
Plastisch-chirurgischer Funktionserhalt der unteren Extremität beim aktiven geriatrischen Patienten
Autoren:
PD Dr. med. Rik Osinga1–3
Dr. med. Andreas Gohritz1
PD Dr. med. Mario Morgenstern2,4
PD Dr. med. Martin Clauss2,4
Prof. Dr. med. Dirk J. Schaefer1,2
1 Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie, Universitätsspital Basel
2 Zentrum für muskuloskelettale Infektionen (ZMSI), Universitätsspital Basel
3 Praxis beim Merian Iselin, Basel
4 Klinik für Orthopädie und Traumatologie, Universitätsspital Basel
Korrespondierender Autor:
PD Dr. med. Rik Osinga
E-Mail: rik.osinga@usb.ch
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Der Anteil geriatrischer Patienten, die das siebte Lebensjahrzehnt überschritten haben, nimmt weltweit zu, insbesondere in den hoch entwickelten Ländern. Die Zahl der über 65-Jährigen wird zwischen 2000 und 2050 voraussichtlich um 135% steigen, die Gruppe der 85-Jährigen und Älteren, die am ehesten Gesundheits- und Langzeitpflegeleistungen benötigt, wird in diesem Zeitraum voraussichtlich um 350% zunehmen. Die Zahl der 100-Jährigen wird im Jahr 2050 16-mal höher sein als zu Beginn des Jahrtausends.1 Daraus ergibt sich ein wachsender Bedarf an komplexen Rekonstruktionen der unteren Extremitäten nach Traumata, Tumoren oder Infektionen in dieser Altersgruppe.
Keypoints
Die Rekonstruktion der unteren Extremität bei älteren Patienten
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kann mit einer hohen Erfolgsrate und überschaubaren Komplikationen durchgeführt werden.
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setzt eine umfassende präoperative interdisziplinäre Beurteilung des Patienten und die Optimierung von Risikofaktoren voraus.
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beruht auf einer sorgfältigen präoperativen Planung.
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erfordert eine geeignete Anästhesie und eine effiziente Operationstechnik.
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beinhaltet eine spezialisierte postoperative Überwachung.
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schliesst eine frühzeitige Mobilisierung des geriatrischen Patienten ein.
Die Rekonstruktion von Weichteildefekten der unteren Extremitäten sollte nach dem Prinzip der plastisch-rekonstruktiven Stufenleiter resp. des plastisch-rekonstruktiven Aufzugs erfolgen, um ein sicheres und schmerzfreies Stehen und Gehen aufrechtzuerhalten.2 Insbesondere bei älteren Patienten sind eine sorgfältige multidisziplinäre Planung, eine gezielte präoperative Beurteilung und Optimierung von Komorbiditäten (wie Diabetes, Mangelernährung oder Gefässerkrankungen) sowie ein spezielles perioperatives Management unabdingbar. Durch die Anwendung dieser Grundsätze kann es älteren Patienten ermöglicht werden, ihre Mobilität und damit ihre Selbstständigkeit zu erhalten, was einer der Schlüsselfaktoren für eine gute Lebensqualität ist. Komplexe Beeinträchtigungen der unteren Extremitäten stellen in dieser Patientenpopulation eine besondere Aufgabe dar, vor allem aufgrund der zunehmenden Zahl von Komorbiditäten bei älteren Menschen, die nicht nur den chirurgischen Eingriff selbst erschweren, sondern auch eine umfassende prä-, peri- und postoperative Behandlung erfordern.3,4
Primär soll über den Extremitätenerhalt entschieden werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Amputationen der unteren Extremität in dieser besonderen Patientengruppe mit einer erhöhten Mortalität verbunden sind.5,6 Wenn nach einer gründlichen Beurteilung die Erhaltung der Gliedmasse vorgesehen ist, müssen komplexe Defekte anatomisch und funktionell wiederhergestellt werden.
Perioperatives Management
Bei der präoperativen Beurteilung ist es bei älteren Patienten besonders wichtig, ein Gleichgewicht zwischen dem technisch Machbaren und dem medizinisch und ethisch Sinnvollen zu finden.
