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Sport statt Vitamin D für gesunde Senioren?
Leading Opinions
30
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27.09.2018
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<p class="article-intro">Ältere Menschen haben öfter Osteoporose und stürzen schneller – was lag näher, als Vitamin D zur Prophylaxe zu propagieren? Denn das Vitamin schützte in früheren Studien vor Stürzen und Frakturen. Doch eine Analyse grosser Studien zeigt jetzt: Vitamin D schützt gesunde Senioren, die zu Hause leben, nicht vor Stürzen oder Knochenbrüchen. Senioren sollten besser Kraft und Gleichgewicht trainieren, Stolperfallen vermeiden und dafür sorgen, dass sie gut sehen.</p>
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<p class="article-content"><p>Es gibt kaum ein Thema, bei dem die Meinung so gespalten ist wie bei der Vitamin-D-Prophylaxe. Befürworter sagen, Vitamin-D-Supplemente schützen Senioren vor Stürzen und Knochenbrüchen. Kritiker halten dagegen, die Evidenz sei zu schwach. Wer hat recht? Jüngst hat die US Preventive Services Task Force (USPSTF), die das amerikanische Gesundheitsministerium berät, ein Fazit gezogen:<sup>1</sup> Prof. Dr. med. David Grossman vom Kaiser Permanente Washington Health Research Institute in Seattle und seine Kollegen von der Task Force sprechen sich gegen eine Supplementierung mit Vitamin D aus. Vitamin D schütze gesunde Senioren, die zu Hause leben, nicht vor Stürzen oder Knochenbrüchen. «Wenn sich ein Senior regelmässig bewegt und ins Freie geht, benötigt er keine Vitamin-D-Supplementierung», sagt Prof. Dr. med. Helmut Schatz, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie und emeritierter Professor der Ruhr-Universität in Bochum. «Die USPSTF-Empfehlung bezieht sich aber nur auf Menschen ohne Osteoporose und ohne nachgewiesenen Vitamin-D-Mangel.»<br /> Wegen der zunehmenden Lebenserwartung werden osteoporotische Frakturen ein immer grösseres Problem – nicht nur für die Betroffenen, sondern wegen der Kosten für Therapie und Nachbetreuung auch für das Gesundheitssystem. Vitamin D sorgt bekanntermassen dafür, dass Kalzium im Darm resorbiert und in den Knochen eingebaut wird, wodurch die Knochen stabil bleiben. Ausserdem spielt es eine Rolle bei der Muskelkraft und bei der Koordination. Senioren haben öfter brüchige Knochen und Gleichgewichtsprobleme, was ein grosses Risiko für Stürze und Knochenbrüche birgt. Was lag also näher, als Vitamin D zur Vorbeugung zu probieren? So zeigten denn auch erste Studien, dass Vitamin-D-Supplemente vor Stürzen und Frakturen schützen, aber andere bestätigten dies nicht. Die U.S. Task Force hatte deshalb zwei Expertengruppen gebeten, die Literatur zu sichten und darüber zu berichten.<br /> Die erste Gruppe<sup>2</sup> fand fünf Studien mit insgesamt 3496 Teilnehmern über 64 Jahre, die zu Hause lebten. Nur in einer Studie stürzten diejenigen, die Vitamin D erhielten, seltener, in einer anderen war es unter einer hoch dosierten jährlichen Vitamin-D-Therapie sogar zu einem Anstieg der Zahl von Stürzen und Knochenbrüchen gekommen. In den übrigen drei Studien beeinflusste Vitamin D das Risiko für Stürze nicht. Auch die zweite Expertengruppe<sup>3</sup>, die vier Studien mit insgesamt 10 606 Erwachsenen auswertete, sprach sich anhand der Ergebnisse gegen Vitamin D aus. Niedrig dosiertes Vitamin D, also täglich 400 IE oder weniger, senkte das Risiko für Knochenbrüche nicht. In den beiden anderen Studien mit 800 IE senkte Vitamin D in einer das Risiko, in der anderen nicht. Ebenso erzielte die Kombination mit Vitamin D plus Kalzium keine überzeugende Wirkung. Nicht vergessen dürfe man zudem das Risiko für potenzielle Nebenwirkungen, sagt Prof. Schatz. So bekamen in einer der Studien, der Women’s Health Initiative, Frauen im Behandlungsarm mit Vitamin D und Kalzium häufiger Nierensteine.