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Multimodale orthopädische Schmerztherapie: erste prospektive Daten

<p class="article-intro">Im Rahmen eines Projektes wurden die Auswirkungen eines interdisziplinären „Functional restoration“-Behandlungsprogramms bei chronischem Rückenschmerz untersucht. Wir konnten in einer ersten prospektiven Auswertung eine signifikante Verbesserung definierter Kennzahlen in Bezug auf Lebensqualität und funktionelle Beeinträchtigungen bei chronischen Schmerzpatienten nachweisen. Trotz dieser positiven Ergebnisse gibt es in Österreich nur wenige Zentren, in denen derartige Programme in die klinische Versorgung integriert werden können.</p> <hr /> <p class="article-content"><h2>Ausgangslage</h2> <p>Kreuzschmerzen, die nicht rechtzeitig erkannt, nicht diagnostisch aufgearbeitet und nicht leitliniengerecht therapiert werden, haben f&uuml;r Betroffene und h&auml;ufig auch f&uuml;r ihre Angeh&ouml;rigen weitreichende Folgen hinsichtlich Arbeitsf&auml;higkeit, Gesundheit und Lebensqualit&auml;t. Der Versorgungsbedarf f&uuml;r orthop&auml;dische Schmerzpatienten wird aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme verschiedener Erkrankungen noch weiter steigen. In vielen Studien wurde bereits deutlich gezeigt, dass bei Patienten, deren Beschwerden mittel- und hochgradig chronifiziert sind, nur multidisziplin&auml;re diagnostische und therapeutische Behandlungskonzepte zielf&uuml;hrend sind. Monomodale medizinische oder monomodale psychologische Programme hingegen sind v&ouml;llig ineffektiv. Multimodale Programme sind jedoch sehr kosten- und zeitaufwendig, ben&ouml;tigen spezielle strukturelle Voraussetzungen und bed&uuml;rfen enormer qualifizierter personeller Aufwendungen.<br /> Ebenso sollten Patienten mit prolongiertem Kreuzschmerz einer multimodalen Diagnostik zugef&uuml;hrt werden. Derzeit gehen Studien davon aus, dass eine hohe Zahl an chirurgischen Eingriffen an der Wirbels&auml;ule mit relativer Operationsindikation nicht notwendig w&auml;re. Ein wesentlicher Grund daf&uuml;r, dass sie trotzdem durchgef&uuml;hrt werden, ist in erster Linie, dass konservative multimodale Therapiekonzepte als Behandlungsalternative zu einer chirurgischen Intervention in der derzeitigen Struktur in &Ouml;sterreich aufgrund der geringen Zahl an konservativen orthop&auml;dischen Einrichtungen nur sehr schwer m&ouml;glich sind.<br /> Das orthop&auml;dische Krankenhaus Theresienhof, Frohnleiten, hat im Rahmen eines Projektes ein multimodales Therapiekonzept entwickelt, welches in Zusammenarbeit mit der Univ.-Klinik f&uuml;r Orthop&auml;die und orthop&auml;dische Chirurgie Graz und einer interdisziplin&auml;ren Wirbels&auml;ulenkonferenz zus&auml;tzlich multizentrisch ausgerichtet ist.<br /> Oberste Zielsetzung ist es, Patienten mit chronischen Schmerzen &uuml;ber eine individuelle, vielschichtige und zielgerichtete Diagnostik einem definierten und standardisierten konservativen orthop&auml;dischen Therapieregime zuzuf&uuml;hren, um letztendlich auch die operative Trefferquote bei Patienten mit relativer OP-Indikation zu erh&ouml;hen.</p> <h2>Patienten und Methoden</h2> <p>Im Jahr 2015 wurden 167 selektierte Patienten im mittleren und hohen Chronifizierungsstadium (Stadium 2 und 3 nach Gerbershagen) in ein 3- bis 4-w&ouml;chiges station&auml;res multimodales Therapieprogramm im Klinikum Theresienhof station&auml;r aufgenommen und einer erweiterten orthop&auml;dischen Untersuchung mit speziellem schmerzmedizinischen Assessment unterzogen. Die Ergebnisse der medizinischen Untersuchung wurden in einem interdisziplin&auml;ren therapeutischen Team besprochen und eine individuelle konservative Behandlungsstrategie wurde festgelegt. Das Spektrum wurde bei bestehender Indikation durch eine interventionelle Diagnostik und/oder Therapie erweitert, in einem 3- bis 4-w&ouml;chigen station&auml;ren Setting wurden etwa 30 bis 40 Therapiestunden in einem multimodalen Behandlungskonzept absolviert (Abb. 1).