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Präklinische Versorgung des polytraumatisierten Patienten

<p class="article-intro">Die Versorgung eines polytraumatisierten Patienten stellt eine Herausforderung für den Notarzt dar. Unter großem Zeitdruck müssen die richtigen Maßnahmen zur Stabilisierung des Patienten ergriffen werden.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Ein Verst&auml;ndnis f&uuml;r die Pathophysiologie und Erfahrung mit dem Patientenkollektiv sind f&uuml;r die pr&auml;klinische Versorgung wesentlich.</li> <li>Aus der Unfallursache k&ouml;nnen oft R&uuml;ckschl&uuml;sse auf das Verletzungsmuster gezogen werden.</li> <li>Die Zeit vom Unfall bis zum Eintreffen im Krankenhaus ist ein wichtiger prognostischer Faktor. Jede not&auml;rztliche Ma&szlig;nahme muss daher einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden.</li> <li>Ein fl&auml;chendeckendes Netz von Fachabteilungen, die der Notarzt zur Weiterversorgung anfahren kann, ist f&uuml;r das Outcome wesentlich.</li> </ul> </div> <h2>Definition</h2> <p>Die Verwendung des Begriffes Polytrauma ist in der Literatur nicht eindeutig festgelegt. Es gibt &uuml;ber 50 Definitionen. Sehr h&auml;ufig verwendet wird die Definition mit einem Injury Severity Score von =16. Diese Definition erfasst grunds&auml;tzlich die Schwerstverletzten, es ist jedoch nicht zwingend die Verletzung mehrerer K&ouml;rperregionen erforderlich. Eine der ersten, einfachsten und dem Kern der Problematik sehr nahe kommende Definition stammt von H. Tscherne 1977: gleichzeitig entstandene Verletzungen verschiedener K&ouml;rperregionen, von denen mindestens eine oder deren Kombination vital bedrohlich ist. Diese Definition erfasst sehr gut die Tatsache, dass die Kombination verschiedener Verletzungen schwerer wiegt als die Summe der Einzelverletzungen.</p> <h2>Pathophysiologie</h2> <p>Pathophysiologisch ist der Organismus in der Lage, Verletzungen zu kompensieren, sofern sie nicht einen gewissen Schweregrad &uuml;bersteigen. So ist z.B. ein junger Gesunder in der Lage, einen Blutverlust von 1 Liter zu kompensieren, indem die Gerinnung das Gef&auml;&szlig;leak verschlie&szlig;t, durch Engstellung der Blutgef&auml;&szlig;e Blut aus dem ven&ouml;sen Pool mobilisiert wird und entsprechend den akuten Erfordernissen auf die jeweiligen Organsysteme verteilt wird. Das verbleibende Blutvolumen wird durch rascheren Herzschlag schneller im Kreis gepumpt und durch eine raschere Atmung besser oxygeniert. Mehrfache Verletzungen k&ouml;nnen nun diese Kompensationsmechanismen negativ beeinflussen oder &uuml;berfordern (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="707" /></p> <h2>Versorgungsstrategie</h2> <p>Durch diese pathophysiologischen Voraussetzungen sind auch die Erfordernisse und Probleme in der not&auml;rztlichen Versorgung vorgegeben. Der Chirurg Adams Cowley &ndash; er gr&uuml;ndete 1950 das weltweit erste Traumazentrum in Maryland &ndash; pr&auml;gte den Begriff &bdquo;golden hour of shock&ldquo;. Gemeint ist damit, dass innerhalb der ersten Stunde nach dem Trauma ann&auml;hernd normale Kreislaufverh&auml;ltnisse wiederhergestellt sein sollten, da es ansonsten zu sekund&auml;ren Organsch&auml;den kommen kann. Der Notarzt steht somit vor der Herausforderung, pr&auml;klinisch mit wenigen Hilfsmitteln die lebensbedrohlichen Verletzungen zu diagnostizieren, wenn m&ouml;glich zu limitieren. Parallel