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Multimodale orthopädische Schmerztherapie: erste prospektive Daten
Jatros
Autor:
OA Mag. Dr. Gregor Kienbacher, MSc
Klinikum Theresienhof – Krankenhaus für Orthopädie und orthopädische Rehabilitation, Frohnleiten<br> E-Mail: kienbacher@theresienhof.at
30
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15.09.2016
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<p class="article-intro">Im Rahmen eines Projektes wurden die Auswirkungen eines interdisziplinären „Functional restoration“-Behandlungsprogramms bei chronischem Rückenschmerz untersucht. Wir konnten in einer ersten prospektiven Auswertung eine signifikante Verbesserung definierter Kennzahlen in Bezug auf Lebensqualität und funktionelle Beeinträchtigungen bei chronischen Schmerzpatienten nachweisen. Trotz dieser positiven Ergebnisse gibt es in Österreich nur wenige Zentren, in denen derartige Programme in die klinische Versorgung integriert werden können.</p>
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<p class="article-content"><h2>Ausgangslage</h2> <p>Kreuzschmerzen, die nicht rechtzeitig erkannt, nicht diagnostisch aufgearbeitet und nicht leitliniengerecht therapiert werden, haben für Betroffene und häufig auch für ihre Angehörigen weitreichende Folgen hinsichtlich Arbeitsfähigkeit, Gesundheit und Lebensqualität. Der Versorgungsbedarf für orthopädische Schmerzpatienten wird aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme verschiedener Erkrankungen noch weiter steigen. In vielen Studien wurde bereits deutlich gezeigt, dass bei Patienten, deren Beschwerden mittel- und hochgradig chronifiziert sind, nur multidisziplinäre diagnostische und therapeutische Behandlungskonzepte zielführend sind. Monomodale medizinische oder monomodale psychologische Programme hingegen sind völlig ineffektiv. Multimodale Programme sind jedoch sehr kosten- und zeitaufwendig, benötigen spezielle strukturelle Voraussetzungen und bedürfen enormer qualifizierter personeller Aufwendungen.<br /> Ebenso sollten Patienten mit prolongiertem Kreuzschmerz einer multimodalen Diagnostik zugeführt werden. Derzeit gehen Studien davon aus, dass eine hohe Zahl an chirurgischen Eingriffen an der Wirbelsäule mit relativer Operationsindikation nicht notwendig wäre. Ein wesentlicher Grund dafür, dass sie trotzdem durchgeführt werden, ist in erster Linie, dass konservative multimodale Therapiekonzepte als Behandlungsalternative zu einer chirurgischen Intervention in der derzeitigen Struktur in Österreich aufgrund der geringen Zahl an konservativen orthopädischen Einrichtungen nur sehr schwer möglich sind.<br /> Das orthopädische Krankenhaus Theresienhof, Frohnleiten, hat im Rahmen eines Projektes ein multimodales Therapiekonzept entwickelt, welches in Zusammenarbeit mit der Univ.-Klinik für Orthopädie und orthopädische Chirurgie Graz und einer interdisziplinären Wirbelsäulenkonferenz zusätzlich multizentrisch ausgerichtet ist.<br /> Oberste Zielsetzung ist es, Patienten mit chronischen Schmerzen über eine individuelle, vielschichtige und zielgerichtete Diagnostik einem definierten und standardisierten konservativen orthopädischen Therapieregime zuzuführen, um letztendlich auch die operative Trefferquote bei Patienten mit relativer OP-Indikation zu erhöhen.</p> <h2>Patienten und Methoden</h2> <p>Im Jahr 2015 wurden 167 selektierte Patienten im mittleren und hohen Chronifizierungsstadium (Stadium 2 und 3 nach Gerbershagen) in ein 3- bis 4-wöchiges stationäres multimodales Therapieprogramm im Klinikum Theresienhof stationär aufgenommen und einer erweiterten orthopädischen Untersuchung mit speziellem schmerzmedizinischen Assessment unterzogen. Die Ergebnisse der medizinischen Untersuchung wurden in einem interdisziplinären therapeutischen Team besprochen und eine individuelle konservative Behandlungsstrategie wurde festgelegt. Das Spektrum wurde bei bestehender Indikation durch eine interventionelle Diagnostik und/oder Therapie erweitert, in einem 3- bis 4-wöchigen stationären Setting wurden etwa 30 bis 40 Therapiestunden in einem multimodalen Behandlungskonzept absolviert (Abb. 1).