<br /> Zu Behandlungsbeginn erfolgte die Differenzierung der Patienten nach dem Chronifizierungsgrad mittels &bdquo;Mainz Pain Staging System&ldquo; (MPSS), besser bekannt als &bdquo;Mainzer Schmerzfragebogen&ldquo; oder auch &bdquo;Stadieneinteilung des Schmerzes nach Gerbershagen&ldquo;. Das MPSS ist ein valides und reliables Messinstrument, das zur Qualit&auml;tssicherung in der Schmerztherapie eingesetzt wird und die Effektivit&auml;t von Therapieverfahren beurteilen kann. Das Hauptaugenmerk wurde in unserer Studie auf Patienten im Chronifizierungsstadium 2 (mittlerer Chronifizierungsgrad) und 3 (hoher Chronifizierungsgrad) gelegt, da gerade f&uuml;r diese Gruppe gro&szlig; angelegte multimodale Behandlungskonzepte indiziert sind.<br /> Das aktuelle subjektive Schmerzempfinden wurde bei der Aufnahme und der Entlassung obligat mittels der visuellen Analogskala (VAS) von 0 bis 10 ermittelt.<br /> Der EQ-5D-Score ist ein weitverbreitetes Instrument der pr&auml;ferenzbasierten Lebensqualit&auml;tsmessung. Diese erfolgte wie jene des Schmerzempfindens bei Aufnahme und Entlassung. Hierbei wurde die gesundheitsbezogene Lebensqualit&auml;t durch die Dimensionen Beweglichkeit/Mobilit&auml;t, F&uuml;r-sich-selbst-Sorgen, allgemeine T&auml;tigkeiten (z.B. Arbeit, Hausarbeit, Familien- und Freizeitaktivit&auml;ten), Schmerzen/k&ouml;rperliche Beschwerden und Angst/Niedergeschlagenheit abgefragt. Beim EQ-VAS sch&auml;tzten die Patienten ihren momentanen Gesundheitszustand auf einer visuellen Analogskala zwischen 0 und 100.<br /> Mit dem &bdquo;Roland-Morris Low Back Pain and Disability Questionnaire&ldquo; (RMDQ) l&auml;sst sich gut abbilden, wie Patienten die Beeintr&auml;chtigung durch ihre R&uuml;ckenschmerzen erleben.<br /> Ebenso wurde die subjektive Erreichung des Therapiezieles bzw. des Therapieerfolges bei der Entlassung abgefragt. Die Beurteilung erfolgte einerseits durch den betreuenden Arzt im Sinne einer Fremdbewertung und andererseits durch den Patienten selbst im Sinne einer Eigenbewertung.<br /> Neben dem Gesamtkollektiv, dem MPSS-2- und -3-Kollektiv wurde auch das Kollektiv der altersgem&auml;&szlig; arbeitsf&auml;higen Patienten (Alter &lt;65 Jahre) ausgewertet und analysiert.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite59.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Ergebnisse</h2> <p>Es wurden insgesamt 167 Patienten mit Schmerzen ausgehend von der Wirbels&auml;ule und einem Chronifizierungsgrad 2 und 3 nach Gerbershagen einer multimodalen orthop&auml;dischen Schmerztherapie im Klinikum Theresienhof unterzogen. 40 % der Patienten befanden sich im Chronifizierungsstadium 2, 60 % im Chronifizierungsstadium 3. Mit ann&auml;hernd 70 % stellte das Patientenkollektiv im arbeitsf&auml;higen Alter (zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr) den h&ouml;chsten Anteil der Schmerzpatienten. Davon konnten 37,7 % dem Stadium 2 nach Gerbershagen zugerechnet werden, 62,3 % befanden sich in Stadium 3. 65 % des Kollektivs waren M&auml;nner, 35 % Frauen.<br /> Die Patienten im Chronifizierungsstadium 2 zeigten signifikante Verbesserungen des Roland-Morris-Scores um 12,5 % , die Schmerzen wurden nach der Therapie nur mehr als geringe Behinderung empfunden. Die Verbesserungen der Patienten im Chronifizierungsstadium 3 waren mit 4,1 % ebenso signifikant, jedoch stellte der Kreuzschmerz nach wie vor eine gro&szlig;e Behinderung dar (Abb. 2). &Auml;hnlich verhalten sich die Werte auch in Bezug auf das arbeitsf&auml;hige Kollektiv (Working-Age-Kollektiv; WA 2 und 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite60_1.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>Die Auswertung des Lebensqualit&auml;tsscores EQ-5D sowie der EQ-5D-VAS erbrachte eine signifikante Verbesserung im Patientenkollektiv Gerbershagen 2 (20 % ), das Kollektiv der Gerbershagen-3-Gruppe zeigte jedoch einen nur unwesentlichen Anstieg der Lebensqualit&auml;tsscores (5 % ).<br /> Die Abfrage der subjektiven Erreichung des Therapiezieles im Sinne einer Eigenbewertung erbrachte eine signifikante Zufriedenheit im Gerbershagen-2-Kollektiv mit 98,5 % , in der Gerbershagen-3-Gruppe erreichten zumindest 73 % das Therapieziel (Abb. 3). Dieselbe Fragestellung nun aus Sicht des Arztes im Sinne einer Fremdbewertung lieferte ann&auml;hernd idente Werte.