
«Man muss ein klares Bild bekommen»
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Stephan Gadola
Rheumatologie und Schmerzmedizin
Bethesda Spital Basel
E-Mail: stephan.gadola@bethesda-spital.ch
Das Interview führte
Dr. med. Bettina Janits, BA
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Schmerzen im unteren Rücken- und Gesässbereich treten häufig auf und ihre Ursachen sind vielfältig. Die Behandlung ist oft herausfordernd, denn Richtlinien zu Diagnose und Therapie fehlen. In unserem Gespräch gibt Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Stephan Gadola vomBethesda Spital Basel einen klinischen Überblick.
Rückenschmerzen treten beim grössten Teil der Bevölkerung irgendwann auf. Wie bemisst sich die daraus resultierende sozioökonomische Belastung?
S. Gadola: Die direkten medizinischen Kosten sind tatsächlich enorm hoch und belaufen sich auf etwa 2,6 Mrd. Euro pro Jahr, die Produktivitätsverluste auf etwa 4,1 Mrd. Euro. Für die Schweiz bedeutet das enorme Kosten zwischen 1,6 und 2,5% des BIP.
Wie gehen Sie diagnostisch vor, wenn sich ein Patient mit lumbalen oder glutealen Schmerzen vorstellt?
S. Gadola: Ich beginne mit einer sehr genauen und ausführlichen Schmerzanamnese. Wo tut es weh? Wohin strahlt der Schmerz aus? Welche Qualität hat er? Wann tritt er auf? Spontan, in Ruhe oder bei Bewegung? Was verbessert oder verschlimmert den Schmerz? Wann ist er am stärksten? Eine sorgfältige Anamnese ist ganz entscheidend. Man muss ein klares Bild bekommen und zusammen mit dem Patienten die genaue primäre Schmerzlokalisation und, falls vorhanden, die Ausstrahlung festlegen. Das tönt einfach, benötigt aber genügend Zeit, die auf jeden Fall gut investiert ist.
Wie gestaltet sich die klinische Untersuchung?
S. Gadola: In der Sprechstunde läuft die Untersuchung zielgerichtet gemäss den Hinweisen aus der Anamnese ab, wobei folgende Kategorien immer dabei sind: Inspektion von Haltung, Stand, Gang; zielgerichtete neurologische Untersuchung und funktionelle Untersuchung möglicher betroffener Gelenke und Muskelgruppen; Palpation.
Bei der Inspektion liegt mein Fokus auf der Anatomie und Biomechanik. Ich schaue den Patienten sehr genau an. Wie steht und läuft er? Hat er Haltungsanomalien? Fussdeformitäten? Hinweise auf Paresen? Etc. Bei funktionellen Untersuchungen schaue ich, wo und wann der Schmerz auftritt. Ich palpiere bekannte Triggerpunkte und versuche, den Schmerz auszulösen. Weiterhin prüfe ich die Gelenke der Hüfte und der Wirbelsäule, auch mit Belastungstests, z.B. der kleinen Facettengelenke. Eine Arthrose der Facettengelenke kann einen tief lumbalen Schmerz auslösen. Dieses lumbospondylogene Syndrom zeigt oft eine pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung und ist klar von einem lumboradikulären Syndrom, das eine vom Myelon abgehende Nervenwurzel betrifft und Schmerzen im Bereich eines definierten Dermatoms verursacht, zu unterscheiden. Ebenso von einem «echten» radikulären Syndrom zu unterscheiden sind gluteale und in den Oberschenkel, manchmal auch Unterschenkel, ausstrahlende Schmerzen durch Kompression und Irritation des Ischiasnervs durch die Glutealmuskulatur, speziell den M. piriformis. Schmerzhafte Verhärtungen des M. piriformis sind sehr häufig und verursachen ähnliche Schmerzen im Gesäss mit Ausstrahlung in den dorsalen Oberschenkel.
Gibt es noch weitere Ursachen für lumbogluteale Schmerzen, die Sie in der Klinik häufig sehen?
S. Gadola: Nebst myofaszialen, lumbospondylogenen und lumboradikulären Syndromen sowie Spinalkanalstenosen, welche die häufigste Operationsindikation der Wirbelsäulenchirurgie darstellen, sehen wir in unserer Klinik bei älteren Patientinnen nicht selten osteoporotische Spontanfrakturen, sowohl von Lumbalwirbelkörpern als auch des Kreuzbeins. Diese sind durch diffuse, zunehmende Schmerzen im Kreuzbein- und Gesässbereich charakterisiert, welche häufig zu rascher, schmerzbedingter Immobilisation führen können. Auch spontane Muskelrisse der Glutealmuskulatur sehen wir regelmässig.
