
Ökonomisches Vorgehen in der Prothesenversorgung an der unteren Extremität nach Amputationen
Autor:
Prof. Dr. Bernhard Greitemann
Klinik Münsterland der DRV Westfalen,
Reha-Klinikum Bad Rothenfelde
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Die Prothesenversorgung nach Amputationen an den unteren Extremitäten hat sich in den letzten Jahren durch neue technische Möglichkeiten insbesondere im Bereich der Passteile stark verbessert. Dadurch wird den Betroffenen deutlich mehr Lebensqualität geboten.
Keypoints
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In der Prothesenversorgung stehen der bestmögliche Funktionsausgleich und somit die Teilhabeverbesserung im Vordergrund.
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Allerdings sind auch unter gesamtgesellschaftlichen Aspekten ökonomische Erwägungen zu berücksichtigen.
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Wesentlich für die Versorgung sind der Schaft- und Lotaufbau sowie die im Team erarbeitete Passteilauswahl.
Die UN-Behindertenrechtskonvention unterstreicht eindrücklich das Recht amputierter Patienten auf eine bestmögliche Versorgung im Sinne einer möglichst vollständigen Reintegration in Alltag, Beruf und soziales Umfeld (Teilhabe). Teilweise im Gegensatz dazu stehen die Ausführungen im Krankenkassenrecht, bei denen das Primat der Wirtschaftlichkeit unterstrichen ist. Der Verordner steht somit vor einem Dilemma. Einerseits muss er sich möglichst empathisch um seinen Patienten kümmern und diesen unterstützen, andererseits auch das Große und Ganze im Hinblick auf die wirtschaftliche Belastung für die Allgemeinheit berücksichtigen. In Grenzfällen muss dabei zwangsläufig die optimale Betreuung des Betroffenen Vorrang haben.
Indikationsstellung, Verordnung
Die Versorgung mit einer Prothese kann verschiedene Zielsetzungen haben. Primär steht dabei der Funktionsausgleich im Vordergrund, der Patient sollte wieder möglichst weitgehend mobil sein können und am täglichen Leben teilhaben. Zudem erfüllt sie die Aufgabe des kosmetischen Ausgleichs, das heißt des Kaschierens des Beinverlustes. Heute ist zunehmend festzustellen, dass dieser Aspekt immer mehr in den Hintergrund tritt. Das früher dominierende Design der Prothese im Sinne von hautfarbenen Prothesen wird zunehmend durch individuelle Designs mit teilweise auch aggressiv künstlerisch bemalten Prothesen abgelöst (Abb.1b).
Abb. 1: a) Schema suprakondyläre Verklammerung, b) individuelles Design einer Unterschenkelprothese
Die Indikationsstellung und die Verordnung von Prothesen erfordern von allen den Rehabilitationsprozess begleitenden Disziplinen ein tiefer gehendes Fachwissen über mögliche Schaftvarianten, Linersysteme und den statischen Aufbau sowie zumindest Grundkenntnisse über die Wirkmechanismen der verwendeten Passteile. Dies ist insbesondere auch für die Physiotherapie wichtig, um mit den Passteilen ein optimiertes Gehen zu trainieren.
Die meisten Erstversorgungen erfolgen im Rahmen einer stationären Rehabilitation. Zielsetzung der primären Behandlungsphase ist es, die funktionellen Möglichkeiten des Patienten zu evaluieren, um festzustellen, ob eine Prothesenversorgung überhaupt möglich ist. Dies ist unabdingbar nur in einem eng zusammenarbeitenden Team möglich, kann dann allerdings in einem Zeitraum von etwa 2Wochen fundiert erarbeitet werden. Dabei spielen neben dem primären Allgemein- und Kraftzustand des Patienten die Amputationsursache, Komorbiditäten, die lokale Stumpfsituation und Belastungsfähigkeit des Stumpfendes, degenerative Veränderungen der angrenzenden Gelenke, die Kraft des Gegenbeins, die Stützkraft der Arme sowie Koordination und Gleichgewichtsfähigkeit des Patienten eine wesentliche Rolle. Diese können systematisch erarbeitet und evaluiert werden (Tab. 1).
