© Getty Images/iStockphoto

Klassifikation von thorakolumbalen Wirbelsäulenverletzungen leicht gemacht

<p class="article-intro">Ein neues übersichtliches Klassifikationssystem der AOSpine ermöglicht die Einteilung der thorakolumbalen Wirbelsäulenverletzungen nach logischen und leicht anwendbaren Kriterien. Eine Therapieempfehlung kann mittels des darauf aufbauenden AOSpine-Frakturscores abgeleitet werden.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Verfolgt man die Geschichte, ist der Bedarf an einer Einteilung der thorakolumbalen Wirbels&auml;ulenverletzungen bereits im Jahr 1929 gegeben, als Lorenz B&ouml;hler das allererste Klassifikationssystem dieser Art ver&ouml;ffentlichte. Er unterschied schon damals zwischen Kompressions-, Flexions-, Extensions-, Scher- und Rotationsverletzungen und legte damit den Grundstein f&uuml;r die folgenden Arbeiten auf diesem Gebiet.<sup>1</sup><br /> Verletzungen der thorakolumbalen Wirbels&auml;ule sind relativ h&auml;ufig vorkommende, bei einer normalen Knochendichte meist aus einem Hochrasanztrauma, bei Osteoporose bereits aus einer minimalen Krafteinwirkung resultierende Wirbelverletzungen.<sup>2, 3</sup> Bezugnehmend auf die AOSpine-Klassifikation werden neurologische Defizite in 22 % bei Typ-A-, in 28 % bei Typ-B- und in 51 % bei Typ-C-Verletzungen beschrieben.<sup>4</sup><br /> <br /> Die aktuelle Gesamtverteilung der thorakolumbalen Wirbels&auml;ulenverletzungen ist in Abbildung 1 dargestellt. Die Grundidee von Frakturklassifikationen ist es, dem Anwender die Entscheidung &uuml;ber das weitere Behandlungsvorgehen zu erleichtern. Je komplexer und un&uuml;bersichtlicher eine solche aufgebaut ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie in der t&auml;glichen Routine Anwendung findet. Die t&auml;gliche Praxis fordert von den Behandelnden rasche Entscheidungen und verlangt gleichzeitig fachliche Richtigkeit gepaart mit maximaler Patientensicherheit.<br /> F&uuml;r die Klassifikation der thorakolumbalen Wirbels&auml;ulenverletzungen hat daher die AOSpine Classification Group nun eine anwenderfreundliche Klassifikation, basierend auf vorbestehenden Klassifikationen wie der Magerl-Klassifikation und auch dem TLICS (Thoracolumbar Injury Classification System), geschaffen, welche dem Anspruch einer &uuml;bersichtlichen und trotzdem differenzierten Unterteilung gerecht werden soll, ohne sich in unpraktikablen Details zu verlieren. Die neue AOSpine-Klassifikation<sup>5</sup> vereint nun Frakturmorphologie, neurologische Sch&auml;digung und klinisch relevante Modifikatoren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite44.jpg" alt="" width="415" height="293" /></p> <h2>Einteilung nach dem Grad der Instabilit&auml;t</h2> <p>Drei Basistypen, welche nach dem Grad der Instabilit&auml;t eingeteilt werden, k&ouml;nnen nun unterschieden werden. Der zugrunde liegende Kraftvektor steht hierbei nicht mehr im Vordergrund.<sup>5, 6</sup></p> <ul> <li>yp-A-Verletzungen (Subtypen A0 bis A4)</li> <li>Typ-B-Verletzungen (Subtypen B1 bis B3): Versagen des hinteren oder vorderen Zuggurtungsmechanismus durch L&auml;sion des hinteren Ligamentkomplexes oder des vorderen L&auml;ngsband-Zwischenwirbelscheiben-hinteren L&auml;ngsbandkomplexes</li> <li>Typ-C-Verletzungen (keine Subtypen): Durch das Versagen sowohl des vorderen als auch des hinteren Zuggurtungsmechanismus kommt es zu einer translatorischen Instabilit&auml;t und damit zu einer intra- und/oder intersegmentalen Dislokationsm&ouml;glichkeit in alle Richtungen.</li> </ul> <p>Im Wesentlichen sind neben einer intra- und/oder intersegmentalen Dislokation die L&auml;ngsb&auml;nder, die Zwischenwirbelscheibe, die Wirbelk&ouml;rperhinterwand, die Endplatten sowie der hintere Ligamentkomplex zu beachten und klassifikationsentscheidend. Zur Vereinfachung der Klassifikation kann man aus morphologischer Sicht diagnostische Schritte ableiten (Abb. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite45.jpg" alt="" width="778" height="757" /></p> <p><strong>Typ-A-Verletzungen (A0 bis A4) &ndash; Kompressionsverletzungen</strong><br /> Beinhalten Quer- und Dornfortsatzfrakturen sowie Kompressionsfrakturen des Wirbelk&ouml;rpers.