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Physikalische Medizin bei Muskelschwund – ein Update

<p class="article-intro">Der Verlust an Muskelkraft stellt sowohl im Alter als auch bei chronischen und akuten Krankheiten einen Risikofaktor für Funktionsverlust, verzögerte Heilung und sogar Sterblichkeit dar. Neben funktionellen Tests können innovative Methoden, wie DEXA, BIA oder Muskelultraschall, bei der Diagnose wichtige Erkenntnisse über das Ausmaß des Muskelschwundes liefern. Als therapeutische Maßnahmen werden aktives Training, neuromuskuläre Elektrostimulation und diätetische Maßnahmen empfohlen.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Muskelschwund im Alter und bei akuten und chronischen Krankheiten stellt einen Risikofaktor f&uuml;r Funktionsverlust, verz&ouml;gerte Heilung und erh&ouml;hte Sterblichkeit dar.</li> <li>Die Diagnostik muss funktionelle Tests und Muskelmassenbestimmungen kombinieren.</li> <li>Eine aktives Training, apparativ unterst&uuml;tztes Training sowie neuromuskul&auml;re Elektrostimulation umfassende Behandlung hat Evidenzgrad 1a.</li> <li>Die Methodenauswahl obliegt dem erfahrenen Arzt, der dabei den klinischen Zustand, aber auch die W&uuml;nsche und Erwartungen der Patienten ber&uuml;cksichtigen sollte.</li> </ul> </div> <p>Die Skelettmuskulatur macht 40&ndash;50 % des K&ouml;rpergewichts des Menschen aus und besteht aus mehr als 600 Einzelmuskeln. Neben den Funktionen f&uuml;r die aktiven Bewegungen ist die Skelettmuskulatur auch f&uuml;r die Thermogenese mitverantwortlich. Sie stellt den einzigen Energiespeicher f&uuml;r Proteine dar und spielt eine wichtige Rolle im Intermedi&auml;rstoffwechsel. In den letzten Jahren hat die Forschung &uuml;ber muskeleigene Botenstoffe, sogenannte Myokine, enorm an Bedeutung gewonnen. Derzeit sind &uuml;ber 100 Myokine bekannt. Diese Forschungsergebnisse zeigen, dass die Skelettmuskulatur ein eigenst&auml;ndiges endokrines sekretorisches Organ darstellt, das eine Vielzahl von Myokinen sezerniert, die auf fast alle K&ouml;rpergewebe wirken.<br /> Aufgrund dieser Bedeutung der Skelettmuskulatur ist es verst&auml;ndlich, dass ein Muskelschwund einen vielf&auml;ltigen Eingriff in die Hom&ouml;ostase des K&ouml;rpers darstellt. Ein Abbau der Muskulatur findet nicht nur im Alter statt &ndash; dann als Sarkopenie bezeichnet &ndash;, sondern auch bei Immobilit&auml;t und bei akuten wie auch vor allem bei chronischen Erkrankungen, wie COPD, chronischer Herzinsuffizienz, chronischer renaler Insuffizienz und vielen mehr. Nicht vergessen werden darf die lokale Muskelatrophie bei Gelenkserkrankungen. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite74.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Diagnose</h2> <p>Die Messung von K&ouml;rperumf&auml;ngen alleine gen&uuml;gt nicht zur Diagnose eines Muskelschwundes, da bei adip&ouml;sen Patienten in der Form der sogenannten &bdquo;sarkopenischen Adipositas&ldquo; die K&ouml;rperumf&auml;nge zwar erhalten sind, der Muskel jedoch durch Fettgewebe ersetzt ist. Daher sind f&uuml;r eine exakte Bestimmung der K&ouml;rpermuskelmasse CT- oder MR-Untersuchungen als Goldstandard zu empfehlen. Aber auch die &bdquo;dual-energy X-ray absorptiometry&ldquo; (DEXA) oder die Bioimpedanzanalyse (BIA) erlauben eine Einsch&auml;tzung der Gesamtk&ouml;rpermuskelmasse. Neuentwicklungen betreffen den bildgebenden Ultraschall, wo Studien eine gute Korrelation des Oberschenkelmuskelquerschnitts mit der Kraftentwicklung zeigen (Abb. 1, 2).