Falls im Rahmen der primären Testung eine Prothesenversorgung nicht sinnvoll erscheint, ist frühzeitig flankierend eine intensive Sozialberatung und -unterstützung erforderlich. Dem Patienten muss dies sehr empathisch erläutert werden, die Behandlung fokussiert dann anschließend auf optimale Rollstuhlversorgung und Transfertraining. Dabei ist diese Entscheidung gegen eine primäre Prothesenversorgung nicht unumstößlich und sie sollte im Rahmen der ambulanten Nachbehandlung auch regelmäßig hinterfragt werden, da sich durch Verbesserung des Kraft- und Allgemeinzustandes gegebenenfalls neue Aspekte ergeben können. Im Umkehrschluss kann es aber auch möglich sein, dass ein mit Primärprothese versorgter Patient aufgrund sich verändernder Gesundheits- und Rahmenbedingungen später auf eine Prothese verzichtet. Auch dies sollte man dem Patienten erläutern.
Der nächste Schritt auf dem Weg zur Prothese ist die Erarbeitung des prognostisch zu erreichenden sogenannten Mobilitätsgrades (Tab. 2). Auch dies muss im Team durch Inputs aus allen Bereichen möglichst breit abgesichert werden. Der Mobilitätsgrad ist wichtig für die dann folgende Passteilauswahl. Beide Schritte werden bei uns im sogenannten Amputationsteam – bestehend aus Arzt, Physiotherapeut, Orthopädietechniker und Patient – erarbeitet und besprochen. Anschließend erfolgen die Verordnung durch den Arzt (Tab. 3) und die Erarbeitung eines Kostenvoranschlages durch den Orthopädietechniker. Die Wahl des Technikers obliegt der freien Entscheidung des Patienten, auf Beratung und Erfahrungen des Teams darf der Patient aber zurückgreifen.
Nach erfolgter Kostenübernahmezusage durch den Kostenträger wird die Prothese in der „Interimsversion“ fertiggestellt. Die Prothesenversorgung kann dann aufgenommen werden, wenn der Stumpf die mechanische Belastung tolerieren kann. Dies ist etwa 2–5 Wochen nach der Operation möglich, Fäden und Klammern sollten entfernt sein. Oberflächliche Wundheilungsstörungen sind nicht primär eine Kontraindikation, manchmal kann eine frühzeitige Prothesenversorgung die Wundheilung auch fördern. Scherkräfte sind zu vermeiden.
Merke: Bei der Interimsprothese handelte sich um eine zeitlich begrenzte Erstversorgung für etwa 6–9 Monate, bei der die wesentlichen Elemente der definitiven Prothesenversorgung beinhaltet sind, Nachbelastungen im Schaft oder statische Änderungen aber möglich sind.
Prothesenversorgung
Der Erfolg der Prothesenversorgung hängt in absteigender Bedeutung ab von:
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Schaftgestaltung
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statischem Aufbau
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Kinematik
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Auswahl entsprechender Prothesenpassteile
Es kann nicht genug betont werden, dass die so hoch geschätzten und stark beworbenen Prothesenpassteile trotz der massiven Fortschritte auf dem Prothesenpassteilsektor ihre volle Kapazität und Wirkung nicht erzielen können, wenn dazu kein passender Schaft oder/und ein statisch nicht korrekter Aufbau vorliegen.
Bauweise Schaft
Die Prothesen (Unterschenkel, Knieexartikulation, Oberschenkel, Becken) werden heute nahezu immer in der sogenannten Modularbauweise gefertigt. Dabei liegt das tragende Element innen (meist Rohrsysteme und der Schaft), die Kosmetik außen. In der Interimsprothese sind durch Verschiebeadapter Achskorrekturen in allen Ebenen und dadurch Einflussmöglichkeiten auf das Gangbild möglich. Der Patient kann somit im Rahmen der Gangschulung verschiedene Achsstellungen erproben und die für ihn optimale Einstellung erarbeiten.
