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Präklinische Versorgung des polytraumatisierten Patienten
Jatros
Autor:
Ass.-Prof. Dr. Wolfgang Machold
Universitätsklinik für Unfallchirurgie,<br> Medizinische Universität Wien<br> E-Mail: wolfgang.machold@meduniwien.ac.at
30
Min. Lesezeit
11.05.2017
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<p class="article-intro">Die Versorgung eines polytraumatisierten Patienten stellt eine Herausforderung für den Notarzt dar. Unter großem Zeitdruck müssen die richtigen Maßnahmen zur Stabilisierung des Patienten ergriffen werden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Ein Verständnis für die Pathophysiologie und Erfahrung mit dem Patientenkollektiv sind für die präklinische Versorgung wesentlich.</li> <li>Aus der Unfallursache können oft Rückschlüsse auf das Verletzungsmuster gezogen werden.</li> <li>Die Zeit vom Unfall bis zum Eintreffen im Krankenhaus ist ein wichtiger prognostischer Faktor. Jede notärztliche Maßnahme muss daher einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden.</li> <li>Ein flächendeckendes Netz von Fachabteilungen, die der Notarzt zur Weiterversorgung anfahren kann, ist für das Outcome wesentlich.</li> </ul> </div> <h2>Definition</h2> <p>Die Verwendung des Begriffes Polytrauma ist in der Literatur nicht eindeutig festgelegt. Es gibt über 50 Definitionen. Sehr häufig verwendet wird die Definition mit einem Injury Severity Score von =16. Diese Definition erfasst grundsätzlich die Schwerstverletzten, es ist jedoch nicht zwingend die Verletzung mehrerer Körperregionen erforderlich. Eine der ersten, einfachsten und dem Kern der Problematik sehr nahe kommende Definition stammt von H. Tscherne 1977: gleichzeitig entstandene Verletzungen verschiedener Körperregionen, von denen mindestens eine oder deren Kombination vital bedrohlich ist. Diese Definition erfasst sehr gut die Tatsache, dass die Kombination verschiedener Verletzungen schwerer wiegt als die Summe der Einzelverletzungen.</p> <h2>Pathophysiologie</h2> <p>Pathophysiologisch ist der Organismus in der Lage, Verletzungen zu kompensieren, sofern sie nicht einen gewissen Schweregrad übersteigen. So ist z.B. ein junger Gesunder in der Lage, einen Blutverlust von 1 Liter zu kompensieren, indem die Gerinnung das Gefäßleak verschließt, durch Engstellung der Blutgefäße Blut aus dem venösen Pool mobilisiert wird und entsprechend den akuten Erfordernissen auf die jeweiligen Organsysteme verteilt wird. Das verbleibende Blutvolumen wird durch rascheren Herzschlag schneller im Kreis gepumpt und durch eine raschere Atmung besser oxygeniert. Mehrfache Verletzungen können nun diese Kompensationsmechanismen negativ beeinflussen oder überfordern (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="707" /></p> <h2>Versorgungsstrategie</h2> <p>Durch diese pathophysiologischen Voraussetzungen sind auch die Erfordernisse und Probleme in der notärztlichen Versorgung vorgegeben. Der Chirurg Adams Cowley – er gründete 1950 das weltweit erste Traumazentrum in Maryland – prägte den Begriff „golden hour of shock“. Gemeint ist damit, dass innerhalb der ersten Stunde nach dem Trauma annähernd normale Kreislaufverhältnisse wiederhergestellt sein sollten, da es ansonsten zu sekundären Organschäden kommen kann. Der Notarzt steht somit vor der Herausforderung, präklinisch mit wenigen Hilfsmitteln die lebensbedrohlichen Verletzungen zu diagnostizieren, wenn möglich zu limitieren. Parallel dazu müssen die Vitalparameter für einen raschen Transport stabilisiert werden. Jede Maßnahme ist auch im Hinblick auf die dafür in Anspruch genommene Zeit zu evaluieren, ob sie dem Patienten mehr Nutzen bringt als der Zeitverlust Schaden. Ob eher „scoop and run“ oder „stay and play“ praktiziert wird, hängt vom Verletzungsmuster und den Vitalparametern ab. Ein Patient mit einer unkontrollierbaren Blutung ist einer notärztlichen Therapie nicht zugänglich, während ein bewusstloser Patient, der erbricht, unbedingt eine Atemwegssicherung braucht.<br /> Aufgrund des präklinischen Settings, des stark heterogenen Patientenkollektivs und unterschiedlicher Versorgungsstrategien gibt es nur wenige, auf prospektiv randomisierten Studien basierende Grad- I-Empfehlungen. Die meisten Empfehlungen resultieren aus Empfehlungen von Expertengruppen nach systematischer Analyse der Literatur (Tab. 2). Aus den Daten des Traumaregisters der DGU lässt sich ableiten, dass die Zeitdauer zwischen Unfall und Klinikaufnahme bei Schwerverletzten mit einem Injury Severity Score =16 indirekt proportional zum Outcome ist.