<br /> <br /> <em>Subtyp A0:</em> MRT-morphologisch nachweisbares &bdquo;bone bruise&ldquo; sowie Dorn- und Querfortsatzfrakturen<br /> <em>Subtyp A1:</em> sichtbare Impressionen einer Endplatte, Wirbelk&ouml;rperhinterwand intakt<br /> <em>Subtyp A2:</em> beide Endplatten betroffen, Wirbelk&ouml;rperhinterwand intakt, Spaltbruch<br /> <em>Subtyp A3:</em> Inkomplette Berstungsfraktur mit Beteiligung der Wirbelk&ouml;rperhinterwand und Beteiligung nur einer Endplatte, die zweite Endplatte bleibt intakt.<br /> <em>Subtyp A4:</em> komplette Berstungsfraktur mit Beteiligung der Wirbelk&ouml;rperhinterwand und Beteiligung beider Endplatten<br /> <br /><strong> Typ-B-Verletzungen (B1 bis B3) &ndash; Distraktionsverletzungen</strong><br /> Sie sind charakterisiert durch den Verlust des hinteren oder des vorderen Zuggurtungsmechanismus, welcher h&auml;ufig in Kombination mit Typ-A-Verletzungen vorkommt.<br /> <br /> <em>Subtyp B1:</em> &bdquo;transoss&auml;re L&auml;sion&ldquo;, &bdquo;Chance-Fraktur&ldquo; &ndash; betrifft nur einen Wirbelk&ouml;rper und ist eine monosegmentale, kn&ouml;cherne dorsale Distraktionsverletzung<br /> <em>Subtyp B2:</em> L&auml;sion des hinteren Ligamentkomplexes mit oder ohne kn&ouml;cherne Verletzung. Eine meist vorhandene, zus&auml;tzliche Kompressionsverletzung muss entsprechend den Typ-A-Verletzungen klassifiziert werden.<br /> <em>Subtyp B3:</em> L&auml;sion des vorderen L&auml;ngsbandes und der Zwischenwirbelscheibe oder des Wirbelk&ouml;rpers durch ein Hyperextensionstrauma. Der hintere Ligamentkomplex bleibt erhalten.<br /> <br /><strong> Typ-C-Verletzungen &ndash; Translationsverletzungen</strong><br /> Sind charakterisiert durch eine komplette Kontinuit&auml;tstrennung von Wirbels&auml;ulensegmenten. Durch die L&auml;sion des vorderen L&auml;ngsband-Zwischenwirbelscheiben-hinteren L&auml;ngsband- und des hinteren Ligamentkomplexes ist jeglicher Widerstand gegen eine Translation aufgehoben, wodurch es zu intra- und/oder intersegmentalen Dislokationen nach lateral, ventrodorsal oder auch kraniokaudal kommen kann. Kombinierte Typ-A- wie auch Typ-B-Verletzungen sollten zus&auml;tzlich nach dem bereits bekannten Klassifikationssystem eingeteilt werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite46.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Neurologisches Defizit</h2> <p>Das neurologische Defizit und dessen Klassifikation geh&ouml;ren zu den drei entscheidenden Einflussfaktoren bez&uuml;glich weiterer Therapieempfehlungen. Zur weiteren Beschreibung des entstandenen neurologischen Defizits wurde eine 5-Stufen-Skala erarbeitet:<br /> <br /> <em>N0:</em> keine neurologischen Ausf&auml;lle<br /> <em>N1:</em> transientes neurologisches Defizit, welches sich vollst&auml;ndig zur&uuml;ckbildet<br /> <em>N2:</em> radikul&auml;res Defizit<br /> <em>N3:</em> inkomplette Querschnittl&auml;sion, laut Einteilung der American Spinal Injury Association (ASIA) Grad D bis B<br /> <em>N4:</em> komplette Querschnittl&auml;sion, laut Einteilung der ASIA Grad A<br /> <em>NX:</em> neurologischer Status nicht beurteilbar, z.B. intubierter Patient</p> <h2>Klinisch relevante Modifikatoren</h2> <p>Als dritter Einflussfaktor, welcher eine Therapieentscheidung erm&ouml;glichen soll, gelten sogenannte &bdquo;fallspezifische klinische Modifikatoren&ldquo;.<sup>5</sup><br /> <em>M1:</em> die Beurteilung des Zuggurtungsmechanismus ist nicht eindeutig oder dessen Beurteilung ausst&auml;ndig (z.B. MRT ist nicht verf&uuml;gbar/m&ouml;glich).<br /> <em>M2:</em> beinhaltet patientenspezifische Komorbidit&auml;ten, die wie &bdquo;das Z&uuml;nglein an der Waage&ldquo; mitunter bei schwierigen Therapieempfehlungen die Entscheidung f&uuml;r oder gegen eine operative Sanierung erleichtern sollen, wie z.B. Osteoporose, Morbus Bechterew, Erkrankungen aus dem rheumatoiden Formenkreis, Weichteilsch&auml;den im Operationsgebiet u.a.<sup>5</sup></p> <h2>Kurz und pr&auml;gnant</h2> <p>Bezugnehmend auf diese Informationen ergibt sich schlie&szlig;lich die Nomenklatur der Frakturklassifizierung, wobei die h&ouml;hergradige Verletzung an erster Stelle genannt wird. Bei gleichem Schweregrad wird von kranial nach kaudal sortiert. Typ-A- und -B1-Verletzungen betreffen einen Wirbelk&ouml;rper und werden beispielsweise wie folgt beschrieben: Th12, A1 bzw. Th12, B1.