Der Schaft stellt das wichtigste Element der Prothese dar. Durch die feste Verbindung zwischen Stumpf und Schaft wird Haftung erreicht, die Stumpf-/Schaftpseudarthrose muss möglichst minimiert werden. Hierdurch werden Zug oder zu starker Druck vermieden und ein gutes Haut- bzw. Schaftklima wird erreicht. Ein nicht passender Schaft führt dazu, dass entweder die Prothese verloren wird oder unnötig hoher Energieverbrauch durch Muskeleinsatz zum „Halten“ der Prothese resultiert und es zu Druck- und Scheuerstellen oder starkem Schwitzen kommt. Der Schaft ist somit immer noch der wichtigste Part der Prothesenversorgung. Moderne Schäfte bestehen heute meist aus Carbon-/Kunstharzaußenschäften, mit Liner-, Haft- oder Weichwandinnenschaft.
Der Stumpf muss im Schaft Vollkontakt haben. Lufteinschlüsse sind zu vermeiden. Die Amputationshöhe definiert die Möglichkeit der Endbelastbarkeit. Bei empfindlichen Stümpfen mit geringerer Endbelastbarkeit können gegebenenfalls über Weichpolster aus verschiedenen Materialien trotzdem optimale Endkontaktsituationen hergestellt werden. Im Schaft sind proximale Hinterschneidungen zu vermeiden, da es dadurch zu lymphatischen und venösen Stauungen kommt, die der Hauttrophik am Stumpfende nicht zugutekommen.
Man unterscheidet verschiedene Möglichkeiten der Haftung:
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anatomische Haftung
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Haftreibung
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Druckdifferenz
Anatomische Haftung
Bei der anatomischen Haftung wird die Haftung des Prothesenschaftes am Stumpfende durch eine Verklammerung des Schaftes und/oder Abstützung auf Muskelbäuchen gewährleistet. Beispiele hierfür sind die kondylenumgreifende Bettung bei der Unterschenkelprothetik oder die suprakondyläre Fassung bei der Knieexartikulationsprothese (Abb.1a).
Haftreibung (Abb. 2)
Durch Haftmaterialien des Prothesenschafts und/oder Liners haftet die Prothese auf einer großen Hautoberfläche durch Adhäsionskräfte. Diese Technik hat sich durch die Liner-Technik heute durchgesetzt. Durch aufrollbare „Socken“ aus Silikon, Polyurethan oder ähnlichen Haftmaterialien kommt es zu einer flächigen Haftung auf der Stumpfhaut. Die Weichteile werden durch den zirkulären Druck stabilisiert. Auftretende Zugkräfte auf die Stumpfhaut können durch Material- bzw. Oberflächengestaltungen der Liner kontrolliert werden.
Druckdifferenz
Bei luftdichtem Abschluss des Schaftrandes kommt es zu einem Vakuum zwischen Stumpfoberfläche und Schaftwand. Mittels Unterdruck erzeugender Pumpsysteme oder zusätzlicher über den Schaft und den angrenzenden Hautbereich zu ziehender Abdichtungs-„Sleeves“ wird der Prothesenschaft an der Stumpfoberfläche gehalten. Bei Unterschenkelprothesen ist bei allen Liner-Versorgungen darauf zu achten, dass derartige Versorgungen primär nicht zu früh gemacht werden (>4 Wochen postoperativ), da die Gefahr besteht, dass durch das Auf- und Abrollen des Liners die ans ventrale Periost genähten Gastrocnemiusanteile abreißen und nach dorsal disloziert werden. Eine entsprechend vorsichtige Nutzung des Liners ist dem Patienten durch das Behandlungsteam zu erläutern.