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab2.jpg" alt="" width="2151" height="2910" /></p> <h2>Maßnahmen am Unfallort</h2> <p>Die ersten Maßnahmen am Unfallort sind die Einschätzung der Unfallsituation und die Evaluation eventuell fortbestehender oder sich entwickelnder Gefahrenmomente. Es kommt leider immer wieder zu tödlichen Folgeunfällen von Ersthelfern, Sanitätern und Notärzten. Die Einsatzanforderung kann vom tatsächlich vorgefundenen Szenario stark divergieren. Aus der Unfallsituation können auch Rückschlüsse auf das zu erwartende Verletzungsmuster gezogen werden. Bei bestimmten Szenarien ist mit einer erhöhten Letalität zu rechnen (Tab. 3).<br /> Nach der Abklärung der Unfallsituation erfolgen die Diagnose der Vitalparameter Bewusstsein (Quantifizierung nach der Glasgow Coma Scale), Atmung und Kreislauf und – falls erforderlich – die entsprechende Therapie:</p> <ul> <li>starke äußere Blutung: sofortige Kompression</li> <li>Verlegung der Atemwege: Freimachen der Atemwege</li> <li>Ateminsuffizienz: Intubation, Beatmung (evtl. Thoraxdrainage)</li> <li>Volumenmangelschock: Volumensubstitution</li> </ul> <p>Anhand der Vitalparameter lassen sich auch Patienten identifizieren, bei denen erhöhte Letalität besteht (Tab. 4).<br /> Nach Kontrolle bzw. Stabilisierung der Vitalparameter erfolgen unter ständiger Überwachung derselben mittels Monitoring die Untersuchung in kraniokaudaler Richtung und bei entsprechenden Befunden eine Therapie unter Beachtung des Zeitfaktors. Durch das Verletzungsmuster lassen sich ebenso Patienten mit hoher Letalität identifizieren (Tab. 5).<br /> Einzelne therapeutische Maßnahmen, die in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie empfohlen sind, sind auszugsweise in der Tabelle 2 dargestellt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab3_4.jpg" alt="" width="686" height="1233" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab5.jpg" alt="" width="686" height="662" /></p> <h2>Gefahren</h2> <p>Bei ca. einem Drittel der Polytraumen wird die Schwere der Verletzungen vom Notarzt unterschätzt und dementsprechend werden nicht alle therapeutischen Maßnahmen optimal umgesetzt. Ein Problem stellt auch die Tatsache dar, dass das gleiche klinische Symptom (z.B. niedriger Blutdruck) durch unterschiedliche Ursachen (z.B. Blutverlust oder Spannungspneumothorax) bedingt sein kann. Es ist daher gerade bei der Versorgung des Polytraumas erforderlich, die eigenen diagnostischen und therapeutischen Hypothesen zu überdenken und dem gängigen „Scheuklappen-Phänomen“, ein eingeschlagenes Therapiekonzept unreflektiert fortzusetzen, entgegenzuwirken (z.B. Legen einer Thoraxdrainage statt weiterer Volumengabe).</p> <h2>Lagerung und Transport</h2> <p>Nach erfolgter Diagnostik und der erforderlichen präklinischen Therapie muss der Patient zum Transport gelagert werden, in der Regel auf eine Vakuummatratze. Hiermit können Rumpf, Wirbelsäule und untere Extremitäten ruhig gestellt werden und bei Bedarf kann auch eine Beckenkompression erfolgen. Die Umlagerung sollte so schonend wie möglich erfolgen, dazu bedarf es mehrerer Helfer. Rüde Umlagerungsmanöver können eine zusätzliche Traumatisierung bewirken, z.B. Schädigung der Weichteile bei instabilen Frakturen, vermehrter Blutverlust, sekundäre neurologische Ausfälle, Einschwemmung von Markraumbestandteilen und pulmonale Komplikationen.<br /> Nach Stabilisierung des Patienten erfolgt der Transport ins nächste zur Versorgung geeignete Krankenhaus. Das ist in vielen Fällen die nächste Abteilung für Unfallchirurgie. Wie schon eingangs erwähnt, hängt das Outcome beim Schwerstverletzten von der Zeitdauer zwischen Unfall und Klinikaufnahme ab. Beim Transport im Notarzthubschrauber können aufgrund der oft nur wenig verlängerten Transportzeit auch Überlegungen in Bezug auf zusätzliche, für die Versorgung der Verletzungsmuster erforderliche Abteilungen (z.B. Augen-, Kieferabteilung) eine Rolle spielen.</p> <h2>Infrastruktur zur Versorgung eines Polytraumas</h2> <p>In den letzten Jahren haben die begrenzten Ressourcen dazu geführt, dass weniger unfallchirurgische Abteilungen in der Lage sind, Polytraumatisierte rund um die Uhr zu versorgen. Hier ist der Transport ins Krankenhaus der definitiven Versorgung anzustreben. Seit Jänner 2017 steht mit dem Christophorus 2 auch ein Notarzthubschrauber für Primäreinsätze in der Nacht zur Verfügung. Dieser stellt eine wertvolle Ergänzung dar, sollte jedoch nicht Anlass sein, die flächendeckende unfallchirurgische Versorgung zurückzufahren. Vor allem im Herbst und Winter gibt es zahlreiche Tage, an denen aufgrund der Wetterbedingungen ein Hubschraubereinsatz nicht möglich ist und ein bei winterlichen Straßenverhältnissen langer bodengebundener Transport in ein Zentralkrankenhaus die Prognose eines polytraumatisierten Patienten verschlechtern würde.<br /> Aufgrund der Maßnahmen zur Verletzungsprävention sind zwar die Fallzahlen in den letzten 20 Jahren rückläufig. Die optimale Versorgung von polytraumatisierten Patienten von der Präklinik über den Schockraum, die operative Versorgung, die Intensivtherapie bis zur Rehabilitation sollte jedoch ein unverändert wichtiges Anliegen sein.</p></p>