Folgende Punkte sollten bei der präoperativen Beurteilung berücksichtigt werden:
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Komorbiditäten, insbesondere kardiovaskuläre, pulmonale, renale und hepatische Erkrankungen
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Gefässstatus (cave: Atherosklerose!) und Gerinnungsstatus
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Einschränkungen der Wundheilung (Diabetes, Autoimmunerkrankungen)
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Ernährungsstatus (Proteinmangel, vor allem Albuminmangel in Bezug auf die Wundheilung, Kalorienbedarf)
Für einen ganzheitlichen Ansatz sollen Spezialisten anderer Disziplinen hinzugezogen werden. Dies ermöglicht eine schnellere Behandlung und frühere Rehabilitation und führt bei geriatrischen Patienten nicht nur zu besseren klinisch-funktionellen Ergebnissen, sondern auch zu einer erheblichen Senkung der langfristigen Mortalität.
Klassifizierung: Alter versus Gebrechlichkeit
Entscheidend scheint das biologische und nicht das chronologische Alter zu sein. Das biologische Alter verwendet biophysiologische Messungen, um das mit dem Alter zunehmende Risiko medizinischer Zwischenfälle («adverse events» oder «adverse outcomes») zu berechnen.
Der Begriff der Gebrechlichkeit, im Englischen «frailty», wird definiert als «Anhäufung von Defiziten, die den Patienten in medizinischen Notfallsituationen anfälliger machen».7 Im Gegensatz zum rein chronologischen Alter hat das biologische Alter den grossen Vorteil, dass es direkte Rückschlüsse auf die Behandlung und die Prognose des Patienten zulässt. Geriatrische Patienten sind daher eine heterogene Gruppe, weil ein hohes Alter nicht mit den gleichen Komorbiditäten und der gleichen Lebenserwartung einhergeht. Es ist daher besonders wichtig, dass der Behandler (Chirurg) den geriatrischen Patienten in seiner Gesamtheit kennt, um die geeignete interdisziplinäre Zusammenarbeit einzuleiten.
Ziele der Behandlung
Oberstes Ziel ist die Wiederherstellung der Geh- und Stehfunktion und damit der Erhalt der Mobilität und Selbstständigkeit.
Entscheidungsfindung und Behandlungsalgorithmus
Die individuelle Wahl des Verfahrens orientiert sich an dem Konzept der plastisch-rekonstruktiven Leiter («so aufwändig wie nötig, so einfach wie möglich») sowie dem Prinzip, «Gleiches durch Gleiches» zu ersetzen. Ziel ist es, eine in Form, Funktion und Ästhetik individuell angepasste Rekonstruktion zu erreichen, wobei es auch möglich ist, nach dem moderneren Konzept des «plastisch-rekonstruktiven Aufzugs» Leitersprossen zu überspringen (Abb. 1–4).8 Eine freie, mikrochirurgische Gewebetransplantation erlaubt hier eine genau angepasste Rekonstruktion eines dreidimensionalen Defekts, einschliesslich der Füllung des Totraums, sowie einen spannungsfreien und belastbaren Wundverschluss. Die robustere Lappenperfusion ermöglicht darüber hinaus eine wirksame Antibiotika-Behandlung von Infektionen.
Abb. 1: 73-jährige Patientin mit chronischer prätibialer Wunde und exponierter M. tibialis anterior-Sehne nach Anpralltrauma und insuffizienter Spalthaut-Transplantation. Die präoperative angiologische Untersuchung ergab eine offene Arteria und Vena tibialis posterior bei chronischem Verschluss der A. tibialis anterior und A. fibularis
Abb. 2: Volle, schmerzfreie Funktion 3 Monate postoperativ nach Weichteilrekonstruktion mit freiem, sensibilisiertem, teno-faszio-kutanem Oberarmlappen von links und mikrovaskulärer Anastomose auf die A. tibialis postoperior (End-zu-Seit); die Lappenvene wurde auf die V. tibialis gekoppelt (2,0 mm)
Abb. 3: 80-jähriger Patient mit Weichteildefekt im distalen medialen Unterschenkelbereich nach Osteosynthesematerial-Entfernung, Débridement und Ring-Fixateur-Anlage bei chronischer frakturassoziierter Infektion (FRI)
Abb. 4: 6 Wochen postoperativ nach Weichteilrekonstruktion mittels freier fasziokutaner Oberschenkel-Lappenplastik durch den liegenden Ringfixateur hindurch
Chirurgische Planung und Durchführung
Der geriatrische Patient toleriert die intraoperativen Belastungen und postoperativen Komplikationen weniger gut. Aus diesem Grund sollte die Anzahl der Narkosen auf ein Minimum reduziert und die am wenigsten belastende Anästhesietechnik (wenn möglich eine Regionalanästhesie im Sitzen) gewählt werden. Der chirurgische Eingriff sollte nach Möglichkeit in einem Schritt erfolgen. Dies ist nur durch fundierte, interdisziplinäre Planung möglich, die bereits präoperativ Lösungen für mögliche Komplikationen diskutiert und festlegt. Die Operationszeit muss auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Dies kann dadurch erreicht werden, dass mehrere Teams mit erfahrenen Chirurgen gleichzeitig arbeiten, z.B. indem sie gleichzeitig an der Hebe- und der Empfängerstelle arbeiten. Darüber hinaus sollten diese Eingriffe nicht zu Lehrzwecken verwendet werden. Geriatrische Patienten verfügen über weniger funktionelle Organreserven. Offene Wunden verwickeln die Patienten in einen katabolen Stoffwechsel, weshalb die Rekonstruktion so schnell wie möglich erfolgen sollte.