Statischer Aufbau
Auf den Prothesenaufbau sollte besonderes Augenmerk gelegt werden. Idealerweise wird er in der Frontal- und Sagittalebene über ein lasergestütztes Instrument (L.A.S.A.R.-Posture) kontrolliert, womit auch eine Dokumentation des statischen Aufbaus möglich ist (Abb. 3). In der Regel ist dies Aufgabe des Orthopädietechnikers. Der statische Aufbau einer Prothese orientiert sich in erster Linie an der normalen Anatomie. Bei den sog. Majoramputationen (transfemoral, transtibial, Knieexartikulation, Hüftexartikulation) sind allerdings aufgrund der Funktion der Passteile gewisse Abweichungen von dieser Vorgabe erforderlich. Zumeist werden sie durch die Aufbaurichtlinien der Hersteller vorgegeben.
Prothesenpassteile
Die Auswahl der Gelenkkomponenten (Fuß-, Knie-, Hüftgelenk) ist von einer Reihe von Faktoren abhängig. Passteilauswahlkriterien:
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lokale Stumpfsituation
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Länge, Kraft und Beweglichkeit des Stumpfes
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körperliche Leistungsfähigkeit
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prognostisch zu erwartende Mobilität
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direkte Situation im Wohnumfeld und im privaten Bereich des Patienten
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berufliche Situation und Anforderungen
Die Prothesenpassteile werden seitens der Industrie den Mobilitätsgraden zugeordnet und ausgezeichnet. Daher sollte sich die Auswahl der verwendeten Passteile prinzipiell auch an der prognostisch erreichbaren Mobilitätsklasse des Patienten orientieren. Zusätzlich zu berücksichtigende Faktoren sind aber insbesondere Umgebungs- (Kontext) und persönliche Fakto-ren. Als Beispiel für erstere Einflüsse können u.a. die Notwendigkeit des Gehens auf unebenen Böden (Landwirt) oder starke Steigungen in der Umgebung (Auswahl des Prothesenfußes) genannt werden; als Beispiel für persönliche Faktoren eine Stoßempfindlichkeit des Stumpfendes oder hohes Gewicht etc.
Fußpassteile (Abb. 4)
Heute werden meist gelenklose Füße in Carbonfasertechnik verwendet, wobei man je nach Härte der entsprechenden Federkonstruktionen eher dämpfende oder energiespeichernde, gangunterstützende Fußkonstruktionen auswählt. So ist beispielsweise bei einem stark druck- und stoßempfindlichen knöchernen Stumpfende mit verringerter Belastbarkeit eher eine dämpfende Fußkonstruktion, bei Patienten der Mobilitätsklasse ≥II mit gut belastbarem Stumpf eher eine Konstruktion mit elastischen, energiespeichernden Carbonfüßen angezeigt. Zunehmend werden Entwicklungen angeboten, die aktive Fußbewegungen (bspw. Dorsalextension) beinhalten (mikroprozessorgesteuerte Fußsysteme), um dem Patienten ein energieschonenderes und sichereres Gehen zu ermöglichen oder auch das Problem des rückhebelnden Effektes der Carbonfedern bei sehr starken Steigungen zu eliminieren.
Kniegelenke
Die Auswahl der Kniepassteile richtet sich nach den Erfordernissen in der Stand- und Schwungphase. Einerseits soll in der Standphase ein sicheres Stehen möglich sein, andererseits soll in der Schwungphase idealerweise das Kniepassteil ein leichtes Vorbringen von Unterschenkel und Fuß ermöglichen. Vom Prinzip unterscheidet man hierzu verschiedene Gelenktypen:
Monozentrische Gelenke
Monozentrische (einachsige) Kniegelenke führen eine reine Scharnierbewegung des Kniegelenkes durch. Um in der Standphase eine Sicherung zu erreichen, muss beim Auftritt der Stumpf nach hinten gestreckt werden, um über eine Rückverlagerung des Drehpunktes hinter die Belastungslinie Kniesicherheit zu erreichen. Bringt man das Kniegelenk dann nach vorne und überschreitet der Drehpunkt des künstlichen Kniegelenkes die Belastungsachse, so kommt es zur Einbeugung. Um ein plötzliches Stürzen durch „Einbrechen“ beim Auftritt zu vermeiden, werden derartige Gelenke mit belastungsabhängigen Bremsmechanismen versehen, insgesamt ist dennoch bei diesem Kniegelenktypus eine erhöhte Aufmerksamkeit erforderlich.