Dann gibt es auch noch die entzündlichen Erkrankungen der Wirbelsäule, die Spondyloarthritiden, welche in der Regel jüngere Patienten betreffen. Schmerzen im Kreuzbeinbereich, typischerweise mit mehr als einstündiger Morgensteifigkeit, deuten auf einen entzündlichen Rückenschmerz hin und sind ein Kardinalsymptom der Spondyloarthritiden. Weiterhin können Schmerzen im Bereich der gesamten Wirbelsäule, der vorderen Thoraxwand, Schwellung der peripheren Gelenke und Daktylitiden auftreten. Als Systemerkrankungen können Spondyloarthritiden auch im Rahmen anderer Entzündungskrankheiten, wie Morbus Crohn oder Psoriasis, auftreten. Deshalb sollten bei Patienten mit möglichem entzündlichem Rückenschmerz auch die Haut, die Augen und die Schleimhäute untersucht werden.
Welchen Stellenwert haben bildgebende Verfahren im Rahmen der diagnostischen Abklärung?
S. Gadola: Diese haben einen sehr grossen Stellenwert, allerdings sollten bildgebende Verfahren immer mit einer möglichst präzisen Fragestellung an den Radiologen verordnet werden, da pathologische, und zum Teil sogar hochpathologische Befunde, auch bei komplett asymptomatischen Personen gesehen werden können. Mit dem MRI haben wir heute ein Instrument, welches bei zielgerichtetem Einsatz viele Fragen beantworten kann. Konventionelle Röntgenaufnahmen der LWS und des Beckens setzen wir sehr häufig ein, denn sie geben uns eine gute Übersicht über Form und degenerative Veränderungen von LWS, ISG, Becken und Hüftgelenken im Stehen. Das MRI setzen wir sehr häufig zur Beurteilung von vermuteten Diskushernien, Frakturen, Entzündungen und Muskelrissen ein. Da ein MRI nur beim liegenden – und nicht beim stehenden – Patienten durchgeführt werden kann, führen wir manchmal, wenn eine segmentale Instabilität der Lumbalwirbelsäule als Schmerzursache vermutet wird, Funktionsaufnahmen der LWS im Röntgen durch. Auch das CT setzen wir ein, wenn auch deutlich seltener als das MRI.
Wie gestaltet sich die medikamentöse Therapie?
S. Gadola: Pharmakologisch gibt es verschiedene Mittel, die zum Einsatz kommen: die reinen Analgetika, wie Paracetamol, die aber häufig nicht genügend helfen, und die nichtsteroidalen Entzündungshemmer, die wir z.B. beim lumbospondylogenen Syndrom, aber auch bei Osteochondrosen einsetzen. Auf Opiate können wir nicht gänzlich verzichten. Sie haben z.B. bei osteoporotischen Frakturen in der Anfangsphase der Schmerzbehandlung ihre Berechtigung.
Welche nicht pharmakologischen, nicht interventionellen Therapien kommen zum Einsatz?
S. Gadola: Essenziell sind die Physiotherapie und physikalische Therapie. Bei Frakturen ist die frühe Mobilisation sehr wichtig. Bei myofaszialen Schmerzen hat man mit der Physiotherapie die Möglichkeit, die Triggerpunkte direkt manuell oder mittels «dry needling» zu behandeln. Ganz wichtig sind die Dehnung, Aktivierung und Stärkung der Muskulatur. Bis ins hohe Alter ist ein Muskelaufbau möglich – auch wenn dieser dann grösserer Zuwendung bedarf! Bei chronischen Schmerzsyndromen arbeiten wir auch eng mit unseren Psychiatern und Psychologen zusammen. Ergänzend setzen wir auch die Ergotherapie ein.
Von welchen interventionellen Therapiemöglichkeiten machen Sie in Ihrem klinischen Alltag Gebrauch?
