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Sagittale Balance in der Wirbelsäulenchirurgie

<p class="article-intro">Die sagittale Balance auf Basis eines ausgeglichenen sagittalen Profils ermöglicht uns das aufrechte Stehen ohne wesentlichen Energieaufwand. Mit zunehmender Abweichung steigen die Anforderungen an die kompensatorischen Möglichkeiten und die Muskulatur. Seit Jahren widmet sich die Literatur der Erfassung des Profils der gesunden Wirbelsäule. Erst seit Kurzem mehren sich die Beweise für die Abhängigkeit der Lebensqualität und des Operationserfolgs vom sagittalen Profil der Wirbelsäule.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>St&ouml;rungen des sagittalen Profils der Wirbels&auml;ule f&uuml;hren bei Patienten zur &Uuml;berlastung und einer Behinderung, welche mit der Belastung durch andere chronische Erkrankungen vergleichbar ist.</li> <li>Die sagittale Imbalance f&uuml;hrt zur Abh&auml;ngigkeit von Gehhilfen.</li> <li>Stabilisierende Operationen an der Wirbels&auml;ule m&uuml;ssen auf die Erhaltung und Korrektur des sagittalen Profils abzielen.</li> <li>Die pr&auml;operative Planung ist eine wesentliche Voraussetzung f&uuml;r den Erfolg.</li> </ul> </div> <p>Die sagittale Deformit&auml;t der Wirbels&auml;ule beeintr&auml;chtigt die Lebensqualit&auml;t des Erwachsenen in vergleichbarem Ausma&szlig; wie andere chronische Erkrankungen und verdient daher unsere Aufmerksamkeit. Die Behandlung ist generell eine Herausforderung, und zwar aufgrund der Vielf&auml;ltigkeit und Komplexit&auml;t der Deformit&auml;t, verschiedener neurologischer Beteiligungen und des h&auml;ufigen Vorliegens von Komorbidit&auml;ten.<br /> <br /> Die fixierte sagittale Imbalance ist eine spezielle Auspr&auml;gung der degenerativen lumbalen Diskusdegeneration, wie auch die degenerative Spondylolisthese. Urs&auml;chlich liegt der Deformit&auml;t der strukturelle Zusammenbruch der alternden Bandscheibe zugrunde. Typisch sind der sp&auml;te Beginn der globalen sagittalen Imbalance &ndash; nach dem 60. Lebensjahr &ndash; und die Progression mit Vertebrostenose, aber auch degenerativer Spondylolisthese und Skoliose.<br /> Das h&auml;ufigste Erscheinungsbild ist die multisegmentale Diskusdegeneration, gefolgt vom Flatback-Syndrom als Folgezustand nach vorangegangenen Stabilisierungsoperationen der Wirbels&auml;ule. Wir werden zunehmend mit einer fixierten sagittalen Imbalance als Folgezustand nach lumbalen Stabilisierungsoperationen mit inad&auml;quater Ber&uuml;cksichtigung der lumbalen Lordose konfrontiert. Sagittale Deformit&auml;ten treten aber auch bei anderen Erkrankungen wie Morbus Bechterew und osteoporotischen Frakturen auf.<br /> <br /> Die effiziente Funktion des muskulo-skelettalen Systems h&auml;ngt von der optimalen Ausrichtung der kn&ouml;chernen Strukturen und Gelenke ab. F&uuml;r die ergonomische Balance im Stehen und Gehen, aber auch f&uuml;r Bewegungsabl&auml;ufe wie das Aufstehen aus dem Sitzen ist eine komplexe Interaktion des neurologischen Systems mit der Aktivierung von Muskeln notwendig. Dieses Konzept mit einer ausgewogenen Biegung der Wirbels&auml;ule in der sagittalen Ebene, der ausgewogenen Spannung der B&auml;nder und Aktivierung der Muskeln findet sich bereits vor &uuml;ber zwei Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem &bdquo;cone of economy&ldquo; von Jean Dubousset.