<br /> Interessant ist auch die Auswertung der Eigenbewertung in Bezug auf die Erreichung des Therapieziels im Working-Age-Kollektiv: Die MPSS-2-Gruppe wies mit 95,3 % eine signifikant hohe Erfolgsrate auf; 4,7 % waren teilweise zufrieden, kein Patient war unzufrieden. Hingegen waren es in der MPSS-3-Gruppe nur mehr 67,6 % , die in Bezug auf das Erreichen des Therapieziels zufrieden waren, 24 % teilweise zufrieden und 8,4 % nicht zufrieden. Die Daten der Fremdbewertung zeigten keinen relevanten Unterschied.<br /> Die Schmerzabfrage mittels VAS bez&uuml;glich des Schmerzes am Aufnahme- und am Entlassungstag brachte eine signifikante Reduktion von 40 % im Working-Age-Kollektiv 2; in der Working-Age-Gruppe 3 kam es immerhin zu einer Reduktion von 20 % . Auff&auml;llig ist, dass s&auml;mtliche Gruppierungen zu Beginn der Therapie die VAS im Median auf 6 einstuften &ndash; m&ouml;glicherweise ein Hinweis darauf, dass die VAS als Messinstrument f&uuml;r beide Patientenkollektive zu hinterfragen ist.<br /> Interessant und ganz wesentlich ist auch das Ergebnis der statistischen Analyse (Wilcoxon-Test, Chiquadrat): Es konnte kein Zusammenhang zwischen dem Patientenalter und dem Stadium der Chronifizierung gefunden werden und es gibt in unserem Kollektiv auch keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich des Therapieerfolges in Bezug auf das Patientenalter.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite60_2.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Schlussfolgerung</h2> <p>Die Auswertung zeigt &ndash; wenig &uuml;berraschend &ndash; klar, dass eine positive Beeinflussung der unterschiedlichen Scorings bzw. Schmerzparameter bei dem Patientenkollektiv im hohen Chronifizierungsstadium wesentlich geringer ausf&auml;llt. Man kann also davon ausgehen, dass mit zunehmender Chronifizierung die Wahrscheinlichkeit, dass eine Therapie erfolgreich ist, immer geringer wird. Auch nehmen die schmerzbedingten k&ouml;rperlichen Einschr&auml;nkungen mit dem Fortschreiten des Chronifizierungsprozesses deutlich zu. Unsere Daten weisen somit auch darauf hin, dass eine fr&uuml;hzeitig eingeleitete multimodale Schmerztherapie letztendlich zu einer h&ouml;heren Patientenzufriedenheit f&uuml;hrt.<br /> Wie sich chronische Kreuzschmerzen auswirken, wird wesentlich vom Grad der schmerzbedingten Beeintr&auml;chtigung bestimmt sowie von der Bewertung der Symptomatik durch den Patienten und seine Umgebung. Vor allem in den Scorings, die in erster Linie Einschr&auml;nkungen von k&ouml;rperlichen Aktivit&auml;ten abfragen, zeigen Patienten mit starker Chronifizierung nur geringe Verbesserungen. Obwohl ein Hauptaugenmerk der multimodalen Schmerztherapie auf einer Aktivierung im Sinne eines &bdquo;Functional restoration&ldquo;-Therapieprogramms liegt, verst&auml;rken offenbar Schmerzvermeidungsstrategien, psychische Belastungen und Reaktionen der Umgebung die Beeintr&auml;chtigung von Schmerzpatienten derart, dass unser Programm im Kollektiv der MPSS-3-Patienten nur geringe Verbesserungen bringt. Im Wissen, dass eine evidenzbasierte multimodale Schmerztherapie ein Minimum von 100 Therapiestunden bedingt, konnten die Patienten aus versicherungstechnischen Gr&uuml;nden in einem vorgegebenen Zeitraum von 21 bzw. 28 Tagen insgesamt nur etwa 30&ndash;40 Therapiestunden absolvieren. Wir planen daher bereits, die Zeit aktivierender Therapien f&uuml;r Patienten im h&ouml;heren Chronifizierungsstadium zu erweitern bzw. spezialisierte ambulante Sekund&auml;r- und Terti&auml;rpr&auml;ventionsprogramme zu etablieren.<br /> Die ersten prospektiven Daten sind vielversprechend und zeigen ein signifikantes Ansprechen des multimodalen orthop&auml;dischen Schmerztherapiekonzepts. In aktuellen Studien mit &auml;hnlichem Setting wurden 6 und 12 Monate nach der Behandlung stabile bzw. verbesserte Werte gemessen. Ein Vorteil des Konzepts liegt in der gro&szlig;teils bereits bestehenden Struktur der orthop&auml;dischen Rehabilitation und der dazu notwendigen Kassenfinanzierung. Weiterf&uuml;hrende Auswertungen sollen Erkenntnisse zu Langzeitergebnissen bzw. zur Treffsicherheit in Bezug auf OP-Indikationen liefern. Absolut notwendige und erg&auml;nzende Erweiterungen hinsichtlich nachhaltigkeitsf&ouml;rdernder Ma&szlig;nahmen im Sinne einer Terti&auml;rpr&auml;vention sind ebenso in Ausarbeitung.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
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