<sup>4</sup> «Alle Studienteilnehmer durften zur Studienmedikation aber zusätzlich Vitamin D und Kalzium einnehmen», sagt Prof. Dr. med. Heike Bischoff-Ferrari, Direktorin der Klinik für Geriatrie am Universitätsspital und am Stadtspital Waid in Zürich. «Das führte dazu, dass viele Teilnehmerinnen 2000 Milligramm und mehr Kalzium nahmen, was das erhöhte Nierensteinrisiko erklären könnte.» Das Fazit der amerikanischen Expertengruppe ist dennoch klar: Ältere Menschen, die zu Hause leben, könnten sich am besten mit regelmässigem Sport vor Stürzen und Knochenbrüchen schützen. Denn in den Studien verletzten sich Senioren seltener, wenn sie körperlich aktiv waren.</p> <h2>Risikolose Vitamin-D-Bildung durch Sonne</h2> <p>Prof. Bischoff-Ferrari ist jedoch kritisch: «Dem könnte ich nur zustimmen, wenn Senioren keinen Vitamin-D-Mangel und kein erhöhtes Risiko für Knochenbrüche haben», sagt die Altersmedizinerin. «Das ist aber bei einigen der Fall.» So geht das Bundesamt für Gesundheit davon aus, dass jeder Zweite einen Vitamin-D-Spiegel von weniger als 20ng/ml hat. Was klar ist: Bei schwerem Mangel bekommen Kinder eine Rachitis und Erwachsene eine Osteomalazie. Weniger als 20ng/ml gelten gemäss dem unabhängigen American Institute of Medicine als unzureichend für die Knochen und die allgemeine Gesundheit. Werte zwischen 20ng/ml und 50ng/ml werden als adäquat erachtet (Tab. 1).<sup>5</sup> Die Vitamin-D-Grenzwerte sind jedoch nicht gemäss einem wissenschaftlichen Konsensusprozess festgelegt worden und es ist bisher nicht klar bewiesen, ab welchem Wert gesundheitliche Auswirkungen zu befürchten sind.<br /> Weniger als 20ng/ml, aber noch über 12ng/ml sei bei einem gesunden Senior ohne irgendwelche Beschwerden kein Grund für eine Therapie, sagt Prof. Schatz. «Voraussetzung ist allerdings, dass man genügend in die Sonne geht, damit das Vitamin D in der Haut aktiviert wird.» Zwischen März und Oktober sollte man Gesicht, Hände und Teile von Armen und Beinen täglich für etwa 15 Minuten unbedeckt der Sonne aussetzen. Sorgen machen sich Ärzte gleichzeitig aber wegen des erhöhten Hautkrebs-Risikos. Eine risikolose Vitamin-D-Bildung durch die Sonne ist aber möglich, so eine Einschätzung des Bundesamtes für Gesundheit.<sup>6</sup> Die für die Bildung von 600 IE Vitamin D jeweils notwendige Aufenthaltsdauer an der Sonne ist deutlich kürzer als die Zeit, ab der mit einem Sonnenbrand gerechnet werden muss (Tab. 2 und 3). Es ist somit möglich, an sonnigen Tagen von Mitte März bis Mitte Oktober über die ungeschützte Haut von Gesicht, Armen und Händen genügend Vitamin D ohne Sonnenbrandrisiko zu bilden. In der Mittagssonne ist das benötigte Vitamin D in weniger als 10 Minuten produziert. Empfohlen wird wegen der Sonnenbrandgefahr allerdings die Sonnenbestrahlung am Vor- oder Nachmittag – dann dauert es im Sommer bis zu einer halben Stunde und im Frühling und