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Perioperatives Management des Polytraumas

Die Versorgung von Polytraumapatienten stellt eine große Herausforderung im klinischen Alltag eines Traumazentrums dar, wobei unkontrollierte Blutungen die führende Ursache von potenziell vermeidbaren Todesfällen sind. Den folgenden Strategien liegen die aktuellen evidenzbasierten Empfehlungen der paneuropäischen multidisziplinären Projektgruppe „Task Force for Advanced Bleeding Care in Trauma“ zugrunde.

Keypoints

  • Ein multidisziplinäres Konzept für das Management von Polytraumapatienten bildet die Voraussetzung für ihre optimale Versorgung.

  • Wünschenswert ist, dass jedes Traumazentrum, den lokalen Gegebenheiten entsprechend, aus den vorliegenden aktuellen evidenzbasierten Empfehlungen ein lokales Protokoll entwickelt, an dem es festzuhalten gilt, und dieses in den klinischen Alltag implementiert.

  • Wenn zukünftig neue Erkenntnisse zu abgeänderten Empfehlungen führen, müssen die bis dato gültigen Leitlinien dementsprechend adaptiert werden.

Bei der Krankenhausaufnahme zeigt ein Drittel aller blutenden Verunfallten Zeichen von Koagulopathie. Bei gegebenem Verletzungsmuster sorgt das Vorliegen dieser Störung für Multiorganversagen und eine deutlich erhöhte Letalität, die durch das gleichzeitige Auftreten von Azidose und/oder Hypothermie noch wesentlich gesteigert wird. Da sich Koagulopathie, Azidose und Hypothermie gegenseitig aggravieren, werden sie als „letale Trias“ bezeichnet. Bedingt durch die unzureichende Sauerstoffversorgung infolge massiver Blutung setzen ein anaerober Stoffwechsel mit verringerter endogener Wärmeproduktion sowie eine Anhäufung von Laktat ein, wodurch eine Hypothermie bzw. eine Azidose entstehen. Diese beiden Störungen wiederum tragen zur Koagulopathie bei, da sie die Gerinnungskaskade beeinträchtigen, die Blutung verschlimmern und die Herzleistung verringern.

In der Polytraumaversorgung gilt daher als goldene Regel, das Auftreten dieses komplexen Pathomechanismus zu unterbrechen. Ziel dieses Beitrags ist es, stichhaltige Empfehlungen zu präsentieren, die als Leitlinien in einen dem Standort und den Ressourcen angepassten lokalen Behandlungsalgorithmus implementiert werden können.

Diagnose und Verlaufsüberwachung von Blutung und Gerinnung

Im Rahmen der Eingangsuntersuchung sollte das Ausmaß der Blutung anhand von Patientenphysiologie, anatomischem Verletzungsmuster und Unfallmechanismus sowie anhand der Reaktion des Patienten auf eine gegebenenfalls notwendige initiale Reanimation festgestellt werden. Der Grad des hypovolämischen Schocks sollte mit dem Schockindex erhoben werden. Patienten, deren Blutungsquelle offensichtlich ist, sowie Patienten in extremis mit hämorrhagischem Schock und einer vermuteten Blutungsquelle sollten umgehend einer chirurgischen Intervention unterzogen werden. Bei Patienten mit einer nicht identifizierten Blutungsquelle, bei denen eine unverzügliche Blutungskontrolle nicht notwendig ist, sollte hingegen eine sofortige weitergehende Untersuchung durchgeführt werden.

Ein niedriger initialer Hämoglobinwert sollte als Indikator für eine massive Blutung in Verbindung mit einer Koagulopathie erachtet werden. Da jedoch ein initialer Hämoglobinwert im Normalbereich eine vorliegende Blutung verschleiern kann, ist in diesem Fall die Durchführung wiederholter Messungen empfehlenswert. Zum Abschätzen und Kontrollieren des Ausmaßes von Blutung und Schock eignen sich Laktat- und Basendefizitmessungen.

Weiters wird empfohlen, routinemäßig eine frühzeitige und wiederholte Gerinnungsbestimmung zur Kontrolle der Homöostase durchzuführen, wobei bei einer tatsächlichen oder auch nur vermuteten Behandlung mit Antikoagulanzien bzw. Thrombozytenaggregationshemmern ein zusätzliches Screening als angebracht erscheint. Mittels einer traditionellen Laborbestimmung können Prothrombinzeit, Anzahl der Thrombozyten und Fibrinogenspiegel erhoben werden und die „International Normalized Ratio“ kann aus der Prothrombinzeit berechnet werden. Alternativ können viskoelastische Methoden wie die Rotationsthrombelastografie (ROTEM®) oder die Multiple-Electrode-Aggregometrie (Multiplate®) zur Akutdiagnostik der Gerinnung herangezogen werden.

