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Sagittale Balance in der Wirbelsäulenchirurgie
Jatros
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Josef Georg Grohs
Universitätsklinik für Orthopädie, Wien<br> E-Mail: josef.grohs@meduniwien.ac.at
30
Min. Lesezeit
07.07.2016
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<p class="article-intro">Die sagittale Balance auf Basis eines ausgeglichenen sagittalen Profils ermöglicht uns das aufrechte Stehen ohne wesentlichen Energieaufwand. Mit zunehmender Abweichung steigen die Anforderungen an die kompensatorischen Möglichkeiten und die Muskulatur. Seit Jahren widmet sich die Literatur der Erfassung des Profils der gesunden Wirbelsäule. Erst seit Kurzem mehren sich die Beweise für die Abhängigkeit der Lebensqualität und des Operationserfolgs vom sagittalen Profil der Wirbelsäule.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Störungen des sagittalen Profils der Wirbelsäule führen bei Patienten zur Überlastung und einer Behinderung, welche mit der Belastung durch andere chronische Erkrankungen vergleichbar ist.</li> <li>Die sagittale Imbalance führt zur Abhängigkeit von Gehhilfen.</li> <li>Stabilisierende Operationen an der Wirbelsäule müssen auf die Erhaltung und Korrektur des sagittalen Profils abzielen.</li> <li>Die präoperative Planung ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg.</li> </ul> </div> <p>Die sagittale Deformität der Wirbelsäule beeinträchtigt die Lebensqualität des Erwachsenen in vergleichbarem Ausmaß wie andere chronische Erkrankungen und verdient daher unsere Aufmerksamkeit. Die Behandlung ist generell eine Herausforderung, und zwar aufgrund der Vielfältigkeit und Komplexität der Deformität, verschiedener neurologischer Beteiligungen und des häufigen Vorliegens von Komorbiditäten.<br /> <br /> Die fixierte sagittale Imbalance ist eine spezielle Ausprägung der degenerativen lumbalen Diskusdegeneration, wie auch die degenerative Spondylolisthese. Ursächlich liegt der Deformität der strukturelle Zusammenbruch der alternden Bandscheibe zugrunde. Typisch sind der späte Beginn der globalen sagittalen Imbalance – nach dem 60. Lebensjahr – und die Progression mit Vertebrostenose, aber auch degenerativer Spondylolisthese und Skoliose.<br /> Das häufigste Erscheinungsbild ist die multisegmentale Diskusdegeneration, gefolgt vom Flatback-Syndrom als Folgezustand nach vorangegangenen Stabilisierungsoperationen der Wirbelsäule. Wir werden zunehmend mit einer fixierten sagittalen Imbalance als Folgezustand nach lumbalen Stabilisierungsoperationen mit inadäquater Berücksichtigung der lumbalen Lordose konfrontiert. Sagittale Deformitäten treten aber auch bei anderen Erkrankungen wie Morbus Bechterew und osteoporotischen Frakturen auf.<br /> <br /> Die effiziente Funktion des muskulo-skelettalen Systems hängt von der optimalen Ausrichtung der knöchernen Strukturen und Gelenke ab. Für die ergonomische Balance im Stehen und Gehen, aber auch für Bewegungsabläufe wie das Aufstehen aus dem Sitzen ist eine komplexe Interaktion des neurologischen Systems mit der Aktivierung von Muskeln notwendig. Dieses Konzept mit einer ausgewogenen Biegung der Wirbelsäule in der sagittalen Ebene, der ausgewogenen Spannung der Bänder und Aktivierung der Muskeln findet sich bereits vor über zwei Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem „cone of economy“ von Jean Dubousset.<br /> Solange sich der Mensch in aufrechter Position in der Mitte dieses „Cone“ (Kegels) befindet, ist nur eine minimale Muskelaktivität erforderlich. Je größer die Abweichung von dieser Position ist, umso mehr Energie ist erforderlich, um die aufrechte Position beizubehalten. Überschreitet die Position diese stabile Zone, geht die Kontrolle über die aufrechte Position verloren und Stützen oder Gehhilfen werden erforderlich. Fehlformationen der Wirbelsäule führen zu erhöhtem muskulärem Aufwand, Ermüdung, Schmerzen und Behinderung. Bei einem deutlichen Verlust von Funktion und Lebensqualität ist die Möglichkeit einer operativen Korrektur mit dem Patienten zu besprechen.