorithmische Abarbeitung nach ATLS oder ETC ist daher in der Diagnostik unabdingbar. Wegen desaströser Ergebnisse nach übersehener Gefäßverletzung ist bei Vorliegen einer Kniegelenksluxation oder Multiligamentverletzung die Durchführung eines Angio-CT notwendig.</p> <h2>Behandlungsziele</h2> <p>Ziele der Akutversorgung sind die Erhaltung des Lebens – vor Erhalt der Extremität – sowie die Behandlung von Instabilität und Schmerz. Ziele der definitiven Behandlung von Multiligamentverletzungen sind die Wiederherstellung von Stabilität, Beweglichkeit und eines Aktionsradius, der – bezogen auf Arbeit und Sport – dem vor der Verletzung gleicht. <br />Wie diese Ziele am besten erreicht werden können, ist ein kontrovers debattiertes Thema, das von der zeitlichen Abstimmung bis zum bestmöglichen Behandlungsverfahren reicht. Akzeptiert scheint nach der Veröffentlichung von zwei großen Metaanalysen, welche die Ergebnisse von konservativem und operativem Vorgehen vergleichen, dass man mit der operativen Stabilisierung ausreichende Beweglichkeit und Stabilität sowie einen zufriedenstellenden Aktivitätsgrad, bezogen auf Arbeit und Sport, besser und häufiger erreichen kann als mit der konservativen Therapie. Diese Ergebnisse machen die operative Therapie zu einer attraktiven Behandlungsoption für aktive Patienten im erwerbsfähigen Alter. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass ungeachtet besserer Ergebnisse insgesamt die vorgegebenen Ziele trotz operativer Intervention aufgrund der Schwere der Verletzung nicht für alle Patienten in gleichem Ausmaß erreicht werden können.</p> <h2>Zeitliche Abstimmung der Behandlungsmaßnahmen</h2> <p>Die derzeitige Studienlage lässt dazu unterschiedliche Sichtweisen erkennen. Sowohl die frühe als auch die späte operative Behandlung dieser Verletzungen hat demnach Vor- und Nachteile. <br />Die frühe Versorgung, innerhalb der ersten 7–10 Tage, erlaubt eine bessere Zuordnung der verletzten Strukturen und eignet sich somit besser für die Wiederherstellung der Länge der gerissenen Bänder und Identifikation ihrer Ursprungs- und Ansatzpunkte. Allerdings ist ein arthroskopisches, minimal invasives Vorgehen aufgrund der gerissenen Gelenkskapsel und der damit verbundenen Gefahr eines Kompartmentsyndroms durch Flüssigkeitsaustritt nicht möglich. Das invasivere offene Vorgehen ist mit einem höheren Infektions- und Arthrofibroserisiko verbunden. Bei der späten Versorgung ist zu bedenken, dass die im Verlauf einsetzende Vernarbung die Wiederherstellung der Anatomie durch direkte Naht und Reinsertion unmöglich macht. <br />In Europa werden zur Rekonstruktion vorwiegend autologe Sehnen verwendet, da Spendersehnen das Risiko der Infektionsübertragung bergen, schwerer verfügbar und teuer sind. Die Rekonstruktion wird zum überwiegenden Teil arthroskopisch durchgeführt. Die Gefahr der Arthrofibrose ist aufgrund der geringen Invasivität vernachlässigbar, die Verwendung autologer Sehnen führt aber zu einer beträchtlichen Entnahmemorbidität. <br />Bei Patienten, die früh versorgt werden, kann zwar ein subjektiv besseres Ergebnis erzielt werden, die Rate anteriorer Rezi­divinstabilitäten ist jedoch höher als bei den Spätversorgungen. Insgesamt konnte aber sowohl für das Bewegungsausmaß als auch für die Stabilität kein signifikanter Unterschied gefunden werden.<br />Die Entscheidung, ob eine frühe oder späte Versorgung durchgeführt werden soll, ist abhängig vom Zustand des Patienten und von der Schwere seiner Verletzung. Frühversorgungen sind bei Polytraumen oder begleitenden schweren Weichteil- und Gefäßverletzungen nicht möglich. Stattdessen muss zur Stabilisierung ein externer Spanner montiert werden. Eine frühe Naht der peripheren Bänder und eine späte Versorgung durch Rekonstruktion der Kreuzbänder mit Sehnentransplantaten sind dabei vorteilhaft.