<br /> Die Hauptfunktion der Muskulatur ist und bleibt die aktive Bewegung. Daher ist eine Einsch&auml;tzung der muskul&auml;ren Leistungsf&auml;higkeit &uuml;ber bewegungsbezogene Messmethoden zielf&uuml;hrend. Die Messung der Muskelkraft, meist isometrisch in Form der Handkraftmessungen (Abb. 3), stellt eine eindimensionale Messmethode dar. Heutzutage sollte die Leistungsf&auml;higkeit des Muskels gemessen werden. Die Leistung (&bdquo;power&ldquo;) ist eine komplexe Gr&ouml;&szlig;e und definiert sich als Arbeit in der Zeiteinheit. Funktionelle Tests, wie der &bdquo;Timed up and go&ldquo;-Test, der &bdquo;Chair rise&ldquo;-Test oder der &bdquo;Stair climb&ldquo;-Test, ber&uuml;cksichtigen diese Komponenten.<br /> Verlust der Muskelmasse, verbunden mit Abnahme der muskul&auml;ren Leistungsf&auml;higkeit, ist im Alter sehr h&auml;ufig mit Gebrechlichkeit (&bdquo;frailty&ldquo;) verbunden und f&uuml;hrt, falls sie nicht behandelt wird, zum Verlust der Selbstst&auml;ndigkeit. Der Muskelschwund und die Sarkopenie stellen auch einen Kostenfaktor dar. Eine US-amerikanische Studie beziffert die Kosten der Sarkopenie in den Vereinigten Staaten im Jahr 2000 auf 18,5 Milliarden Dollar. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite75_1.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Therapie</h2> <p>Therapeutische Optionen zur Bek&auml;mpfung des Muskelschwundes bestehen aus aktivem Training, neuromuskul&auml;rer Elektrostimulation und entsprechenden di&auml;tetischen Ma&szlig;nahmen. Das aktive Krafttraining &ndash; eine der Methoden der medizinischen Trainingstherapie zum Muskelaufbau &ndash; ist seit Jahrzehnten als Goldstandard festgelegt und in der Methodik klar definiert. Die Trainingsbelastungen einer Muskelgruppe sollten &uuml;ber 50 % der Maximalkraft betragen. Im Idealfall sind 8&ndash;15 Wiederholungen (= 1 Satz) bis zur lokalen Muskelerm&uuml;dung m&ouml;glich. Wenn aufgrund des Trainingsfortschritts mehr als 15 Wiederholungen m&ouml;glich sind, muss die Gewichtsbelastung gesteigert werden. Dies entspricht dem Prinzip eines fortlaufend angepassten progressiven Krafttrainings.<br /> Metaanalysen bei &auml;lteren Menschen zeigen eine eindeutig positive Wirkung von Krafttraining auf die Muskelkraft und die Schmerzreduktion bei Osteoarthrose. Die Ergebnisse bei funktionellen Tests verbessern sich &ndash; mit einer moderaten bis gro&szlig;en Effektst&auml;rke &ndash; ebenfalls. Insgesamt ist das aktive Krafttraining eine Ma&szlig;nahme des Evidenzlevels 1a.<br /> Hilfreich, gerade f&uuml;r &auml;ltere Patienten, sind Kraftmaschinen. Sie erlauben eine exakte Bewegungsausf&uuml;hrung und reduzieren das Verletzungsrisiko. Bei ad&auml;quater und sorgf&auml;ltiger Indikationsstellung ist das kardiovaskul&auml;re Risiko &auml;u&szlig;erst gering. Eigene Studien haben gezeigt, dass in Pensionistenwohnh&auml;usern ein Krafttraining mit elastischen B&auml;ndern (Therab&auml;ndern) zu einer signifikanten Kraftsteigerung f&uuml;hrt und dar&uuml;ber hinaus Tumorwachstumsfaktoren in den Leukozyten reduziert. DNA-Sch&auml;den der Chromosomen werden durch diese Intervention selbst im hohen Alter reduziert. