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Kreuzbanderhaltende Chirurgie – Realität oder Wunschvorstellung
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Sandro Kohl
Universitätsklinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie<br> Inselspital Bern<br> E-Mail: sandro.kohl@insel.ch
30
Min. Lesezeit
02.03.2017
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<p class="article-intro">Aufgrund neuer Erkenntnisse über die Möglichkeit der Heilungsfähigkeit des vorderen Kreuzbandes und der Verbesserung der Operationstechniken rücken kreuzbanderhaltende Operationstechniken in letzter Zeit wieder vermehrt ins Rampenlicht. Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen und potenziellen zukünftigen Behandlungsverfahren, zeigt deren Vor- und Nachteile auf und gibt Hinweise zur Indikationsstellung.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die konservative Therapie empfehlen wir allen Patienten mit einem Tegner-Score unter 4. Sollte jedoch nach frühestens 3 Monaten intensiver physiotherapeutischer Rehabilitation eine alltagslimitierende Instabilität bestehen, kann mit dem Patienten eine VKBRekonstruktion diskutiert werden.</li> <li>Die zeitnahe operative Therapie ist dem jungen aktiven Patienten (Tegner >4) vorbehalten, welcher noch zusätzliche Begleitverletzungen (traumatischer Meniskusriss) hat.</li> <li>Die Indikation für eine kreuzbanderhaltende Methode (Ligamys<sup>®</sup>) stellen wir sehr streng. Diese liegt vor bei einer proximalen VKB-Ruptur (mit Zusatzverletzungen), einem Tegner- Score von 4 bis 7, einem Patienten, der keine pivotierenden Sportarten betreiben möchte, und wenn unsererseits die Möglichkeit besteht, den Patienten innerhalb der ersten 3 Wochen nach Trauma operativ versorgen zu können. Bezüglich der ebenfalls oben beschriebenen Technik des InternalBrace™ sind die Indikationskriterien denen von Ligamys<sup>®</sup> gleichzustellen. Die BEAR-Technik klingt vielversprechend, kann aber aufgrund der derzeitigen Datenlage noch nicht empfohlen werden.</li> <li>Bei intraligamentären VKBRupturen, einem Tegner-Score >7 oder beim Wunsch, pivotierende Sportarten weiter zu praktizieren, empfehlen wir die individuell angepasste Rekonstruktion mittels eines autologen Sehnengraftes.</li> </ul> </div> <p>Die Ruptur des vorderen Kreuzbands (VKB) ist eine der häufigsten Sportverletzungen. In der Schweiz erleiden jedes Jahr circa 10 000 bis 12 000 Personen diese Verletzung. Die Entscheidung, ob die Therapie konservativ oder operativ ist, sollte immer individuell getroffen werden und sich an den Ansprüchen des Patienten orientieren. Fakt ist, dass keines der klassischen Therapiekonzepte davon ausgeht, dass die VKB-Ruptur ein Selbstheilungspotenzial hat. Aus diesem Grund wird bei der Rekonstruktion das zerrissene VKB auch durch einen autologen Sehnengraft ersetzt. Aber warum heilt dieses Band nicht? Histologische Analysen von gerissenen VKB zeigen, dass sich sehr rasch ein Defekt in der Rupturzone bildet und somit die Enden gar keine Möglichkeit haben, sich zu verbinden und miteinander zu verheilen.<br /> Es existieren dazu zwei Theorien: Einerseits reisst der synoviale Überzug bei Ruptur ein und es kommt zur Einblutung intraartikulär. Die Synoviazellen produzieren ein Enzym, das Plasmin, welches den ursprünglichen Plättchen-Fibrin-Pfropf auflöst.<sup>1</sup> Andererseits verändert sich die Lage der gerissenen VKB-Stümpfe abhängig von der Position des Kniegelenkes während der Roll-gleit-Bewegung. Durch die ständige Dislokation der Stumpfenden wird die Fibrin- Plättchen-Verbindung in der Ruptur immer wieder unterbrochen, die Stumpfenden degenerieren und der Defekt vergrössert sich. Es ist somit die Kombination aus einer komplexen Biomechanik und den ungünstigen biologischen Gegebenheiten am Ort der Ruptur, welche die Heilung des VKB verhindert.