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Ortho_1805_Weblinks_s24_1.jpg" alt="" width="1418" height="833" /></p> <h2>Rekonstruktion versus Naht</h2> <p>Speziell im englischen Sprachraum wird basierend auf den Ergebnissen von drei Studien die Rekonstruktion mit Sehnentransplantaten favorisiert. Mariani et al. verglichen in einer retrospektiven Studie anhand von zwei Gruppen zu je 6 Patienten die Rekonstruktion der Kreuzbänder mit Sehnentransplantaten gegen die direkte Reinsertion und Naht. Sie konnten mit der Rekonstruktion in einem Nachuntersuchungszeitraum von fast 7 Jahren bessere Beweglichkeit, Stabilität und Aktivität erzielen als mit der direkten Naht.<sup>1</sup><br />Levy et al. verglichen die Ergebnisse von 10 Patienten, bei welchen eine primäre Naht des lateralen Seitenbandkomplexes und zweizeitig eine Rekonstruktion des hinteren Kreuzbandes mit Sehnengewebe durchgeführt wurden, mit 18 Patienten, bei denen bei ähnlichen Verletzungen eine einzeitige Rekonstruktion mit Sehnengewebe durchgeführt wurde. Die Versagensrate betrug bei Naht kombiniert mit später Rekonstruktion 40 % , verglichen mit 6 % bei der einzeitigen Rekonstruktion mit Sehnengewebe.<sup>2</sup> Diese Ergebnisse bestätigen die zuvor durchgeführte Studie von Stannard et al. für die Behandlung des lateralen Seitenbandkomplexes.<sup>3</sup><br />Weit verbreitet ist deshalb die zweizeitige Versorgung der Multiligamentverletzungen mit primärer Naht der Seitenbänder und sekundärer arthroskopischer Rekonstruktion der Kreuzbänder sowie der Rekonstruktion der posterolateralen Ecke mit Sehnentransplantaten.<br />Frosch et al. haben zu diesem Thema eine Metaanalyse verfasst, die im Gegensatz zu allen bisher publizierten Studien erstmals anhand individueller Patientendaten das Verletzungsmuster und somit die Verletzungsschwere mitberücksichtigt. Damit ist es erstmals gelungen, mehr Homogenität innerhalb der Behandlungsgruppen zu erzielen und somit Patientenkollektive anhand ihrer Pathologie vergleichbar zu machen. So konnten die Autoren erstmals zeigen, dass die Verletzungsschwere einen signifikanten Einfluss auf das Ergebnis hat. KD III M zeigt aufgrund der besseren Durchblutung der medialen Seite bessere Ergebnisse als KD III L. Die schlechteste Prognose zeigte KD IV. Bei einem vergleichbaren Patientenkollektiv wurden keine signifikanten Unterschiede in den funktionellen Ergebnissen nach Naht oder Rekonstruktion der Zentralpfeiler gefunden. Die Versagensrate beider Verfahren liegt je bei 20 % .<sup>4</sup><br />Daher unterstützen diese Ergebnisse ein zweizeitiges Vorgehen mit primärer Naht der Seitenbänder ohne primäre Naht der Zentralpfeiler nicht. Aufgrund der Ergebnisse, allerdings aus der Literatur mit hoher Versagensrate der lateralen Bandnaht, wird die primäre laterale Augmentation mit einer autologen Gracilissehne favorisiert.</p> <h2>Bandschienung („ligament bracing“)</h2> <p>Bandnähte erreichen weniger als 100 Newton (N) Zugfestigkeit. Die während der Rehabilitation auf das vordere Kreuzband einwirkenden Kräfte betragen bis zu 154N. Aufgrund dessen wird zum Schutz der genähten Bänder das Konzept des „ligament bracing“ empfohlen. Dazu werden die genähten Bänder mit parallel verlaufenden transossären Ausziehnähten geschient. Die Versagenslast liegt für FiberWire® Nr. 2 und Nr. 5 über 460 N. Somit kann ein suffizienter Schutz während der Heilungsphase gewährleistet werden.<br />Heitmann et al. berichten in einer prospektiven Studie über 20 Kniegelenksluxationen, die nach dem Prinzip des „ligament bracing“ behandelt wurden. Zum überwiegenden Teil konnten mit dieser Technik sowohl subjektiv wie auch objektiv stabile Ergebnisse erzielt werden. Rezidivinstabilitäten betrafen bei den nachuntersuchten Patienten nur intraligamentäre vordere Kreuzbandrisse. Hintere oder periphere Instabilitäten wurden nicht beobachtet.<sup>5</sup></p> <h2>Abgeleitetes Vorgehen</h2> <p>Basierend auf der derzeitigen verfügbaren Datenlage aus der Literatur lässt sich für uns folgendes Behandlungsregime ableiten.