<br /> Da die Verletzungen B2, B3 und C zumindest ein Bewegungssegment betreffen, wird das entsprechende Segment, z.B. L1/2, B2; L1/2, B3 bzw. L1/2, C, beschrieben. Das jeweilige neurologische Defizit und die Modifikatoren werden angeh&auml;ngt, demnach z.B.: L1/2, B2, N3, M2; L1/2, B3, N3, M2 bzw. L1/2, C, N3, M2.</p> <h2>Gute Kappa-Werte in der Inter- und Intraobserver-Reliabilit&auml;t</h2> <p>Sowohl bez&uuml;glich der Interobserver-Reliabilit&auml;t als auch der Intraobserver-Reliabilit&auml;t wird das neue AOSpine-Klassifikationssystem als anderen bestehenden Klassifikationssystemen teilweise &uuml;berlegen, aber keinesfalls als schlechter als bestehende, beschrieben.<sup>5&ndash;9</sup> Ein exzellenter Kappa-Wert (0,6&ndash;0,97) gilt f&uuml;r die Intraobserver-Reliabilit&auml;t.<sup>5, 7</sup></p> <h2>Konsekutive Therapieempfehlung</h2> <p>Mittels eines neuen AOSpine-Frakturscores kann eine konsekutive Therapieempfehlung abgeleitet werden. Im J&auml;nner 2016 publizierten Vaccaro et al einen Therapiealgorithmus basierend auf einem Punkteschema, das aus dem neuen AOSpine-Klassifikationssystem der thorakolumbalen Wirbels&auml;ulenverletzungen errechnet wurde (Abb. 4).<sup>10</sup> Anhand des Thoracolumbar AOSpine Injury Score (TL AOSIS) wird empfohlen, Verletzungen mit 3 Punkten oder weniger einer konservativen Therapie zuzuf&uuml;hren, w&auml;hrend Frakturen mit mehr als 5 Punkten operativ behandelt werden sollten. Frakturen mit 3 oder 4 Punkten k&ouml;nnen sowohl konservativ als auch operativ behandelt werden. Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass selbst dieses System nicht frei von &bdquo;Grauzonen&ldquo; ist, wie in Vaccaros Publikation in diesem Zusammenhang beispielhaft eine A3N1M1-Verletzung genannt wird.<sup>10</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite47.jpg" alt="" width="837" height="398" /></p> <h2>Fazit</h2> <p>Zusammenfassend ist zu sagen, dass sowohl mit der AOSpine-Klassifikation der thorakolumbalen Wirbels&auml;ulenverletzungen als auch mit dem daran angelehnten Thoracolumbar AOSpine Injury Score (TL AOSIS) und den daraus folgenden Therapieempfehlungen ein modulares und anwenderfreundliches Werkzeug zur Behandlung dieser h&auml;ufigen und anspruchsvollen Verletzungen zur Verf&uuml;gung steht.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Azam MQ, Sadat-Ali M: The concept of evolution of thoracolumbar fracture classifications helps in surgical decisions. Asian Spine J 2015; 9(6): 984-94<br /><strong>2</strong>&nbsp; Rajasekaran S et al: Management of thoracolumbar spine trauma: an overview. Indian J Orthop 2015; 49(1): 72-82<br /><strong>3</strong> Gonschorek O et al: [Fractures of the thoracic and lumbar spine]. Chirurg 2015; 86(9): 901-14; quiz 915-16<br /><strong>4</strong> Knop C et al: [Surgical treatment of injuries of the thoracolumbar transition. 1: epidemiology]. Unfallchirurg 1999; 102(12): 924-35<br /><strong>5</strong> Kandziora F et al: [In Process Citation]. Z Orthop Unfall 2016; 154(2): 192-44<br /><strong>6</strong> Vaccaro AR et al: AOSpine thoracolumbar spine injury classification system: fracture description, neurological status, and key modifiers. Spine (Phila Pa 1976) 2013; 38(23): 2028-37<br /><strong>7</strong> Kepler CK et al: Reliability analysis of the AOSpine thoracolumbar spine injury classification system by a worldwide group of naive spinal surgeons. Eur Spine J 2016; 25(4): 1082-86<br /><strong>8</strong> Azimi P et al: The AOSpine thoracolumbar spine injury classification system: a reliability and agreement study. Asian J Neurosurg 2015; 10(4): 282-85<br /><strong>9</strong> Sadiqi S et al: The influence of spine surgeons' experience on the classification and intraobserver reliability of the novel AOSpine thoracolumbar spine injury classification system - an international study. Spine (Phila Pa 1976) 2015; 40(23): E1250-6<br /><strong>10</strong> Vaccaro AR et al: The surgical algorithm for the AOSpine thoracolumbar spine injury classification system. Eur Spine J 2016; 25(4): 1087-94</p> </div> </p>
Back to top