<br /> Zu Behandlungsbeginn erfolgte die Differenzierung der Patienten nach dem Chronifizierungsgrad mittels „Mainz Pain Staging System“ (MPSS), besser bekannt als „Mainzer Schmerzfragebogen“ oder auch „Stadieneinteilung des Schmerzes nach Gerbershagen“. Das MPSS ist ein valides und reliables Messinstrument, das zur Qualitätssicherung in der Schmerztherapie eingesetzt wird und die Effektivität von Therapieverfahren beurteilen kann. Das Hauptaugenmerk wurde in unserer Studie auf Patienten im Chronifizierungsstadium 2 (mittlerer Chronifizierungsgrad) und 3 (hoher Chronifizierungsgrad) gelegt, da gerade für diese Gruppe groß angelegte multimodale Behandlungskonzepte indiziert sind.<br /> Das aktuelle subjektive Schmerzempfinden wurde bei der Aufnahme und der Entlassung obligat mittels der visuellen Analogskala (VAS) von 0 bis 10 ermittelt.<br /> Der EQ-5D-Score ist ein weitverbreitetes Instrument der präferenzbasierten Lebensqualitätsmessung. Diese erfolgte wie jene des Schmerzempfindens bei Aufnahme und Entlassung. Hierbei wurde die gesundheitsbezogene Lebensqualität durch die Dimensionen Beweglichkeit/Mobilität, Für-sich-selbst-Sorgen, allgemeine Tätigkeiten (z.B. Arbeit, Hausarbeit, Familien- und Freizeitaktivitäten), Schmerzen/körperliche Beschwerden und Angst/Niedergeschlagenheit abgefragt. Beim EQ-VAS schätzten die Patienten ihren momentanen Gesundheitszustand auf einer visuellen Analogskala zwischen 0 und 100.<br /> Mit dem „Roland-Morris Low Back Pain and Disability Questionnaire“ (RMDQ) lässt sich gut abbilden, wie Patienten die Beeinträchtigung durch ihre Rückenschmerzen erleben.<br /> Ebenso wurde die subjektive Erreichung des Therapiezieles bzw. des Therapieerfolges bei der Entlassung abgefragt. Die Beurteilung erfolgte einerseits durch den betreuenden Arzt im Sinne einer Fremdbewertung und andererseits durch den Patienten selbst im Sinne einer Eigenbewertung.<br /> Neben dem Gesamtkollektiv, dem MPSS-2- und -3-Kollektiv wurde auch das Kollektiv der altersgemäß arbeitsfähigen Patienten (Alter <65 Jahre) ausgewertet und analysiert.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite59.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Ergebnisse</h2> <p>Es wurden insgesamt 167 Patienten mit Schmerzen ausgehend von der Wirbelsäule und einem Chronifizierungsgrad 2 und 3 nach Gerbershagen einer multimodalen orthopädischen Schmerztherapie im Klinikum Theresienhof unterzogen. 40 % der Patienten befanden sich im Chronifizierungsstadium 2, 60 % im Chronifizierungsstadium 3. Mit annähernd 70 % stellte das Patientenkollektiv im arbeitsfähigen Alter (zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr) den höchsten Anteil der Schmerzpatienten. Davon konnten 37,7 % dem Stadium 2 nach Gerbershagen zugerechnet werden, 62,3 % befanden sich in Stadium 3. 65 % des Kollektivs waren Männer, 35 % Frauen.<br /> Die Patienten im Chronifizierungsstadium 2 zeigten signifikante Verbesserungen des Roland-Morris-Scores um 12,5 % , die Schmerzen wurden nach der Therapie nur mehr als geringe Behinderung empfunden. Die Verbesserungen der Patienten im Chronifizierungsstadium 3 waren mit 4,1 % ebenso signifikant, jedoch stellte der Kreuzschmerz nach wie vor eine große Behinderung dar (Abb. 2). Ähnlich verhalten sich die Werte auch in Bezug auf das arbeitsfähige Kollektiv (Working-Age-Kollektiv; WA 2 und 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite60_1.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>Die Auswertung des Lebensqualitätsscores EQ-5D sowie der EQ-5D-VAS erbrachte eine signifikante Verbesserung im Patientenkollektiv Gerbershagen 2 (20 % ), das Kollektiv der Gerbershagen-3-Gruppe zeigte jedoch einen nur unwesentlichen Anstieg der Lebensqualitätsscores (5 % ).<br /> Die Abfrage der subjektiven Erreichung des Therapiezieles im Sinne einer Eigenbewertung erbrachte eine signifikante Zufriedenheit im Gerbershagen-2-Kollektiv mit 98,5 % , in der Gerbershagen-3-Gruppe erreichten zumindest 73 % das Therapieziel (Abb. 3). Dieselbe Fragestellung nun aus Sicht des Arztes im Sinne einer Fremdbewertung lieferte annähernd idente Werte.