</p> <p><strong>Kniegelenksluxationen als Monotrauma ohne Gefäßverletzung</strong></p> <p>KD III M: Naht und Bandschienung von HKB, VKB, MSB <br />KD III L: Naht und Bandschienung von HKB, VKB, Augmentation der PLS mit der Gracilis- oder Semitendinosussehne<br />KD IV: Naht und Bandschienung von HKB, VKB, MCL, Augmentation der PLS mit der Gracilis- oder Semitendinosussehne</p> <p><strong>Kniegelenksluxation im Rahmen eines Polytraumas ohne Gefäßverletzung</strong></p> <p>KD III M, KD III L, KD IV: Stabilisierung mit Fixateur externe, wenn möglich frühe Naht der Seitenbänder; späte arthroskopische Rekonstruktion mit autologen Sehnen</p> <p><strong>Kniegelenksluxation als Monotrauma mit Gefäßverletzung</strong></p> <p>KD III M C, KD III LC, KD IV C: Stabilisierung mit Fixateur externe, Gefäßrekonstruktion, Naht der Seitenbänder, Fasziotomie; späte arthroskopische Rekonstruktion mit autologen Sehnen</p> <p><strong>Kniegelenksluxation im Rahmen eines Polytraumas mit Gefäßverletzung</strong></p> <p>KD III M C, KD III L C, KD IV C: Entscheidungsfindung nach Verletzungsschwere und Allgemeinzustand des Patienten hinsichtlich Extremitätenerhalt („life for limb“), Stabilisierung mit Fixateur externe, Gefäßrekonstruktion, wenn möglich Naht der Seitenbänder, Fasziotomie; späte arthroskopische und offene Rekonstruktion mit autologen Sehnen<span class="Artikelende" style="font-size: 1em;" xml:lang="de-DE">n</span></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Mariani PP et al.: Comparison of surgical treatments for knee dislocation. Am J Knee Surg 1999; 12: 214-21 <strong>2</strong> Levy BA et al.: Decision making in the multiligament-injured knee: an evidence-based systematic review. Arthroscopy 2009; 25: 430-8 <strong>3</strong> Stannard JP et al.: The posterolateral corner of the knee: repair versus reconstruction. Am J Sports Med 2005; 33: 881-8 <strong>4</strong> Frosch KH et al.: Primary ligament sutures as a treatment option of knee dislocations: a meta-analysis. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 2013; 21: 1502-9 <strong>5</strong> Heitmann M et al.: Ligament bracing augmented primary suture repair in multiligamentous knee injuries. Oper Orthop traumatol 2014; 26(1): 19-29<br /><strong>Weiterführende Literatur:</strong> <br />• Dedmond BT, Almekinders LC: Operative versus nonoperative treatment of knee dislocations: a meta-analysis, Am J Knee Surg 2001; 14(1): 33-8 • Engebretsen L et al.: Knee mechanics after repair of the anterior cruciate ligament. A cadaver study of ligament augmentation. Acta Orthop Scand 1989; 60: 703-9 • Green NE, Allen BL: Vascular injuries associated with dislocation of the knee. J Bone Joint Surg Am 1977; 59(2): 236-9 • Harner CD et al.: Surgical management of knee dislocations. J Bone Joint Surg 2004; 86A: 262-73 • Levy BA et al.: Controversies in the treatment of knee dislocations and multiligament knee reconstruction. J Am Acad Orthop Surg 2009; 17(4): 197-206 • Liow RY et al.: Ligament repair and reconstruction in traumatic dislocation of the knee. J Bone Joint Surg Br 2003; 85(6): 845-51 • Mabvuure NT et al.: State of the art regarding the management of multiligamentous injuries of the knee. Open Orthop J 2014; 8: 215-8 • Noyes FR et al.: Biomechanical analysis of human ligament grafts used in knee-ligament repairs and reconstructions. J Bone Joint Surg Am 1984; 66: 344-52 • Peek RD, Haynes DW: Compartment syndrome as a complication of arthroscopy. A case report and a study of interstitial pres­sures. Am J Sports Med 1984; 12(6): 464-8 • Peskun CJ, Whelan DB: Outcomes of operative and nonoperative treatment of multiligament knee injuries: an evidence-based review. Sports Med Arthrosc Rev 2011; 19(2): 167-73 • Petri M al.: Comparison of three suture techniques and three suture materials on gap formation and failure load in ruptured tendons: a human cadaveric study. Arch Orthop Trauma Surg 2012; 132: 649-54 • Plancher KD, Siliski J: Long-term functional results and complications in patients with knee dislocations. J Knee Surg 2008; 21(4): 261-8 • Schenck R Jr: Classification of knee dislocation. Oper Tech Sports Med 2003; 11: 193-8</p>
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