<sup>2</sup></p> <h2>Kreuzbanderhaltende Therapie im Lauf der Geschichte</h2> <p>Der Wunsch nach einer Therapiemethode, welche die VKB-Ruptur zum Ausheilen bringt, ist nicht neu. Erste Berichte datieren bereits ins Jahr 1938 zurück. Schon damals beschrieb Ivar Palmer die Problematik der spontanen Selbstheilung und wies auf die Wichtigkeit hin, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Später, in den 1970er- und 1980er-Jahren, wurde neben der VKB-Rekonstruktion die offene primäre Naht propagiert. Im Wesentlichen gab es zwei verschiedene Nahttechniken, die beide über eine Arthrotomie durchgeführt wurden. Die Palmer-Technik besteht aus zwei Bunnell- Nähten, die transossär geführt und verknotet werden. 1978 entwickelte sich daraus die modifizierte Palmer-Technik, auch Marshall-Technik genannt, die mehrere U-Nähte verwendete. In Langzeitstudien über mehr als 15 Jahre hinweg zeigten sich Revisionsraten bei Knieinstabilitäten nach offener primärer Naht von bis zu 43 % .<sup>3, 4</sup> Interessanterweise identifizierte man ein junges Alter<sup>3</sup> und intraligamentäre Risse<sup>5</sup> als Risikofaktoren für eine insuffiziente Heilung und folglich eine persistierende Instabilität. Auf der anderen Seite präsentierten sich 52–91 % der Patienten mit stabilem Knie bei normalen IKDC-Scores oder guten bis exzellenten Lysholm- Scores.<sup>4, 6</sup> In einer sehr interessanten Studie verglichen Drogset et al 150 Patienten, welche in drei Gruppen unterteilt waren. Hier wurden die primäre Naht und die augmentierte primäre Naht der VKB-Rekonstruktion gegenübergestellt. Nach einem durchschnittlichen Followup von 16 Jahren wurde bei 24 % der Patienten mit primärer Naht, 10 % der Patienten mit augmentierter Naht und 2 % in der Rekonstruktionsgruppe eine sekundäre chirurgische Stabilisation des Kniegelenkes durchgeführt.<sup>7</sup> Die Ergebnisse der primären Nahttechniken entsprachen somit nicht den Erwartungen. Aufgrund der kritischen Resultate blieb die Rekonstruktion mittels autologer Sehnenplastik als Goldstandard bestehen und die kreuzbanderhaltenden Verfahren zur Therapie der VKB-Ruptur wurden zunehmend verlassen.</p> <h2>Rolle der kreuzbanderhaltenden Chirurgie in der heutigen Zeit</h2> <p>Die kritische Haltung gegenüber der kreuzbanderhaltenden chirurgischen Behandlung basiert vielerorts noch auf den schlechten Erfahrungen aus den 1970ern und 1980ern.<sup>7</sup> Jedoch haben sich die Erkenntnisse über die Mechanik des Kniegelenkes und die Biologie des VKB sowie die zur Verfügung stehenden operativen Techniken in den letzten Jahren immer weiter entwickelt, sodass man seit einigen Jahren wieder über die Thematik der chirurgisch unterstützten Selbstheilung der VKB-Ruptur nachdenkt. Die potenziellen Vorteile des Erhaltens von Kreuzbandgewebe oder sogar des gesamten VKB sind nicht von der Hand zu weisen. So könnte die propriozeptive Funktion durch den Erhalt der neurogenen Fasern zumindest teilweise erhalten bleiben. Des Weiteren bliebe eine iatrogene Schädigung des Kniegelenkes durch die Entnahme von Sehnengewebe aus. Heutzutage unterscheidet man zwischen primären und augmentierten Nahttechniken.</p> <h2>Primäre Nahttechniken</h2> <p><strong>«Bridge-enhanced ACL repair» (BEAR)</strong><br /> BEAR ist ein Verfahren, welches derzeit in Boston (USA) getestet wird. Es besteht aus einer Kombination aus einer primären Kreuzbandnaht, die transossär fixiert wird, und der Abdeckung der Rupturstelle mit einem Kollagengewebe (Scaffold), das autologes Blut enthält. Ziel ist die Beschleunigung der Selbstheilung. Kürzlich wurde der erste Zwischenbericht veröffentlicht, der die Verträglichkeit des Kollagengewebes überprüft und die neue Technik mit der VKB-Rekonstruktion mittels Hamstring-Plastik vergleicht. In den 3-Monats-Ergebnissen zeigten sich zwischen den beiden Gruppen (zu je 10 Patienten) keine Unterschiede bei der Schmerzempfindung und der Stabilität im Lachman-Test, aber eine signifikant bessere Hamstring-Muskelkraft in der BEARGruppe.