<br /> Solange sich der Mensch in aufrechter Position in der Mitte dieses &bdquo;Cone&ldquo; (Kegels) befindet, ist nur eine minimale Muskelaktivit&auml;t erforderlich. Je gr&ouml;&szlig;er die Abweichung von dieser Position ist, umso mehr Energie ist erforderlich, um die aufrechte Position beizubehalten. &Uuml;berschreitet die Position diese stabile Zone, geht die Kontrolle &uuml;ber die aufrechte Position verloren und St&uuml;tzen oder Gehhilfen werden erforderlich. Fehlformationen der Wirbels&auml;ule f&uuml;hren zu erh&ouml;htem muskul&auml;rem Aufwand, Erm&uuml;dung, Schmerzen und Behinderung. Bei einem deutlichen Verlust von Funktion und Lebensqualit&auml;t ist die M&ouml;glichkeit einer operativen Korrektur mit dem Patienten zu besprechen.<br /> <br /> Bereits lange bevor die Wirbels&auml;ule den &bdquo;cone of economy&ldquo; verl&auml;sst, f&uuml;hrt die Abflachung der Lendenlordose zu einer Retroversion des Beckens, &Uuml;berstreckung der H&uuml;ften und Beugung der Kniegelenke, um die aufrechte Position beizubehalten. Insbesondere beim postoperativen Flatback kann man noch eine Abflachung der Brustkyphose beobachten. Seit &uuml;ber 10 Jahren ist es eines der wesentlichen Themen der Wirbels&auml;ulenchirurgie, diese Ver&auml;nderungen mit geeigneten Parametern zu vermessen und in Statistiken zu erfassen. Als wesentliche Proponenten auf diesem Gebiet sind Roussouly und Schwab zu nennen. In vielen klinischen Arbeiten wurden Parameter f&uuml;r die sagittale Ausrichtung der Wirbels&auml;ule an asymptomatischen Erwachsenen erhoben. Die dabei beobachtete Streuung der Werte ist allerdings sehr gro&szlig;. Erst die Relation zwischen Becken- und Wirbels&auml;ulenparametern vermittelt uns das erforderliche Verst&auml;ndnis.</p> <h2>Vermessung des sagittalen Profils der Wirbels&auml;ule (Abb. 1)</h2> <p>&bdquo;Pelvic tilt&ldquo; (PT) ist der Winkel zwischen der vertikalen und einer Linie durch die Mitte der Sacrumdeckplatte zur H&uuml;ftachse (Verbindungslinie zwischen den beiden H&uuml;ftk&ouml;pfen). &Uuml;blicherweise ist die &Auml;nderung dieses Winkels ein kompensatorischer Mechanismus. Wird die Lendenwirbels&auml;ule entlordosiert, neigt sich das Becken nach hinten und der &bdquo;pelvic tilt&ldquo; wird gr&ouml;&szlig;er. &bdquo;Sacral slope&ldquo; (SS) ist der Winkel zwischen der horizontalen und der sakralen Endplatte.<br /> &bdquo;Pelvic incidence&ldquo; (PI) ist der Winkel zwischen der Normalen auf die sakrale Endplatte und der Linie zwischen sakraler Endplatte und H&uuml;ftachse.<br /> Aus dieser Definition ergibt sich die Formel PI = PT + SS. Das Becken wird wie ein einziger Knochen betrachtet, der die Basis f&uuml;r die Wirbels&auml;ule bildet. Dieser Parameter beschreibt die Morphologie des Beckens und ist Ausgangspunkt f&uuml;r die Bestimmung der notwendigen Lendenlordose.<br /> Der &bdquo;lordosis gap&ldquo; ergibt sich aus der Differenz zwischen dieser errechneten und der tats&auml;chlichen lumbalen Lordose. Die spinopelvine Harmonie wird wie folgt beschrieben: Lumbale Lordose ist PI &plusmn; 9&deg;.<br /> Die sagittale vertikale Achse (SVA) ist der Abstand zwischen einem von C7 gef&auml;llten Lot zur Sakrumhinterkante. Die entsprechende Bildgebung ist im Stehen mit zum Schl&uuml;sselbein angewinkelten H&auml;nden durchzuf&uuml;hren. F&auml;llt das Lot vor die H&uuml;ftk&ouml;pfe, dekompensiert die sagittale Balance.<br /> Der &bdquo;femoral obliquity angle&ldquo; (FOA) ist der Winkel zwischen dem proximalen Femur und der Vertikalen. Er ist ein Ma&szlig; f&uuml;r die Beugung im Kniegelenk.