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite75_2.jpg" alt="" width="381" height="453" /></p> <h2>Neue Therapiemethoden</h2> <p>Angesichts der &uuml;berragenden Wirk&shy;nachweise des Muskeltrainings, das jedoch eine deutliche Compliance der Patienten erfordert und dadurch limitiert ist, muss die Medizin neue Trainingsformen erschlie&szlig;en. Eine davon ist die mechanische Muskelstimulation durch Applikation von Vibrationsimpulsen. Das Stehen auf einer vibrierenden Plattform bei 25Hz &uuml;ber 3 Minuten bewirkt eine vergleichbare Anzahl von Muskelkontraktionen wie eine Gehstrecke von 4500 Schritten. Auch in diesem Zusammenhang zeigen Metaanalysen eine Wirksamkeit im Sinne einer verbesserten funktionellen Leistungsf&auml;higkeit sowie einer Verbesserung von Kraft und Gleichgewicht bei Patienten mit Kniegelenksarthrosen. Die Dosierung sollte 25&ndash;50Hz Vibrationsfrequenz umfassen. Trainingszeiten von 8&ndash;12 Wochen, 3x in der Woche, sind notwendig, um einen ad&auml;quaten Trainingsreiz auszul&ouml;sen. Ein eindeutiger Unterschied verschiedener Vibrationsformen konnte bis jetzt nicht nachgewiesen werden. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite75_3.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Neuromuskul&auml;re Elektro&shy;-stimulation als evidenzbasierte Therapie&shy;methode</h2> <p>Eine weitere Trainingsmethode stellt die neuromuskul&auml;re Elektrostimulation dar. Durch Depolarisation der distalen Motoneurone im elektrischen Feld wird eine entsprechende Muskelkontraktion ausgel&ouml;st, die zu trainingswirksamen Reizen im Muskelgewebe f&uuml;hrt (Abb. 4) Dar&uuml;ber hinaus bewirkt die Elektrostimulation auch eine Aktivierung der Feedback- und Feedforward-Mechanismen und dadurch eine Aktivierung der entsprechenden motorischen Areale des Gehirns. Die neuromuskul&auml;re Elektrostimulation kann daher auch zur F&ouml;rderung von Bewegungsmustern und Bewegungsprogrammen eingesetzt werden.<br /> Eine Behandlungszeit von 6&ndash;8 Wochen mit einer Applikation 3x w&ouml;chentlich und entsprechend starken Muskelkontraktionen ist Grundvoraussetzung f&uuml;r die Wirksamkeit. Stromst&auml;rke, Stimulationsfrequenz, Rampe, On/off-Zeit, Impulsform und Impulsdauer m&uuml;ssen individuell eingestellt und progressiv angepasst werden. Metaanalysen zeigen signifikante Verbesserungen der Kniegelenksfunktion und eine Schmerzreduktion bei Osteoarthritis.<br /> Eine eindeutig positive Wirkung auf die Muskelkraft ist bei Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen nachgewiesen. Somit kann die neuromuskul&auml;re Elektrostimulation bei der Verbesserung der Muskelkraft, aber auch der funktionellen Leistungsf&auml;higkeit als Methode mit Evidenz 1a eingestuft werden. Gerade schwerkranke Patienten auf Intensivstationen bed&uuml;rfen fr&uuml;hzeitiger Intervention, um einer Katabolie entgegenzuwirken (Abb. 5). Studien haben gezeigt, dass die neuromuskul&auml;re Elektrostimulation, fr&uuml;hzeitig eingesetzt, den katabolen Abbau verlangsamen kann und, &uuml;ber einen l&auml;ngeren Zeitraum des Intensivstationaufenthaltes eingesetzt, dazu beitr&auml;gt, dass Patienten ihre Muskelkraft 4,5x rascher wiedererlangen als die unbehandelte Kontrollgruppe.<br /> Bei der Behandlung der Sarkopenie sollten di&auml;tetische Ma&szlig;nahmen mit einer Gesamtproteinaufnahme von 1,5g/kg KG/d und einer entsprechenden Einstellung des Vitamin-D-Spiegels auf &uuml;ber 75nmol/L nicht vernachl&auml;ssigt werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite76.jpg" alt="" width="614" height="355" /></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
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