Herbst bis zu einer Stunde, um ausreichend Vitamin D zu bilden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s58_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="729" /></p> <p> </p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s58_tab2.jpg" alt="" width="1417" height="978" /></p> <p> </p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s58_tab3.jpg" alt="" width="1417" height="1062" /></p> <h2>Kraft und Gleichgewicht zur Sturzprophylaxe trainieren</h2> <p>Allerdings sei die Sonne keine verlässliche Quelle, sagt Prof. Bischoff-Ferrari: «Mit zunehmendem Alter nimmt die hauteigene Vitamin-D-Produktion ab, und oftmals ist die Haut mit Kleidung bedeckt oder man trägt Sonnenschutz auf. Hinzu kommt, dass Vitamin D nur einige Wochen im Körper bleibt und die Werte über den Winter sinken.» Das Thema Vitamin D bei gesunden Menschen ist für die Zürcher Professorin noch nicht abgehakt. «Wir haben noch zu wenige Daten in der Prävention.» In den kommenden Jahren werden die Ergebnisse dreier grosser Studien herauskommen (DO-HEALTH, VITAL und D-Health). «Dann werden wir mehr wissen.»<br /> Klar für eine Vitamin-D-Substitution spricht, wenn ein älterer Erwachsener bereits einmal gestürzt ist oder eine Osteoporose oder einen Vitamin-D-Mangel hat oder wenn er im Pflegeheim lebt und kaum ins Freie geht. «Für diese Menschen gelten die Empfehlungen der Amerikaner nicht», sagt Bischoff-Ferrari. «Hier haben wir gute Daten, dass 800 bis 1000 IE Vitamin D pro Tag vor Stürzen und Knochenbrüchen schützen.» Wichtig sei aber, dass man das Vitamin nicht als einmalige hohe Jahresdosis bekomme. «Diese hohen Einmaldosierungen erhöhen wiederum das Risiko – deshalb empfehlen wir das seit 2012 nicht mehr.»<br /> Zur Sturzprophylaxe solle man Senioren noch andere Tipps geben, rät Bischoff-Ferrari: Kraft und Gleichgewicht trainieren, dafür sorgen, dass man gut sieht, feste Schuhe tragen, genügend Proteine essen, um dem Muskelabbau vorzubeugen, die Wohnung von Sturzfallen wie losen Teppichen oder Badematten befreien und genügend Licht machen. «Damit senkt man sein Sturzrisiko enorm», so Bischoff-Ferrari.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Grossman DC et al.: Interventions to prevent falls in community-dwelling older adults. US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA 2018; 319(16): 1696-704 <strong>2</strong> Guirguis-Blake JM et al.: Interventions to prevent falls in older adults: a systematic review for the U.S. Preventive Services Task Force: Evidence Synthesis No. 159. Rockville, MD: Agency for Healthcare Research and Quality; 2018. AHRQ publication 17-05230- EF-1 <strong>3</strong> Kahwati LC et al.: Vitamin D, calcium, or combined supplementation for the primary prevention of fractures in community-dwelling adults. Evidence report and systematic review for the US Preventive Services Task Force. JAMA 2018; 319: 1600-12 <strong>4</strong> Jackson RD et al.: Women’s Health Initiative Investigators. Calcium plus vitamin D supplementation and the risk of fractures. N Engl J Med 2006; 354: 669-83 <strong>5</strong> https://ods.od.nih.gov/factsheets/ VitaminD-HealthProfessional/#en1 <strong>6</strong> Bundesamt für Gesundheit: Faktenblatt Vitamin D und Sonnenstrahlung. 10. 3. 2017, online unter https://www.bag.admin.ch (letzter Aufruf 28. 7. 2018)</p>
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