Der geriatrische Patient benötigt ein angepasstes Behandlungsverfahren – je rascher und koordinierter die Behandlung, desto besser.
Lokoregionale Lappenplastiken versus mikrochirurgische Techniken
Eine genauere Kenntnis der Gefässanatomie bis hin zu den Perforatoren – insbesondere aufgrund neuer hochauflösender Bildgebung (Angio-CT und MR, Duplex-Ultraschall) und neuer chirurgischer Techniken – hat die Optionen für lokale und regionale Lappenplastiken zur Rekonstruktion der unteren Extremität erheblich erweitert. Sie kommen grundsätzlich bei kleineren (<50cm2) und einfacheren Wunden in Betracht, wenn ausreichend Gewebe ausserhalb des Wundbereichs mobilisiert werden kann. Lappen auf der Basis von Perforatoren können individuell an die lokal erkannten Gefässe angepasst werden («free-style perforator flaps»). Ein wesentlicher Vorteil ist die meist deutlich kürzere Operationsdauer (Abb. 5).
Abb. 5: Nach einzeitigem Knieprothesenwechsel ist es aufgrund von mechanischer Instabilität zu einer Spontanruptur des Lig. patellae links gekommen. Das klinische Bild der 75-jährigen Patientin zeigt den lokalen Status 3 Wochen nach Refixation des Lig. patellae und Verstärkung dieser Naht mit der tendinösen Rückfläche eines perforatorbasierten, gestielten, myokutanen M. gastrocnemius medialis Lappen
Die Erfolgsquote von freien Lappen liegt heute bei über 90%, sodass sie auch bei älteren Patienten indiziert sein können. Besondere Risiken treten bei ausgeprägten Gefässerkrankungen auf, aber das Risiko für Wundheilungsstörungen und Nekrosen besteht auch in diesen Fällen bei lokalen Lappenplastiken. Wenn trotz eines gefässchirurgischen/angiologischen Eingriffs keine Verbesserung der Perfusion erreicht werden kann, können Bypässe oder arteriovenöse Loops zum Anschluss des freien Lappens als Alternative zur Amputation diskutiert werden.
Früher war das Argument gegen eine mikrochirurgische Rekonstruktion bei sehr alten Patienten mit wenig organischen Reserven vor allem die hohe Belastung durch die lange Operationsdauer unter Vollnarkose. Heute können solche Operationen dank der Fortschritte in der Anästhesiologie und Chirurgie zuverlässig geplant werden, sind sicher und weisen eine deutlich reduzierte perioperative Morbidität und Mortalität auf.9–12
Das Vorgehen in zwei Operationsteams (gleichzeitige Präparation der Empfängerstelle, Entnahme des Lappens und Verschluss der Spenderstelle) sowie die Verwendung schneller und zuverlässiger Techniken bei langen und konstanten Gefässen aus der unteren Extremität (fasziokutaner anterolateraler Oberschenkellappen oder Gracilis-Muskellappen) verringern die Dauer und den Arbeitsaufwand der Operation. Bei stark arteriosklerotischen Gefässen sollten 8/0- oder 7/0-Nähte mit stärkeren Nadeln verwendet und Klemmen am Gefäss möglichst vermieden werden; intraluminale Tourniquets oder Okklusionsvorrichtungen sind gute Alternativen.