<br /> Interessant ist auch die Auswertung der Eigenbewertung in Bezug auf die Erreichung des Therapieziels im Working-Age-Kollektiv: Die MPSS-2-Gruppe wies mit 95,3 % eine signifikant hohe Erfolgsrate auf; 4,7 % waren teilweise zufrieden, kein Patient war unzufrieden. Hingegen waren es in der MPSS-3-Gruppe nur mehr 67,6 % , die in Bezug auf das Erreichen des Therapieziels zufrieden waren, 24 % teilweise zufrieden und 8,4 % nicht zufrieden. Die Daten der Fremdbewertung zeigten keinen relevanten Unterschied.<br /> Die Schmerzabfrage mittels VAS bezüglich des Schmerzes am Aufnahme- und am Entlassungstag brachte eine signifikante Reduktion von 40 % im Working-Age-Kollektiv 2; in der Working-Age-Gruppe 3 kam es immerhin zu einer Reduktion von 20 % . Auffällig ist, dass sämtliche Gruppierungen zu Beginn der Therapie die VAS im Median auf 6 einstuften – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die VAS als Messinstrument für beide Patientenkollektive zu hinterfragen ist.<br /> Interessant und ganz wesentlich ist auch das Ergebnis der statistischen Analyse (Wilcoxon-Test, Chiquadrat): Es konnte kein Zusammenhang zwischen dem Patientenalter und dem Stadium der Chronifizierung gefunden werden und es gibt in unserem Kollektiv auch keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich des Therapieerfolges in Bezug auf das Patientenalter.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite60_2.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Schlussfolgerung</h2> <p>Die Auswertung zeigt – wenig überraschend – klar, dass eine positive Beeinflussung der unterschiedlichen Scorings bzw. Schmerzparameter bei dem Patientenkollektiv im hohen Chronifizierungsstadium wesentlich geringer ausfällt. Man kann also davon ausgehen, dass mit zunehmender Chronifizierung die Wahrscheinlichkeit, dass eine Therapie erfolgreich ist, immer geringer wird. Auch nehmen die schmerzbedingten körperlichen Einschränkungen mit dem Fortschreiten des Chronifizierungsprozesses deutlich zu. Unsere Daten weisen somit auch darauf hin, dass eine frühzeitig eingeleitete multimodale Schmerztherapie letztendlich zu einer höheren Patientenzufriedenheit führt.<br /> Wie sich chronische Kreuzschmerzen auswirken, wird wesentlich vom Grad der schmerzbedingten Beeinträchtigung bestimmt sowie von der Bewertung der Symptomatik durch den Patienten und seine Umgebung. Vor allem in den Scorings, die in erster Linie Einschränkungen von körperlichen Aktivitäten abfragen, zeigen Patienten mit starker Chronifizierung nur geringe Verbesserungen. Obwohl ein Hauptaugenmerk der multimodalen Schmerztherapie auf einer Aktivierung im Sinne eines „Functional restoration“-Therapieprogramms liegt, verstärken offenbar Schmerzvermeidungsstrategien, psychische Belastungen und Reaktionen der Umgebung die Beeinträchtigung von Schmerzpatienten derart, dass unser Programm im Kollektiv der MPSS-3-Patienten nur geringe Verbesserungen bringt. Im Wissen, dass eine evidenzbasierte multimodale Schmerztherapie ein Minimum von 100 Therapiestunden bedingt, konnten die Patienten aus versicherungstechnischen Gründen in einem vorgegebenen Zeitraum von 21 bzw. 28 Tagen insgesamt nur etwa 30–40 Therapiestunden absolvieren. Wir planen daher bereits, die Zeit aktivierender Therapien für Patienten im höheren Chronifizierungsstadium zu erweitern bzw. spezialisierte ambulante Sekundär- und Tertiärpräventionsprogramme zu etablieren.<br /> Die ersten prospektiven Daten sind vielversprechend und zeigen ein signifikantes Ansprechen des multimodalen orthopädischen Schmerztherapiekonzepts. In aktuellen Studien mit ähnlichem Setting wurden 6 und 12 Monate nach der Behandlung stabile bzw. verbesserte Werte gemessen. Ein Vorteil des Konzepts liegt in der großteils bereits bestehenden Struktur der orthopädischen Rehabilitation und der dazu notwendigen Kassenfinanzierung. Weiterführende Auswertungen sollen Erkenntnisse zu Langzeitergebnissen bzw. zur Treffsicherheit in Bezug auf OP-Indikationen liefern. Absolut notwendige und ergänzende Erweiterungen hinsichtlich nachhaltigkeitsfördernder Maßnahmen im Sinne einer Tertiärprävention sind ebenso in Ausarbeitung.</p></p>
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