<sup>8</sup></p> <p><strong>«Healing response»-Technik (HRT)</strong><br /> Steadman et al beschrieben die HRT erstmals bei über 40-jährigen Patienten mit proximalen VKB-Rupturen. Durch eine arthroskopische Mikrofrakturierung der femoralen Insertionsstelle sowie das Anfrischen des VKB werden die körpereigenen Heilungsmechanismen stimuliert. Eine primäre Naht des VKB erfolgt jedoch nicht. Die HRT wurde in einer «Matched case-control»-Studie mit konservativer Therapie verglichen, wobei kein signifikanter Unterschied bei der Anzahl der sekundären VKB-Rekonstruktionen gesehen wurde. 36 % wurden in der HRT-Gruppe und 56 % in der konservativen Gruppe revidiert. Es gab keinen klinischen Unterschied nach 2 Jahren Follow-up.<sup>9</sup></p> <h2>Augmentierte kreuzbanderhaltende Therapie</h2> <p><strong>«InternalBrace™ ligament augmentation repair» (Arthrex)</strong><br /> Bei dieser Methode erfolgt die Stabilisation des Kniegelenkes durch eine innere Schienung der VKB-Ruptur mittels eines speziellen Fadens (FiberTape, TightRope). Des Weiteren wird das VKB arthroskopisch transossär nach proximal genäht und eine Mikrofrakturierung des femoralen Ansatzes durchgeführt. Die Indikation für die Operation ist ein femoraler proximaler Bandabriss. Erste Kohortenstudien zeigen gute klinische Resultate nach durchschnittlich 3,5 Jahren Follow-up mit einem Lysholm- Score von 93,2 und einem subjektiven IKDC-Score von 86,4 Punkten.<sup>10</sup> Achtnich et al verglichen das InternalBrace™ mit der VKB-Rekonstruktion und zeigten eine Revisionsrate mit rekurrenter Instabilität und konsekutiver VKB-Rekonstruktion von 15 % versus 0 % in der Rekonstruktionsgruppe bei 41 Patienten.<sup>11</sup> Zusätzlich zeigte die MRI-Untersuchung homogene Signale und eine korrekte VKB-Position in 100 % (VKB-Rekonstruktion) versus 86 % der Patienten (InternalBrace™).<sup>11</sup></p> <p><strong>Dynamische intraligamentäre Stabilisation (DIS) – Ligamys™ (Mathys)</strong><br /> Die Philosophie der DIS basiert auf der Anisometrie des Kniegelenkes und den kritischen Ergebnissen der statischen primären Naht. Mit dieser Technik wird versucht, einerseits die mechanische Instabilität und andererseits auch das biologische Problem der VKB-Heilung zu adressieren. Durch eine primäre Naht des distalen VKB-Stumpfes nach proximal werden die Enden des VKB in Kontakt gebracht. Die zusätzlich durchgeführte Mikrofrakturierung am femoralen Ansatz soll die Heilung zusätzlich begünstigen. Der Schutz der primären Naht erfolgt dann mittels eines intraligamentär geführten Fadens, welcher dynamisch über ein vorgespanntes Federsystem verankert ist. Damit soll während des Bewegungsablaufes der zyklische Dehnungsstress reduziert werden, sodass die VKB-Ruptur genügend Stabilität hat, um zu heilen. Die Kniekinematik bei einer Vorspannung von 80N ist vergleichbar mit der eines VKBintakten Knies.<sup>12</sup> Die ersten publizierten Resultate zeigen vielversprechende klinische Ergebnisse. Nach 24 Monaten zeigt sich bei 50 Patienten ein Lysholm-Score von 100 und ein subjektiver IKDC-Score von 98 Punkten.<sup>13</sup> Ein Hop-Test («Back to sport»- Test), welcher die Kraft und neuromuskuläre Kontrolle der unteren Extremität misst, konnte nach durchschnittlich 22 Wochen durchgeführt werden. Der darin enthaltene «Limb Symmetry Index» (LSI), welcher die Funktion des operierten Beines misst und der Funktion des gesunden gegenüberstellt, zeigte einen Wert von 91,6 % .