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«Niemals den Finger in die Wunde legen»

Mit über 1500 Teilnehmenden konnte der Jahreskongress der Swiss Orthopaedics im Juni einen neuen Besucherrekord verzeichnen. Ein Highlight war die MEM-Lecture, obwohl Prof. McNally nur virtuell anwesend sein konnte. Das Hauptthema «Trauma versus degenerativ» warf versicherungsmedizinische Fragen auf.

Als Sprecher für die traditionelle MEM-Lecture war Prof. Dr. med. Martin McNally aus Oxford geladen. Er konnte leider nicht anreisen, aber sendete ein Video mit seinem Vortrag über die Behandlung von septischen Knochenproblemen. Er erläuterte die Vorgehensweise an der «Bone Infection Unit» im Nuffield Orthopaedic Centre in Oxford und gab praktische Tipps, wie z.B. zur «No Touch»-Technik bei der Probengewinnung: «Für jede Probe neue Instrumente verwenden und niemals den Finger in die Wunde legen, denn OP-Handschuhe sind oft kontaminiert und daher eine Infektionsquelle», betonte er.

15–32% aller infizierten Frakturen sind in der Bakterienkultur negativ, wie McNally sagte. Hier kann die quantitative Histologie helfen: Eine Studie aus Basel hat gezeigt, dass eine Zellzahl von mehr als 5 Neutrophilen/Gesichtsfeld im histologischen Schnitt zu 100% spezifisch für eine Infektion bei nichtheilenden Brüchen ist, während das Fehlen von Neutrophilen zu 98% auf eine aseptische Nonunion hinweist.1 In einer neueren Studie aus Oxford, die McNally präsentierte, wurde zudem festgestellt, dass man bei frakturassoziierten Infektionen die Sensitivität für die Identifikation von Mikroorganismen deutlich steigern kann, wenn man mehr als die empfohlenen 2, nämlich bis zu 5 Gewebeproben entnimmt und analysiert.2

Unfallversicherung versus Krankenversicherung

In den Sessions zum Hauptthema 1 («Orthopädie – quo vadis?») wurden Fragen zur Weiterentwicklung des Faches diskutiert, z.B.: Wie kann man den Flow ausgebildeter Ärzte in Richtung Privatwirtschaft aufhalten und warum hat die Attraktivität von leitenden Stellen abgenommen?

Im zweiten Hauptthema («Trauma versus degenerativ») wurden in mehreren Sessions Läsionen verschiedener Gelenke aus medizinischer Sicht betrachtet. In der Praxis ist die Frage vor allem versicherungsmedizinisch relevant. Denn sind die Beschwerden des Patienten Folge eines Unfalls, zahlt die Unfallversicherung – sind sie degenerativ bedingt, zahlt die Krankenkasse. Die Entscheidung ist nicht immer einfach, etwa wenn bei einem Unfall eine Struktur verletzt wird, die durch Degeneration vorgeschädigt war. Das Thema sorgt immer wieder für Debatten zwischen behandelnden Ärzten und Versicherungsmedizinern. «In Wahrheit ist es oft ein Zusammenspiel von Degeneration und Trauma, das zur Verletzung führt», sagte Prof. Dr. med. Andreas Müller, Universitätsspital Basel. Bei älteren Menschen reiche z.B. ein halb so starkes Trauma (900 Newton vs. 1800 Newton bei Jüngeren), um eine Rotatorenmanschettenruptur herbeizuführen. Müller sieht Bedarf an genauer Dokumentation: Möglichst früh nach dem Trauma sollten für die Unfallversicherung der Unfallhergang, die Beschwerden und die detaillierten Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung festgehalten werden.

In der anschliessenden Diskussion mit dem Publikum kam man zu dem Schluss, dass das Problem auf medizinischer Ebene schwer lösbar sei. Wünschenswert wäre eine Veränderung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, wie z.B. in den Niederlanden, wo die Unterscheidung zwischen Unfall und Krankheit für die Versicherungsleistung keine Rolle spielt.



Seneszenz in Sehnen

Wenn Zellen aufhören, sich zu teilen (Seneszenz), beeinträchtigt das nicht nur die Regeneration von verletztem Gewebe – Seneszenz spielt auch eine Rolle bei vielen entzündlichen Erkrankungen, wie Studien der letzten Jahre gezeigt haben. Ein Team aus Basel hat nun die zelluläre Seneszenz in Sehnen von Patienten mit Tendinopathien der Schulter untersucht.Dazu wurden proximale Bizepssehnen von Patienten mit verschiedenen Schulterpathologien und von gesunden Kontrollpersonen (Kadavern) entnommen. In den Biopsien wurden Degenerations-, Seneszenz- und Apoptosemarker untersucht. Die Ergebnisse: Die Expression der Seneszenzmarker p16, p19 und Ezh2 war bei chronischen Schultertendinopathien signifikant erhöht und korrelierte mit dem Grad der Degeneration. Sie korrelierte jedoch nicht mit dem Alter der Patienten. In Sehnen, die mit AG490 oder einem Ezh2-Inhibitor behandelt worden waren, zeigte sich ein positiver senolytischer Effekt. Die Hemmung der Seneszenz könnte eventuell ein neuer Therapieansatz zur Verbesserung der Regeneration bei Tendinopathien sein, meinen die Autoren.

Diese Arbeit wurde beim Jahreskongress 2022 der Swiss Orthopaedics von der Jury als bestes Paper im Bereich Grundlagenforschung prämiert.

Quelle: Bühler D et al.: Increase of cellular senescence in chronic human shoulder tendinopathies and its attenuation by Enhancer of Zeste 2 inhibition. Swiss Orthopaedics 82. Jahrestagung 2022; FM040


82. Jahreskongress Swiss Orthopaedics, 22.–24. Juni 2022, Basel

1 Morgenstern M et al.: Bone Joint J 2018; 100-b(7): 966-72 2 Dudareva M et al.: J Bone Joint Surg Am 2021; 103(11): 977-83

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