Mikrochirurgische Lappenplastiken sind besonders geeignet für:
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ausgedehnte Weichteildefekte der unteren Extremität
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Hochenergieverletzungen des Unterschenkels
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offene Frakturen: Tibiafrakturen Grad III mit erheblichem Gewebeverlust und hohem Risiko für Infektionen, Pseudarthrose, längeren Krankenhausaufenthalt und Amputation. In diesen Fällen ist es oft nicht möglich, eine ausreichende Rekonstruktion durch lokale Lappenplastiken zu erreichen.
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chronische Knocheninfektionen einschliesslich Infektionen im Zusammenhang mit Frakturen und periprothetischen Gelenkinfektionen
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Fuss- und Sprunggelenksdefekte mit freiliegenden Knochen und Sehnen oder Verlust der belasteten Planta pedis
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onkologische Defekte
Postoperatives Management
Häufig sind engmaschige Kontrollen auf der Intensivstation erforderlich, um bei Komplikationen sofort eingreifen zu können. Bei älteren Patienten wurde eine Tendenz zu Komplikationen beobachtet, die nicht direkt mit der Operation zusammenhängen, vor allem im Bereich des Herzens (Infarkt), der Lunge (Lungenentzündung, Embolie) und der Nieren. Eine intensivmedizinische Überwachung für 12–48 Stunden erlaubt:
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Lappenüberwachung zur Früherkennung von Perfusionsproblemen
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restriktive Steuerung der Flüssigkeitszufuhr und des Blutdrucks (Vasoaktiva)
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Aufrechterhaltung der Körpertemperatur
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optimale Ernährung
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spezialisierte Pflege und Physiotherapie, frühe Mobilisierung einschliesslich Atemgymnastik
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Kontrolle der Schmerzen
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Prophylaxe/Behandlung eines Delirs
Umgang mit Komplikationen
Die Komplikations-, Mortalitäts- und Morbiditätsraten können durch die oben genannten Konzepte gesenkt werden. Die Früherkennung ist wichtig, um eine rasche Verschlechterung des älteren Patienten zu verhindern, dessen Reserven im Organsystem und dessen Toleranz gegenüber Komplikationen reduziert sind. Allgemeine Komplikationen der Organfunktionen und des mentalen Zustands müssen multidisziplinär angegangen werden. Lokale Komplikationen an der Spender- und Empfängerstelle sollten rasch chirurgisch behandelt werden.
Literatur:
1 Robine JM, Cubaynes S: Worldwide demography of centenarians. Mech Ageing Dev 2017; 165(Pt B): 59-67 2 Levin LS: From replantation to transplantation: The evolution of orthoplastic extremity reconstruction. J Orthop Res 2022; online ahead of print 3 Gohritz A et al.: Microsurgical reconstruction of the lower extremity in the elderly. Clin Plast Surg 2021; 48(2): 331-40 4 Katlic MR, Coleman J: Surgery in centenarians. In: Rosenthal RA et al. (eds.): Principles and Practice of Geriatric Surgery. Springer Nature 2020; 51-66 5 Klaphake S et al.: Mortality after major amputation in elderly patients with critical limb ischemia. Clin Interv Aging 2017; 12: 1985-92 6 Reiter G et al.: Rekonstruktion der unteren Extremität im Alter – ein interdisziplinärer Ansatz : Geriatrisches Assessment, perioperatives Management, Diagnostik und Therapieziele. Chirurg 2019; 90(10): 795-805 7 Fried LP et al.: Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001; 56(3): M146-56 8 Haumer A et al.: Plastisch-chirurgische Rekonstruktion der unteren Extremität bei alten Patienten. Unfallchirurgie 2023; 126(4): 299-311 9 Serletti JM et al.: Factors affecting outcome in free-tissue transfer in the elderly. Plast Reconstr Surg 2000; 106(1): 66-70 10 Klein HJ et al.: Extending the limits of reconstructive microsurgery in elderly patients. J Plast Reconstr Aesthet Surg 2016; 69(8): 1017-23 11 Azoury SC et al.: Principles of orthoplastic surgery for lower extremity reconstruction: why is this important? J Reconstr Microsurg 2021; 37(1): 42-50 12 Coskunfirat OK eta al.: The safety of microvascular free tissue transfer in the elderly population. Plast Reconstr Surg 2005; 115(3): 771-5