Polyzentrisches Gelenk
Polyzentrische (mehrachsige) Gelenke führen eine kombinierte Dreh- und Schubbewegung durch. Der Gelenkdrehpunkt verändert dabei seine Lage in Abhängigkeit vom Beugewinkel. Bei Streckung des Knies liegt der Momentandrehpunkt deutlich hinter und oberhalb der Gelenkdrehachse und gibt somit eine erhöhte Sicherheit beim Fersenauftritt. Bei der Beugung wandert der Drehpunkt nach unten vorn, löst die Beugung aus, es kommt zu einer leichten Verkürzung des Prothesenbeins, was für das Durchschwingen ebenfalls günstig ist. In der Schwungphasensteuerung werden hydraulische oder pneumatische Schwungphasensteuerungen verwendet.
Mikroprozessorgesteuerte Knieeinheiten
Mikroprozessorgesteuerte Kniegelenkssysteme regeln die Bewegungsabläufe in der Stand- und Schwungphase mittels multipler Parameter über Sensoren und adaptive Einstellungen der Gelenkhydrauliken oder magnetorheologische Flüssigkeiten. Sie ermöglichen hierdurch eine automatische Reaktion des jeweiligen Kniegelenkssystems auf entsprechende Umweltsituationen, speziell auf Einbeugen. Gebrauchsvorteile für den Prothesenläufer sind dabei:
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Laufen auf Treppen und Schrägen
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alternierendes Treppe-Herablaufen
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Gehen mit unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten
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Nutzen geteilter Aufmerksamkeit (der Betroffene muss sich nicht laufend darauf konzentrieren, die Prothese zu sichern, er kann intuitiver gehen)
Die neueren Entwicklungen dieser mikroprozessorgesteuerten Kniegelenke ermöglichen u.a. beim Auftreten einen nahezu physiologischen Kniebeugewinkel (verbessertes Gangbild, verbesserte Ökonomie) sowie mit gewissen Systemen auch ein alternierendes Treppaufgehen. Mittlerweile sind auch einige Systeme auf dem Markt, die eine Nutzung am oder gar im Wasser ermöglichen. Eine weitere wesentliche positive Neuentwicklung sind mikroprozessorgesteuerte Knieeinheiten für niedrigere Mobilitätsklassen. Dies betrifft das Gros der Amputationspatienten. Sie ermöglichen ein an die Rehabilitationsstadien adaptiertes Vorgehen durch unterschiedliche Einstellvarianten. Sie geben dem Betroffenen mehr Sicherheit als herkömmliche Knieeinheiten, unterstützen das sichere Hinsetzen bzw. Aufstehen und stellen nach unseren Erfahrungen eine deutliche Verbesserung in der Rehabilitation älterer Patienten dar. Wenn erkennbar ist, dass mikroprozessorgesteuerte Einheiten vom Patienten sinnvoll genutzt werden können (Gebrauchsvorteile), ist es aus Sicht des Autors nicht einzusehen, warum sie nicht auch primär in der Rehabilitation eingesetzt werden können. Da dies in Deutschland ein erkennbares Diskussionsthema war, hat sich als sinnvolle Lösung eine sogenannte Erprobungs- oder Leihverordnung etabliert. Der Betroffene muss dann nach Ablauf der Leihfrist nachweisen, dass er die Gebrauchsvorteile nutzen kann. Der Arzt kontrolliert dies. Das Vorgehen hat sich außerordentlich bewährt und garantiert die Bewältigung des Spagats zwischen Anspruch und Ökonomie.