<sup>14</sup> Es zeigte sich aber auch eine globale Komplikationsrate von 20 % , welche sich aus 6 % Rerupturen, 4 % persistierender Instabilität und 10 % Bewegungseinschränkung durch ein Notch-Impingement bei hypertropher intraartikulärer Narbenbildung zusammensetzt.<sup>13</sup> Im Vergleich zur VKB-Rekonstruktion mit 6,2 % Rupturen und 10,3 % Komplikationsrate über 10 Jahre<sup>15</sup> zeigt sich bei der DIS eine höhere Komplikationsrate nach 2 Jahren.<br /> Durch eine Risikogruppenanalyse unserer eigenen Daten von 264 Patienten konnten wir die potenziellen positiven und negativen prädiktiven Faktoren erarbeiten. Als positiv zeigten sich proximale Rupturen und ein Tegner-Score unter 7. Negative Faktoren, bei denen mit einer erhöhten Komplikationsrate gerechnet werden muss, sind die Ruptur im mittleren VKB-Drittel sowie kompetitive sportliche Tätigkeit mit einem Tegner-Score über 7. Den Einfluss und die Bedeutung der biologischen Faktoren konnten wir in einer Fallkontrollstudie zeigen. Die Abdeckung der Nahtstelle mittels eines Kollagenfliesses bei intraligamentären Rupturen zeigte einen deutlichen Vorteil, so konnte die Komplikationsrate im Hinblick auf eine Reruptur, eine bestehende Instabilität oder hypertrophe Narbenbildung deutlich reduziert werden. Das sich langsam resorbierende Kollagengewebe fungiert hierbei als Scaffold und als Reservoir für biologisch aktive Mediatoren im Heilungsprozess.</p> <h2>Unser Behandlungsalgorithmus bei VKB-Ruptur</h2> <p>Die Behandlung einer VKB-Ruptur ist eine sehr individuelle Entscheidung zwischen Patient und Arzt. Die Hauptkriterien dazu bilden vor allem der Grad der Aktivität (Tegner-Score), die Begleitverletzungen, das Alter des Patienten, die Zeit, welche seit der Verletzung bereits verstrichen ist, sowie der lokale Status des Kniegelenkes.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Ortho_1701_Weblinks_lo_ortho_1701_s42_abb1.jpg" alt="" width="1454" height="1053" /></p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Die ersten publizierten Resultate über die kreuzbanderhaltenden Techniken zeigen vielversprechende klinische Resultate, aber eine erhöhte Komplikationsrate im Vergleich zur VKB-Rekonstruktion. Da Langzeitergebnisse zu den neuen Verfahren noch fehlen, sollte die Indikation zur kreuzbanderhaltenden Operationstechnik sehr streng und individuell gestellt werden. Ob es in naher Zukunft einen Paradigmenwechsel bei der Therapie der vorderen Kreuzbandruptur gibt, ist noch offen, die ersten Anzeichen sind aber vielversprechend.</p></p>
<p class="article-footer">
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<p><strong>1</strong> Kiapour AM, Murray MM: Bone Joint Res 2014; 3(2): 20- 31 <strong>2</strong> Eggli S et al: Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 2015; 23(4): 1215-21 <strong>3</strong> Strand T et al: Arch Orthop Trauma Surg 2005; 125(4): 217-21 <strong>4</strong> Taylor DC et al: Am J Sports Med 2009; 37(1): 65-71 <strong>5</strong> Sherman MF et al: Am J Sports Med 1991; 19(3): 243-55 <strong>6</strong> Meunier A et al: Scand J Med Sci Sports 2007; 17(3): 230-7 <strong>7</strong> Drogset JO et al: J Bone Joint Surg Am 2006; 88(5): 944-52 <strong>8</strong> Murray MM et al: Orthop J Sports Med 2016; 4(11): 2325967116672176 <strong>9</strong> Wasmaier J et al: J Knee Surg 2013; 26: 263-71 <strong>10</strong> DiFelice GS et al: Arthroscopy 2015; 31(11): 2162-71 <strong>11</strong> Achtnich A et al: Arthroscopy 2016; 32(12): 2562-9 <strong>12</strong> Schliemann B et al: Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 2015; [Epub ahead of print] <strong>13</strong> Kohl S et al: Bone Joint J 2016; 98-B(6): 793-8 <strong>14</strong> Büchler L et al: Knee 2016; 23(3): 549-53 <strong>15</strong> Crawford SN et al: Arthroscopy 2013; 29(9): 1566-71</p>
</div>
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