<br /> <br /> Bereits lange bevor die Wirbelsäule den „cone of economy“ verlässt, führt die Abflachung der Lendenlordose zu einer Retroversion des Beckens, Überstreckung der Hüften und Beugung der Kniegelenke, um die aufrechte Position beizubehalten. Insbesondere beim postoperativen Flatback kann man noch eine Abflachung der Brustkyphose beobachten. Seit über 10 Jahren ist es eines der wesentlichen Themen der Wirbelsäulenchirurgie, diese Veränderungen mit geeigneten Parametern zu vermessen und in Statistiken zu erfassen. Als wesentliche Proponenten auf diesem Gebiet sind Roussouly und Schwab zu nennen. In vielen klinischen Arbeiten wurden Parameter für die sagittale Ausrichtung der Wirbelsäule an asymptomatischen Erwachsenen erhoben. Die dabei beobachtete Streuung der Werte ist allerdings sehr groß. Erst die Relation zwischen Becken- und Wirbelsäulenparametern vermittelt uns das erforderliche Verständnis.</p> <h2>Vermessung des sagittalen Profils der Wirbelsäule (Abb. 1)</h2> <p>„Pelvic tilt“ (PT) ist der Winkel zwischen der vertikalen und einer Linie durch die Mitte der Sacrumdeckplatte zur Hüftachse (Verbindungslinie zwischen den beiden Hüftköpfen). Üblicherweise ist die Änderung dieses Winkels ein kompensatorischer Mechanismus. Wird die Lendenwirbelsäule entlordosiert, neigt sich das Becken nach hinten und der „pelvic tilt“ wird größer. „Sacral slope“ (SS) ist der Winkel zwischen der horizontalen und der sakralen Endplatte.<br /> „Pelvic incidence“ (PI) ist der Winkel zwischen der Normalen auf die sakrale Endplatte und der Linie zwischen sakraler Endplatte und Hüftachse.<br /> Aus dieser Definition ergibt sich die Formel PI = PT + SS. Das Becken wird wie ein einziger Knochen betrachtet, der die Basis für die Wirbelsäule bildet. Dieser Parameter beschreibt die Morphologie des Beckens und ist Ausgangspunkt für die Bestimmung der notwendigen Lendenlordose.<br /> Der „lordosis gap“ ergibt sich aus der Differenz zwischen dieser errechneten und der tatsächlichen lumbalen Lordose. Die spinopelvine Harmonie wird wie folgt beschrieben: Lumbale Lordose ist PI ± 9°.<br /> Die sagittale vertikale Achse (SVA) ist der Abstand zwischen einem von C7 gefällten Lot zur Sakrumhinterkante. Die entsprechende Bildgebung ist im Stehen mit zum Schlüsselbein angewinkelten Händen durchzuführen. Fällt das Lot vor die Hüftköpfe, dekompensiert die sagittale Balance.<br /> Der „femoral obliquity angle“ (FOA) ist der Winkel zwischen dem proximalen Femur und der Vertikalen. Er ist ein Maß für die Beugung im Kniegelenk.<br /> Bei der postoperativen Ausrichtung der Wirbelsäule werden eine sagittale vertikale Achse unter 50mm, PT unter 20° und „lordosis gap“ unter 10° postuliert, um gute Ergebnisse bei der Lebensqualität zu erzielen. Neueste Untersuchungen zeigen, dass die natürlichen Veränderungen durch das Altern zu berücksichtigen sind. Dadurch ergeben sich weniger strikte Zielwerte, insbesondere ab einem Alter von 65 Jahren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite42.jpg" alt="" width="360" height="1013" /></p> <h2>Einfluss der Coxarthrose</h2> <p>Patienten mit operationswürdiger Cox-arthrose haben einen vergrößerten FOA, einen tendenziell kleineren PT und eine tendenziell größere Lendenlordose, als Ausgleich für das Streckdefizit der Hüfte. Nach Implantation von Hüftendoprothesen gleichen sich diese Werte wieder den Normalwerten an und führen somit zu einer Verbesserung der spinopelvinen Balance. Da 20–60 % der Patienten mit Coxarthrose auch chronischen Rückenschmerz angeben, wird die Notwendigkeit der gemeinsamen Untersuchung von Wirbelsäule und Hüfte unterstrichen. Die Lumbalgie bei Patienten mit Coxarthrose ist nach Implantation einer Hüft-endoprothese in einem relevanten Ausmaß rückläufig.</p> <h2>Lebensqualität bei Deformitäten von Erwachsenen</h2> <p>Die Evaluation der sagittalen Balance ist vor allem bei älteren Patienten wichtig, bei denen Kompensationsmechanismen bereits limitiert sind. Es bestehen signifikante Korrelationen zwischen der sagittalen vertikalen Achse und Behinderungen im Alltagsleben. Dadurch wird die Notwendigkeit aufgezeigt, die Rolle der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der sagittalen Balance in das Management der Stabilisierungsoperationen mit einzubeziehen.<br /> Die Lebensqualität von nicht operierten und operativ stabilisierten Patienten sinkt mit Zunahme der sagittalen vertikalen Achse. Ähnliche Beobachtungen konnten wir auch nach Kyphoplastie machen. Höhergradige Behinderungen im Alltagsleben, insbesondere beim Stehen und Gehen, fanden sich in Kombination mit einer größeren sagittalen vertikalen Achse. In einer Untersuchung an der Universitätsklinik für Orthopädie Wien zeigten sich vermehrte Behinderung und Schmerzen mit wachsender sagittaler vertikaler Achse und wachsendem „lordosis gap“ bei langstreckigen Fusionen der thorakolumbalen Wirbelsäule.