Hüftgelenkssysteme
Patienten nach Hüftexartikulation oder Hemipelvektomien müssen drei Gelenke steuern und koordinieren (Abb. 5), was ausgesprochen schwierig ist. Das Prothesenhüftgelenk soll dabei sicheres Stehen ermöglichen, aber auch das Auslösen der Beugung im Kniegelenk ermüdungsarm und ohne allzu hohe Bewegung aus Becken und Wirbelsäule heraus ermöglichen. Meist werden monozentrische Gelenke mit Streckanschlag eingesetzt, zunehmend Gelenke, die neben der reinen Scharnierbewegung des Hüftgelenkes auch eine physiologische Außenrotationsbewegung im Hüftgelenk ermöglichen. Durchgesetzt hat sich inzwischen die Versorgung mit mikroprozessorgesteuerten Knieeinheiten.
Abb. 5: Prothese für hohe Hemipelvektomie mit Beckenkorb und Ersatz von drei Körpergelenken, Interimsversion
Amputationshöhen
Unterschenkelprothesen (transtibiale Prothesen)
Gerade bei der transtibialen Amputation sind die vorher gemachten Ausführungen zu den Grundsätzen der Prothesenversorgung unbedingt zu berücksichtigen. In aller Regel werden Unterschenkelprothesen mit einer kniegelenksübergreifenden Fassung hergestellt. Unterschenkelprothesen mit Oberhülse sollten heute weitestgehend obsolet sein, da sie zu einer Atrophie der Oberschenkelmuskulatur und zu erheblichen Stauungsproblemen mit sekundären Stumpfmazerationen führen. Oberschenkelhülsen können ggf. als aufsteckbare Oberhülsen beispielsweise bei starken beruflichen Belastungen, etwa im Bereich Bau, Gartenbau etc., und bei sehr kurzen Stümpfen noch Verwendung finden.
Versorgungen werden heute entweder als Unterschenkelprothese mit Silikonhaftschaft, mit Gel-Liner oder mit Weichwandschaft und suprakondylärer Fassung gefertigt. Bei posttraumatischen Amputationen sind heute in der Regel Silikonhaftschaft- oder Gel-Liner-Versorgungen „state of the art“, nur in seltenen Ausnahmefällen wird der Weichwandschaft mit suprakondylärer Fassung genutzt, der allerdings bei geriatrischen Patienten durchaus noch eine größere Bedeutung hat. Alle Prothesen reichen über das Kniegelenk und fixieren den Stumpf durch den Außenschaft mit einer flexiblen suprakondylären Fassung. Dies wird durch die flexiblen oberen Schaftrandwände ermöglicht, welche die Kondylen umgreifen.
Unterschenkelprothese mit Silikonhaftschaft
Die Versorgung erfolgt hier über einen über das Stumpfende oder auf das Stumpfende aufgerollten Rollsocken. Dieser ist zur Verminderung der Zugerscheinungen in der Schwungphase mit in unterschiedlichen Ausführungen erhältlichen Gewebeauflagen (Armierungen) versehen. Silikon-Liner gibt es in unterschiedlichen Varianten und Dicken. Die Fixierung erfolgt über eine hohe Haftreibung über das gesamte Stumpfende. Die Verbindung zum Prothesenschaft erfolgt über verschiedene Kopplungssysteme:
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zusätzlicher Knie-Sleeve
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Unterdrucksysteme
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Ventil-Dichtlippen-Systeme
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Pin-Clutch-Lock-Befestigung
Die Auswahl der Liner (Silikon-Liner, Gel-Liner) richtet sich nach der Stumpfsituation, vor allem der knöchernen. In aller Regel sind Silikon-Liner sinnvoll und aufgrund der guten Materialeigenschaften von Silikon auch bei Narbenkeloiden, Meshgraft-gedeckten Stellen etc. die beste Lösungsmöglichkeit. Gel-Liner werden in aller Regel bei starken knöchernen Promi-nenzen und „knochigen“ Stümpfen verwendet, um deren polsternde, Prominenzen-umfließende Eigenschaft zu nutzen.