<br /> Bei der postoperativen Ausrichtung der Wirbels&auml;ule werden eine sagittale vertikale Achse unter 50mm, PT unter 20&deg; und &bdquo;lordosis gap&ldquo; unter 10&deg; postuliert, um gute Ergebnisse bei der Lebensqualit&auml;t zu erzielen. Neueste Untersuchungen zeigen, dass die nat&uuml;rlichen Ver&auml;nderungen durch das Altern zu ber&uuml;cksichtigen sind. Dadurch ergeben sich weniger strikte Zielwerte, insbesondere ab einem Alter von 65 Jahren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite42.jpg" alt="" width="360" height="1013" /></p> <h2>Einfluss der Coxarthrose</h2> <p>Patienten mit operationsw&uuml;rdiger Cox-arthrose haben einen vergr&ouml;&szlig;erten FOA, einen tendenziell kleineren PT und eine tendenziell gr&ouml;&szlig;ere Lendenlordose, als Ausgleich f&uuml;r das Streckdefizit der H&uuml;fte. Nach Implantation von H&uuml;ftendoprothesen gleichen sich diese Werte wieder den Normalwerten an und f&uuml;hren somit zu einer Verbesserung der spinopelvinen Balance. Da 20&ndash;60 % der Patienten mit Coxarthrose auch chronischen R&uuml;ckenschmerz angeben, wird die Notwendigkeit der gemeinsamen Untersuchung von Wirbels&auml;ule und H&uuml;fte unterstrichen. Die Lumbalgie bei Patienten mit Coxarthrose ist nach Implantation einer H&uuml;ft-endoprothese in einem relevanten Ausma&szlig; r&uuml;ckl&auml;ufig.</p> <h2>Lebensqualit&auml;t bei Deformit&auml;ten von Erwachsenen</h2> <p>Die Evaluation der sagittalen Balance ist vor allem bei &auml;lteren Patienten wichtig, bei denen Kompensationsmechanismen bereits limitiert sind. Es bestehen signifikante Korrelationen zwischen der sagittalen vertikalen Achse und Behinderungen im Alltagsleben. Dadurch wird die Notwendigkeit aufgezeigt, die Rolle der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der sagittalen Balance in das Management der Stabilisierungsoperationen mit einzubeziehen.<br /> Die Lebensqualit&auml;t von nicht operierten und operativ stabilisierten Patienten sinkt mit Zunahme der sagittalen vertikalen Achse. &Auml;hnliche Beobachtungen konnten wir auch nach Kyphoplastie machen. H&ouml;hergradige Behinderungen im Alltagsleben, insbesondere beim Stehen und Gehen, fanden sich in Kombination mit einer gr&ouml;&szlig;eren sagittalen vertikalen Achse. In einer Untersuchung an der Universit&auml;tsklinik f&uuml;r Orthop&auml;die Wien zeigten sich vermehrte Behinderung und Schmerzen mit wachsender sagittaler vertikaler Achse und wachsendem &bdquo;lordosis gap&ldquo; bei langstreckigen Fusionen der thorakolumbalen Wirbels&auml;ule.</p> <h2>Sitzen und Stehen</h2> <p>Den Betrachtungen der sagittalen Balance liegen zwei- oder dreidimensionale Abbildungen der Wirbels&auml;ule zugrunde. Sie nehmen allerdings wenig R&uuml;cksicht auf &Auml;nderungen der sagittalen Ausrichtung beim Sitzen. Im Sitzen ist die lumbale Lordose auf die H&auml;lfte reduziert, die thorakale Kyphose um ein Drittel, die sagittale vertikale Achse bewegt sich signifikant nach vorne. Wenn diese Parameter bei langstreckigen Stabilisierungen fixiert werden, wirkt unvermeidbar Stress auf das Implantat und die benachbarten Wirbelk&ouml;rpersegmente. Diese &Uuml;berlegung ist interessant, da die Mechanismen der Anschlusssegmentdegeneration bzw. Anschlusskyphosierung noch nicht restlos verstanden werden. Es ist noch unklar, wie weit dies bei Patienten mit vorwiegend sitzenden Lebensgewohnheiten zu ber&uuml;cksichtigen ist.