Hypoxämie sollte auf jeden Fall vermieden werden. Für den Fall, dass keine Zeichen einer drohenden Einklemmung des Gehirns erkennbar sind, ist Normoventilation empfehlenswert, anderenfalls wird Hyperventilation als geeignet erachtet.

Sauerstoffversorgung des Gewebes, Flüssigkeits- und Temperaturmanagement

Nach einem Polytrauma ohne Hirnschädigung sollte in der Anfangsphase permissive Hypertension mit einem systolischen Sollblutdruck von 80–90mmHg und einem mittleren arteriellen Blutdruck von 50–60mmHg so lange zugelassen werden, bis die Blutung gestoppt ist. Bei Patienten mit einem schweren Schädelhirntrauma (Glasgow Coma Scale ≤8) sollte jedoch ein mittlerer arterieller Blutdruck von zumindest 80mmHg aufrechterhalten werden.

Bei hypotensiven Polytraumapatienten wird die Einleitung einer Infusionstherapie auf Basis isotonischer kristalloider Lösungen (ausgewogene Elektrolytlösungen und keine Salzlösungen) empfohlen. Bei Polytraumapatienten mit schwerer Kopfverletzung sollten jedoch hypotone Lösungen wie eine Ringer-Laktat-Lösung keine Verwendung finden. Wegen ihrer schädlichen Auswirkung auf die Homöostase sollte auch die Verwendung von Kolloiden eingeschränkt werden.

Bei Vorliegen einer lebensbedrohlichen Hypotension ist es empfehlenswert, zusätzlich zur Flüssigkeit auch Vasopressoren zu verabreichen, um den arteriellen Solldruck aufrechtzuerhalten. Bei Vorliegen einer elektrokardiografischen Dysfunktion sollte eine Infusion mit einem inotropen Wirkstoff verabreicht werden.

Da die Sauerstoffversorgung des Gewebes durch das Produkt aus Blutfluss und arteriellem Sauerstoffgehalt bestimmt ist, der wiederum in direktem Zusammenhang zur Hämoglobinkonzentration steht, kann eine sinkende Konzentration das Risiko für Gewebehypoxie erhöhen. Daher wird für die Hämoglobinkonzentration ein Sollwert von 7–9g/dl empfohlen.

In Hinblick auf eine Optimierung der Koagulation sollten frühzeitig Maßnahmen zur Reduktion von Wärmeverlust und zum Wärmen des hypothermen Patienten getroffen werden, mit dem Ziel, Normaltemperatur zu erreichen und diese auch zu erhalten.

Initiales Management von Blutung und Gerinnung

Bei Patienten mit Traumata, die eine dringende chirurgische Blutungskontrolle benötigen, sollte die Zeitspanne zwischen dem Eintritt der Verletzung und der Operation minimiert werden. „Damage Control Surgery“ wird für Polytraumapatienten mit schwerem hämorrhagischem Schock und mit Zeichen anhaltender Blutung, Koagulopathie, Hypothermie und Azidose sowie im Fall einer nicht zugänglichen bedeutenden Verletzung, der Notwendigkeit zeitaufwendiger Verfahren oder einer begleitenden schwerwiegenden Verletzung außerhalb des Abdomens empfohlen. Diese Behandlungsstrategie dient in erster Linie der hämodynamischen Stabilisierung und Kontrolle lebensbedrohlicher abdomineller und thorakaler Verletzungen sowie der temporären Stabilisierung von Frakturen und/oder der Versorgung von Weichteilschäden. Bei hämodynamisch stabilen Patienten gilt hingegen die definitive chirurgische Versorgung im Rahmen der „Early Total Care“-Strategie als angebracht.

Beckenringfrakturen von Patienten im hämorrhagischen Schock sollten geschlossen und stabilisiert werden. Falls trotz adäquater Beckenringstabilisierung weiterhin eine hämodynamische Instabilität vorliegt, sollten eine angiografische arterielle Embolisation und/oder eine chirurgische Blutungskontrolle inklusive „packing“ mit Bauchtüchern angedacht werden. Für eine venöse oder eine mäßige arterielle Blutung in Zusammenhang mit einer parenchymalen Verletzung wird die Verwendung von modernen topischen blutstillenden Mitteln empfohlen.

Polytraumapatienten mit bereits bestehender oder drohender massiver Blutung sollte Tranexamsäure schnellstmöglich und innerhalb von 3 Stunden nach der Verletzung in einer Dosis von 1g über eine zehnminütige Infusion verabreicht werden, ohne auf das Ergebnis der viskoelastischen Untersuchung zu warten. Die Nachfolgedosis sollte 1g über 8 Stunden betragen. Monitoring und Maßnahmen, die die Koagulation unterstützen, sollen unmittelbar nach der Krankenhausaufnahme eingeleitet werden.

Das initiale Management von bereits bestehender oder drohender massiver Blutung sollte entweder auf der Verabreichung von gefrorenem Frischplasma oder pathogeninaktiviertem Plasma im Verhältnis von zumindest 1:2 mit Erythrozyten oder alternativ mit Fibrinogenkonzentrat und Erythrozyten beruhen.