dazu m&uuml;ssen die Vitalparameter f&uuml;r einen raschen Transport stabilisiert werden. Jede Ma&szlig;nahme ist auch im Hinblick auf die daf&uuml;r in Anspruch genommene Zeit zu evaluieren, ob sie dem Patienten mehr Nutzen bringt als der Zeitverlust Schaden. Ob eher &bdquo;scoop and run&ldquo; oder &bdquo;stay and play&ldquo; praktiziert wird, h&auml;ngt vom Verletzungsmuster und den Vitalparametern ab. Ein Patient mit einer unkontrollierbaren Blutung ist einer not&auml;rztlichen Therapie nicht zug&auml;nglich, w&auml;hrend ein bewusstloser Patient, der erbricht, unbedingt eine Atemwegssicherung braucht.<br /> Aufgrund des pr&auml;klinischen Settings, des stark heterogenen Patientenkollektivs und unterschiedlicher Versorgungsstrategien gibt es nur wenige, auf prospektiv randomisierten Studien basierende Grad- I-Empfehlungen. Die meisten Empfehlungen resultieren aus Empfehlungen von Expertengruppen nach systematischer Analyse der Literatur (Tab. 2). Aus den Daten des Traumaregisters der DGU l&auml;sst sich ableiten, dass die Zeitdauer zwischen Unfall und Klinikaufnahme bei Schwerverletzten mit einem Injury Severity Score =16 indirekt proportional zum Outcome ist.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab2.jpg" alt="" width="2151" height="2910" /></p> <h2>Ma&szlig;nahmen am Unfallort</h2> <p>Die ersten Ma&szlig;nahmen am Unfallort sind die Einsch&auml;tzung der Unfallsituation und die Evaluation eventuell fortbestehender oder sich entwickelnder Gefahrenmomente. Es kommt leider immer wieder zu t&ouml;dlichen Folgeunf&auml;llen von Ersthelfern, Sanit&auml;tern und Not&auml;rzten. Die Einsatzanforderung kann vom tats&auml;chlich vorgefundenen Szenario stark divergieren. Aus der Unfallsituation k&ouml;nnen auch R&uuml;ckschl&uuml;sse auf das zu erwartende Verletzungsmuster gezogen werden. Bei bestimmten Szenarien ist mit einer erh&ouml;hten Letalit&auml;t zu rechnen (Tab. 3).<br /> Nach der Abkl&auml;rung der Unfallsituation erfolgen die Diagnose der Vitalparameter Bewusstsein (Quantifizierung nach der Glasgow Coma Scale), Atmung und Kreislauf und &ndash; falls erforderlich &ndash; die entsprechende Therapie:</p> <ul> <li>starke &auml;u&szlig;ere Blutung: sofortige Kompression</li> <li>Verlegung der Atemwege: Freimachen der Atemwege</li> <li>Ateminsuffizienz: Intubation, Beatmung (evtl. Thoraxdrainage)</li> <li>Volumenmangelschock: Volumensubstitution</li> </ul> <p>Anhand der Vitalparameter lassen sich auch Patienten identifizieren, bei denen erh&ouml;hte Letalit&auml;t besteht (Tab. 4).<br /> Nach Kontrolle bzw. Stabilisierung der Vitalparameter erfolgen unter st&auml;ndiger &Uuml;berwachung derselben mittels Monitoring die Untersuchung in kraniokaudaler Richtung und bei entsprechenden Befunden eine Therapie unter Beachtung des Zeitfaktors. Durch das Verletzungsmuster lassen sich ebenso Patienten mit hoher Letalit&auml;t identifizieren (Tab. 5).<br /> Einzelne therapeutische Ma&szlig;nahmen, die in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft f&uuml;r Unfallchirurgie empfohlen sind, sind auszugsweise in der Tabelle 2 dargestellt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab3_4.jpg" alt="" width="686" height="1233" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s28_tab5.jpg" alt="" width="686" height="662" /></p> <h2>Gefahren</h2> <p>Bei ca. einem Drittel der Polytraumen wird die Schwere der Verletzungen vom Notarzt untersch&auml;tzt