</p> <h2>Korrekturm&ouml;glichkeiten einer sagittalen spinalen Deformit&auml;t</h2> <p>Bei der Smith-Peterson-Osteotomie werden alle posterioren Ligamente und Facettengelenke entfernt und somit ein posteriorer Release durchgef&uuml;hrt. Die Nervenwurzel wird im Neuroforamen dargestellt. Nach entsprechender ventraler Abst&uuml;tzung wird der dorsale Spalt geschlossen und &uuml;ber die Instrumentation fixiert. Die Smith-Peterson-Osteotomie ist technisch einfacher und sicherer als andere Osteotomien (Abb. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite43.jpg" alt="" width="365" height="961" /></p> <p>Die Pedikelsubtraktionsosteotomie besteht aus einer Entfernung der dorsalen Elemente und beider Pedikel sowie einer V-f&ouml;rmigen Osteotomie des Wirbelk&ouml;rpers. Beim Schlie&szlig;en der Osteotomie wird ein Knochen-auf-Knochen-Kontakt erzielt. Der Spinalkanal muss ausreichend erweitert werden, um eine neurologische Sch&auml;digung zu vermeiden. Die Instrumentierung mit Pedikelschrauben &uuml;ber drei Wirbelk&ouml;rperh&ouml;hen oberhalb und unterhalb der Osteotomie sichert das Ergebnis.<br /> <br /> Die &bdquo;vertebral column resection&ldquo; ist ein kombinierter anteriorer/posteriorer Eingriff. Diese anspruchsvolle Technik besteht aus einer Resektion der posterioren Elemente und des Wirbelk&ouml;rpers mit den anschlie&szlig;enden Bandscheiben, um eine kontrollierte Korrektur der vorderen und hinteren S&auml;ule gleichzeitig durchf&uuml;hren zu k&ouml;nnen. Sie kann entweder &uuml;ber einen kombinierten anterioren und posterioren Zugang oder einen &bdquo;Posterior only&ldquo;-Zugang durchgef&uuml;hrt werden.<br /> <br /> Ist die Wirbels&auml;ule ventral flexibel und ben&ouml;tigt eine Korrektur von unter 35&deg; oder eine Korrektur der sagittalen Imbalance von unter 7cm, wird mit einer oder mehreren Smith-Peterson-Osteotomien das Auslangen gefunden werden.<br /> Ist die Wirbels&auml;ule ventral fusioniert und ben&ouml;tigt eine Korrektur bis 35&deg; oder eine Korrektur der sagittalen Imbalance von &uuml;ber 10cm, wird eine Pedikelsubtraktionsosteotomie ben&ouml;tigt. Bei einer fixierten Deformit&auml;t, die eine Korrektur von &uuml;ber 35&deg; ben&ouml;tigt, ist eine Kombination der vorher genannten Methoden oder eine &bdquo;vertebral column resection&ldquo; zu &uuml;berlegen.</p> <h2>Risikoabsch&auml;tzung</h2> <p>Die sagittale Imbalance bei Deformit&auml;ten kommt vorwiegend bei &auml;lteren Patienten vor. Mit Komorbidit&auml;ten ist hier zu rechnen. Lee hat aufgrund der Komorbidit&auml;ten und der Gr&ouml;&szlig;e des Eingriffes eine Webapplikation zur Risikoabsch&auml;tzung erstellt. Nach &Uuml;berpr&uuml;fung dieser Daten haben wir ein dreidimensionales Risikomodell unter Zuhilfenahme des Invasiveness-Index und der Klassifikation der American Surgical Association (ASA) erstellt. Hier erkennt man den exponentiellen Anstieg von unerw&uuml;nschten Ereignissen mit steigender Invasivit&auml;t und steigendem ASA-Score.<br /> <br /> Wirbels&auml;ulendeformit&auml;t mit einer positiven sagittalen Balance und verminderter Lendenlordose stellt eine erkennbare und messbare Belastung f&uuml;r die Patienten dar. Bei entsprechendem Leidensdruck sollte mit dem Patienten eine Korrektur besprochen werden. Dabei ist auf die Erwartungen des Patienten und die Komorbidit&auml;ten R&uuml;cksicht zu nehmen. Es werden dabei hohe Anforderungen an die logistischen und technischen M&ouml;glichkeiten des Operateurs und des Zentrums gestellt.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>Literatur beim Verfasser</p> </div> </p>
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