Anschließendes Gerinnungsmanagement

Die weiterführende Behandlung sollte anhand einer zielgerichteten Strategie erfolgen, basierend auf Gerinnungswerten, die im Rahmen einer traditionellen Laborbestimmung und/oder mithilfe viskoelastischer Methoden erhoben werden.

Im Falle einer Behandlungsstrategie mit Plasma sollte eine weitere Verabreichung von der Höhe der Gerinnungsparameter abhängig gemacht werden (Prothrombinzeit und/oder aktivierte partielle Thromboplastinzeit größer als der 1,5-fache Normalwert und/oder ein viskoelastischer Nachweis eines Gerinnungsfaktorenmangels). Plasmatransfusionen sollten sowohl bei Patienten ohne massive Blutung als auch zur Behandlung von Hyperfibrinogenämie (viskoelastischer Nachweis eines Gerinnungsfaktorenmangels oder ein Plasmafibrinogenspiegel von höchstens 1,5g/l) vermieden werden.

Falls eine Strategie mit Gerinnungsfaktorenkonzentraten zur Anwendung kommt, sollten Gerinnungsparameter und/oder der Nachweis eines funktionalen Gerinnungsfaktormangels die Basis bilden. Unter der Voraussetzung eines normalen Fibrinogenspiegels wird vorgeschlagen, dem blutenden Polytraumapatienten Prothrombinkomplexkonzentrat bei nachgewiesener verzögerter Gerinnungsinitiierung zu verabreichen. Empfohlen wird auch, die Verlaufsüberwachung von Faktor XIII in Algorithmen zur Unterstützung der Gerinnung zu implementieren und blutenden Polytraumapatienten mit einem diesbezüglichen Mangel Faktor XIII zuzuführen.

Geht eine starke Blutung mit einer Hyperfibrinogenämie einher, sollte die Behandlung mit Fibrinogenkonzentrat erfolgen. Vorgeschlagen wird eine anfängliche Fibrinogensupplementierung von 3–4g. Dosen sollten wiederholt anhand des Fibrinogenspiegels verabreicht werden.

Als empfehlenswert gilt die Gabe von Thrombozyten in Form von 4–8 einzelnen Einheiten oder einer Apheresekonserve. Bei Patienten mit anhaltender Blutung und/oder Schädelhirntrauma sollte eine Thrombozytenzahl von über 100 × 109/l, anderenfalls über 50 × 109/l, aufrechterhalten werden. Während ausgedehnter Transfusionen sollte die Konzentration von ionisiertem Kalzium überwacht und gegebenenfalls im Normalbereich gehalten werden. Vorgeschlagen wird die Verabreichung von Kalziumchlorid, um eine Hypokalzämie zu korrigieren. Die Verwendung von rekombinantem aktiviertem Faktor VII als First-Line-Therapie wird hingegen nicht empfohlen.

Antagonisierung von Antithrombotika

Bei blutenden Polytraumapatienten, die Gerinnungshemmer einnehmen, sollte der Effekt der Antikoagulanzien aufgehoben werden. Orale Vitamin-K-Antagonisten können mit der frühen intravenösen Verabreichung von Prothrombinkomplexkonzentraten und 10mg Phytomenadion (Konakion®) neutralisiert werden.

Die Messung der Plasmaspiegel von oralen direkten Anti-Faktor-Xa-Wirkstoffen wie Apixaban, Edoxaban und Rivaroxaban sollte sowohl bei nachgewiesener als auch bei nur vermuteter Behandlung erfolgen. Falls die Blutung lebensbedrohlich ist, wird die intravenöse Verabreichung von Tranexamsäure (15mg/kg) empfohlen. Außerdem sollte die Gabe von Prothrombinkomplexkonzentraten (25–50U/kg) so lange erwogen werden, bis ein spezielles Gegenmittel verfügbar ist.

Für die Erfassung der Plasmaspiegel von Dabigatran ist die Messung der verdünnten Thrombinzeit geeignet. Patienten, die Thrombozytenaggregationshemmer erhalten haben, sollten mit Thrombozytenkonzentraten behandelt werden, wenn die Blutung andauert und eine Thrombozytenstörung belegt ist oder wenn eine Einklemmung des Gehirns vorliegt und eine Operation ansteht.

Postoperative Thromboseprophylaxe

Als empfehlenswert gilt eine frühzeitige kombinierte pharmakologische und mechanische Thromboseprophylaxe mit intermittierender pneumatischer Kompression, solange der Patient immobil ist und ein Blutungsrisiko besteht. Hingegen wird von abgestuften Kompressionsstrümpfen und minderwertigen Vena-cava-Filtern abgeraten.

Spahn DR et al.: The European guideline on management of major bleeding and coagulopathy following trauma: fifth edition. Crit Care 2019; 23(1): 98

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