Knieexartikulationsprothesen (transkondyläre Prothesen)
Durch die großen Vorteile der Knieexartikulation (volle Endbelastbarkeit des knöchernen Stumpfendes, langer Hebelarm, anatomisch nahezu komplett erhaltene Lage und Insertion der wesentlichen Oberschenkelmuskulatur) entfällt die Notwendigkeit des Abstützens des proximalen Schaftendes am Becken. Dies ermöglicht den Verzicht auf die Tuberabstützung; das Sitzen und auch die Hygiene werden erleichtert. Zu achten ist allerdings besonders darauf, dass der Schaftboden den knöchernen Konturen folgt, d.h. auch die interkondyläre Notch mitberücksichtigt, um Druckzonen über den lateralen Kondylen zu vermeiden. Proximal suprakondylär sind eine Hinterschneidung und Verklammerung bei dieser Prothesenform unumgänglich. Die Nachteile der Knieexartikulation durch die Verlängerung des Oberschenkelhebels und die relative Verkürzung des Unterschenkelhebels sind bei modernen Gelenken gut kompensiert und dürfen kein Grund für eine transfemorale Amputation unter Verlust der schlagenden Vorteile der Knieexartikulation sein!
Oberschenkelprothesen (transfemorale Prothesen)
Bei der transfemoralen Prothese sind im Schaft drei wesentliche Bereiche zu unterscheiden:
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Stumpfendbereich
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Steuerungsbereich
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Schafteingangsbereich
Stumpfendbereich
Im Stumpfendbereich muss eine gute Einbettung des knöchernen Stumpfendes unter Nutzung der Weichteilpolsterung bei Vollkontaktschaft ohne proximale Hinterschneidungen erreicht werden.
Steuerungsbereich
In der Frontalebene steht das Femur in natürlicher physiologischer Adduktionsstellung. Hierdurch werden die Beckenmuskulatur, vor allem die wichtigen Glutäen, vorgespannt, ein sicheres Gangbild wird unterstützt und ein Hinken vermieden. Dementsprechend muss auch der Amputationsstumpf in physiologischer Adduktionsstellung im Schaft eingebettet werden. Dies ist des Weiteren erforderlich, um ein zunehmendes Abduzieren des knöchernen Stumpfendes zu verhindern, das oft dazu führt, dass es zu schmerzhaften Kontakten des knöchernen Stumpfendes an der lateralen Schaftwand der Prothese kommt.
Schafteingangsbereich
In der Schafteingangsebene werden heute folgende moderne Standardversionen der Schaftformen genutzt:
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Sitzbein-umgreifender Schaft
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Ramus-umgreifender Schaft
Teilweise versucht man, Druckprobleme von Seiten des Schaftes durch den Einbau von weicheren Schaftwandanteilen (meist Silikon) zu vermeiden und damit den Tragekomfort zu erhöhen. Für junge, aktive Amputierte mit sehr stark ausgeprägter Ischiocruralmuskulatur und kräftigen Sehnen am Tuber wurden Schaftformen entwickelt, welche die dorsale Schafteingangsebene u-förmig ausschneiden, den Sehnenspiegel und die Muskulatur dadurch nicht komprimieren und insbesondere auch beim Sitzen Vorteile im Hinblick auf erhöhten Komfort bieten (M.A.S-Schäfte, Abb. 6). Sitzbein-/Ramus-umgreifende Versorgungen gelingen bei Männern leichter als bei Frauen, bei denen der Sitzbeinwinkel (Beckenöffnungswinkel) weiter/größer ist und bei denen auch die Weichteilsituation problematischer ist.
Literatur:
• Bieringer S et al.: Exoskelettale Prothesen der unteren Extremitäten. Orthopädie und Unfallchirurgie 2007; 2: 2: 353-76 • Greitemann B et al.: Amputation und Prothesenversorgung, 4. Auflage, Thieme, Stuttgart 2016 • Greitemann B et al.: Rehabilitation Amputierter. Gentner, Stuttgart 2002
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