</p> <h2>Sitzen und Stehen</h2> <p>Den Betrachtungen der sagittalen Balance liegen zwei- oder dreidimensionale Abbildungen der Wirbelsäule zugrunde. Sie nehmen allerdings wenig Rücksicht auf Änderungen der sagittalen Ausrichtung beim Sitzen. Im Sitzen ist die lumbale Lordose auf die Hälfte reduziert, die thorakale Kyphose um ein Drittel, die sagittale vertikale Achse bewegt sich signifikant nach vorne. Wenn diese Parameter bei langstreckigen Stabilisierungen fixiert werden, wirkt unvermeidbar Stress auf das Implantat und die benachbarten Wirbelkörpersegmente. Diese Überlegung ist interessant, da die Mechanismen der Anschlusssegmentdegeneration bzw. Anschlusskyphosierung noch nicht restlos verstanden werden. Es ist noch unklar, wie weit dies bei Patienten mit vorwiegend sitzenden Lebensgewohnheiten zu berücksichtigen ist.</p> <h2>Korrekturmöglichkeiten einer sagittalen spinalen Deformität</h2> <p>Bei der Smith-Peterson-Osteotomie werden alle posterioren Ligamente und Facettengelenke entfernt und somit ein posteriorer Release durchgeführt. Die Nervenwurzel wird im Neuroforamen dargestellt. Nach entsprechender ventraler Abstützung wird der dorsale Spalt geschlossen und über die Instrumentation fixiert. Die Smith-Peterson-Osteotomie ist technisch einfacher und sicherer als andere Osteotomien (Abb. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite43.jpg" alt="" width="365" height="961" /></p> <p>Die Pedikelsubtraktionsosteotomie besteht aus einer Entfernung der dorsalen Elemente und beider Pedikel sowie einer V-förmigen Osteotomie des Wirbelkörpers. Beim Schließen der Osteotomie wird ein Knochen-auf-Knochen-Kontakt erzielt. Der Spinalkanal muss ausreichend erweitert werden, um eine neurologische Schädigung zu vermeiden. Die Instrumentierung mit Pedikelschrauben über drei Wirbelkörperhöhen oberhalb und unterhalb der Osteotomie sichert das Ergebnis.<br /> <br /> Die „vertebral column resection“ ist ein kombinierter anteriorer/posteriorer Eingriff. Diese anspruchsvolle Technik besteht aus einer Resektion der posterioren Elemente und des Wirbelkörpers mit den anschließenden Bandscheiben, um eine kontrollierte Korrektur der vorderen und hinteren Säule gleichzeitig durchführen zu können. Sie kann entweder über einen kombinierten anterioren und posterioren Zugang oder einen „Posterior only“-Zugang durchgeführt werden.<br /> <br /> Ist die Wirbelsäule ventral flexibel und benötigt eine Korrektur von unter 35° oder eine Korrektur der sagittalen Imbalance von unter 7cm, wird mit einer oder mehreren Smith-Peterson-Osteotomien das Auslangen gefunden werden.<br /> Ist die Wirbelsäule ventral fusioniert und benötigt eine Korrektur bis 35° oder eine Korrektur der sagittalen Imbalance von über 10cm, wird eine Pedikelsubtraktionsosteotomie benötigt. Bei einer fixierten Deformität, die eine Korrektur von über 35° benötigt, ist eine Kombination der vorher genannten Methoden oder eine „vertebral column resection“ zu überlegen.</p> <h2>Risikoabschätzung</h2> <p>Die sagittale Imbalance bei Deformitäten kommt vorwiegend bei älteren Patienten vor. Mit Komorbiditäten ist hier zu rechnen. Lee hat aufgrund der Komorbiditäten und der Größe des Eingriffes eine Webapplikation zur Risikoabschätzung erstellt. Nach Überprüfung dieser Daten haben wir ein dreidimensionales Risikomodell unter Zuhilfenahme des Invasiveness-Index und der Klassifikation der American Surgical Association (ASA) erstellt. Hier erkennt man den exponentiellen Anstieg von unerwünschten Ereignissen mit steigender Invasivität und steigendem ASA-Score.<br /> <br /> Wirbelsäulendeformität mit einer positiven sagittalen Balance und verminderter Lendenlordose stellt eine erkennbare und messbare Belastung für die Patienten dar. Bei entsprechendem Leidensdruck sollte mit dem Patienten eine Korrektur besprochen werden. Dabei ist auf die Erwartungen des Patienten und die Komorbiditäten Rücksicht zu nehmen. Es werden dabei hohe Anforderungen an die logistischen und technischen Möglichkeiten des Operateurs und des Zentrums gestellt.</p></p>
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<p>Literatur beim Verfasser</p>
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