S. Gadola: Wir führen, je nach Lokalisation der Schmerzursache, Infiltrationen in Gelenke, Muskeln, Sehnenansätze oder in die Nähe von Nervenwurzeln oder Rückenmarkskanal durch. Zu den Gelenken, welche wir mit einer Infiltration behandeln können, zählen die Hüft-, Iliosakral- und die Facettengelenke. Infiltrationen von Insertionstendinosen im Bereich des Beckenkamms oder am Trochanter major sowie im Bereich der Bursae kommen auch häufig zum Einsatz. Bei Entzündungen im Bereich der Bursa trochanterica treten die Schmerzen typischerweise nachts beim Liegen auf der betroffenen Hüftseite auf. Dank der bildgebenden «Real time»-Unterstützung durch Ultraschall, oder auch röntgenunterstützt mithilfe eines C-Bogens, kann die Nadel präzise platziert und die Medikamente können zielsicher verabreicht werden. Sehr wichtig ist die genaue Anamnese des Schmerzverlaufs nach erfolgter Infiltration, v.a. wenn die Infiltration mit Lokalanästhetika (LA) und Cortison durchgeführt worden ist. Der LA-Effekt dauert in der Regel nur über Stunden an, ist dafür aber aus diagnostischer Sicht sehr wertvoll. Der Steroideffekt, welcher mit einer Verzögerung von 2–7 Tagen eintritt, sollte bei richtiger Indikationsstellung und zielgenauer Abgabe des Medikaments deutlich länger, im Idealfall mehrere Monate, anhalten. Bei radikulären Schmerzen führen wir eine epidurale Spinalanästhesie respektive eine transforaminale Wurzelinfiltration durch.
Gibt es weitere, nicht operative Interventionsmöglichkeiten?
S. Gadola:Sprechen Patienten nicht oder nicht mehr auf Cortisoninfiltrationen an, können Schmerzfasern der Gelenke oder Nervenwurzeln mit Strom behandelt werden. Beim lumbospondylogenen Syndrom oder bei Schmerzen im ISG können so die betroffenen Facettengelenke respektive die ISG mittels Radiofrequenzbehandlung für eine gewisse Zeit unempfindlich gemacht werden. Dabei wird die Schmerzleitung im Bereich der Facettengelenke, welche über die «medial branches» erfolgt, gezielt blockiert (MBB, «medial branch block») und dadurch ein nachhaltiger Effekt, in der Regel über mindestens sechs Monate und manchmal bis zu zwei Jahre, erreicht. Bei einer chronischen Nervenwurzelreizung, z.B. im Rahmen einer Diskushernie, können schmerzleitende Fasern innerhalb der Wurzel selektiv mit gepulster Radiofrequenz betäubt werden. Dadurch kann eine Operation in manchen Fällen verhindert oder zumindest hinausgezögert werden.
Welche operativen Möglichkeiten stehen solchen Patienten zur Verfügung?
S. Gadola: Operative Verfahren sollten – falls keine neurologischen Ausfälle bestehen – immer erst nach Ausschöpfung aller anderen Verfahren, sowohl ambulanter Therapien wie auch stationärer Intensivbehandlung in einem multimodalen Therapieprogramm, in Betracht gezogen werden. Operative Möglichkeiten beinhalten konventionelle – in der Regel mikrochirurgische – und endoskopische Operationsverfahren sowie spezielle schmerzmedizinische Verfahren, namentlich die Rückenmarkstimulation («spinal cord stimulation», SCS) und implantierbare Medikamentenpumpen. Minimal invasive Verfahren, z.B. die endoskopische Diskektomie, könnten sich in Zukunft gegenüber konventionellen Operationsmethoden durchsetzen, zumal sie gemäss Metaanalysen mit einer deutlich kürzeren Hospitalisationsdauer von 4–5 Tagen einhergehen. Die SCS, plakativ auch «Schrittmacher des Nervensystems» genannt, ist ein Verfahren, bei welchem ein unter die Haut implantierter Neurostimulator elektrische Impulse an Nerven sendet, und zwar über Elektroden, die in die Nähe des Rückenmarks platziert werden. Dieses Verfahren kommt bei anderweitig nicht behandelbaren neuropathischen Schmerzen zum Einsatz. Die Indikation zur SCS muss in jedem Einzelfall sorgfältig, idealerweise interdisziplinär (Schmerzmedizin, Rheumatologie, Wirbelsäulenchirurgie, Psychiatrie & Psychosomatik, Physiotherapie) gestellt werden.
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