und dementsprechend werden nicht alle therapeutischen Ma&szlig;nahmen optimal umgesetzt. Ein Problem stellt auch die Tatsache dar, dass das gleiche klinische Symptom (z.B. niedriger Blutdruck) durch unterschiedliche Ursachen (z.B. Blutverlust oder Spannungspneumothorax) bedingt sein kann. Es ist daher gerade bei der Versorgung des Polytraumas erforderlich, die eigenen diagnostischen und therapeutischen Hypothesen zu &uuml;berdenken und dem g&auml;ngigen &bdquo;Scheuklappen-Ph&auml;nomen&ldquo;, ein eingeschlagenes Therapiekonzept unreflektiert fortzusetzen, entgegenzuwirken (z.B. Legen einer Thoraxdrainage statt weiterer Volumengabe).</p> <h2>Lagerung und Transport</h2> <p>Nach erfolgter Diagnostik und der erforderlichen pr&auml;klinischen Therapie muss der Patient zum Transport gelagert werden, in der Regel auf eine Vakuummatratze. Hiermit k&ouml;nnen Rumpf, Wirbels&auml;ule und untere Extremit&auml;ten ruhig gestellt werden und bei Bedarf kann auch eine Beckenkompression erfolgen. Die Umlagerung sollte so schonend wie m&ouml;glich erfolgen, dazu bedarf es mehrerer Helfer. R&uuml;de Umlagerungsman&ouml;ver k&ouml;nnen eine zus&auml;tzliche Traumatisierung bewirken, z.B. Sch&auml;digung der Weichteile bei instabilen Frakturen, vermehrter Blutverlust, sekund&auml;re neurologische Ausf&auml;lle, Einschwemmung von Markraumbestandteilen und pulmonale Komplikationen.<br /> Nach Stabilisierung des Patienten erfolgt der Transport ins n&auml;chste zur Versorgung geeignete Krankenhaus. Das ist in vielen F&auml;llen die n&auml;chste Abteilung f&uuml;r Unfallchirurgie. Wie schon eingangs erw&auml;hnt, h&auml;ngt das Outcome beim Schwerstverletzten von der Zeitdauer zwischen Unfall und Klinikaufnahme ab. Beim Transport im Notarzthubschrauber k&ouml;nnen aufgrund der oft nur wenig verl&auml;ngerten Transportzeit auch &Uuml;berlegungen in Bezug auf zus&auml;tzliche, f&uuml;r die Versorgung der Verletzungsmuster erforderliche Abteilungen (z.B. Augen-, Kieferabteilung) eine Rolle spielen.</p> <h2>Infrastruktur zur Versorgung eines Polytraumas</h2> <p>In den letzten Jahren haben die begrenzten Ressourcen dazu gef&uuml;hrt, dass weniger unfallchirurgische Abteilungen in der Lage sind, Polytraumatisierte rund um die Uhr zu versorgen. Hier ist der Transport ins Krankenhaus der definitiven Versorgung anzustreben. Seit J&auml;nner 2017 steht mit dem Christophorus 2 auch ein Notarzthubschrauber f&uuml;r Prim&auml;reins&auml;tze in der Nacht zur Verf&uuml;gung. Dieser stellt eine wertvolle Erg&auml;nzung dar, sollte jedoch nicht Anlass sein, die fl&auml;chendeckende unfallchirurgische Versorgung zur&uuml;ckzufahren. Vor allem im Herbst und Winter gibt es zahlreiche Tage, an denen aufgrund der Wetterbedingungen ein Hubschraubereinsatz nicht m&ouml;glich ist und ein bei winterlichen Stra&szlig;enverh&auml;ltnissen langer bodengebundener Transport in ein Zentralkrankenhaus die Prognose eines polytraumatisierten Patienten verschlechtern w&uuml;rde.<br /> Aufgrund der Ma&szlig;nahmen zur Verletzungspr&auml;vention sind zwar die Fallzahlen in den letzten 20 Jahren r&uuml;ckl&auml;ufig. Die optimale Versorgung von polytraumatisierten Patienten von der Pr&auml;klinik &uuml;ber den Schockraum, die operative Versorgung, die Intensivtherapie bis zur Rehabilitation sollte jedoch ein unver&auml;ndert wichtiges Anliegen sein.</p></p>
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