© Getty Images/iStockphoto

Einsatzmöglichkeiten eines Ganglabors in der orthopädischen Rehabilitation

<p class="article-intro">Modern ausgerüstete Ganglabors sind in der Lage, wesentliche Kenngrößen der Bewegung zu erheben, die mit freiem Auge nicht zu erkennen sind. Diese Daten dienen dazu, Ärzte und Therapeuten in ihren Aufgaben zu unterstützen, wodurch Rehabilitations-, Therapie- und – in Spezialfällen – auch Operationsziele bestmöglich umgesetzt werden sollen.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Die gleichzeitige Dokumentation von Krankheitsverl&auml;ufen und Behandlungen erm&ouml;glicht gezielte Adaptierungen in der Planung und Durchf&uuml;hrung von Therapiema&szlig;nahmen. Analysen objektiv erfasster Daten k&ouml;nnen Hinweise auf Ursache- Wirkungs-Beziehungen sichtbar machen.<sup>1</sup> Dabei besteht die Leistungsf&auml;higkeit apparativ gest&uuml;tzter Ganglabors darin, objektive Kennwerte zu liefern, die z.B. durch Sichtanalysen nicht reliabel erfasst werden k&ouml;nnen. Die hier eingesetzten modernen Messverfahren erm&ouml;glichen Analysen von Bewegungen nicht nur in Ruhe, sondern auch w&auml;hrend des gesamten dynamischen Bewegungsablaufs.<sup>2</sup> Im Idealfall dienen die gewonnenen Informationen dazu, Intensit&auml;t, Umfang und Dichte der Interventionen im Rahmen der medizinischen Trainingstherapie auf die Bed&uuml;rfnisse der Patienten abzustimmen.<sup>3</sup> Ebenso wichtig f&uuml;r eine erfolgreiche Rehabilitation ist die Motivation der Patienten, die sich bei entsprechender Kommunikation steigern l&auml;sst, z.B. durch das Erreichen messbarer, nachvollziehbarer Zwischenziele (z.B. Steigerung der Schrittl&auml;nge).<sup>4</sup><br /> Mit den modernen technischen M&ouml;glichkeiten in unserem Ganglabor kann die menschliche Bewegung mittels Motion- Capture-Verfahren exakt erfasst werden. Biomechanische Modelle verarbeiten die erhaltenen Trajektorien der K&ouml;rperteile und erlauben invers dynamische Analysen (z.B. C-MotionVisual 3D<sup>5</sup>) oder Bewegungssimulationen, die u.a. die mechanische Funktion der Muskulatur ber&uuml;cksichtigen (z.B. OpenSim<sup>6</sup>, AnyBody&trade;<sup>7</sup>). Somit lassen sich Drehmomente bzw. Gelenkbelastungen absch&auml;tzen, die im Inneren des K&ouml;rpers liegen und ohne Modellierung dem menschlichen Auge prinzipiell verborgen sind.</p> <h2>Das Ganglabor im Rehabilitationsprozess</h2> <p>Um die Einsatzm&ouml;glichkeiten eines Ganglabors bestm&ouml;glich zu nutzen, sollte dieses m&ouml;glichst fr&uuml;h in den Rehabilitationsprozess eingebunden werden. Nach Erstaufnahme und Anamnese durch &Auml;rzte und Physiotherapeuten erlaubt der Erstbefund des Ganglabors die erste detaillierte Beurteilung des Gangbildes, f&uuml;r die schnell einsetzbare und aussagekr&auml;ftige Systeme herangezogen werden. Die dabei generierten Informationen beeinflussen den weiteren Rehabilitationsablauf ma&szlig;geblich, da sich somit orthop&auml;dietechnische, physiotherapeutische und sportwissenschaftliche Ma&szlig;nahmen gezielt auf die Bed&uuml;rfnisse der Patienten abstimmen lassen. Entsprechend werden Einlagen- und Orthesenversorgungen, apparativ gest&uuml;tzte Trainingseinheiten im Ganglabor (z.B. Feedback-Training) und/oder detailliertere Analysen bei speziellen Fragestellungen in die Wege geleitet. Dar&uuml;ber hinaus werden Trainingsziele f&uuml;r Physiotherapie und Gangtraining formuliert und kommuniziert. Das Ganglabor ist daher ein wesentlicher Bestandteil des Rehabilitationsprozesses und dient routinem&auml;&szlig;ig als Knotenpunkt und Anlaufstelle f&uuml;r die verschiedenen Fachbereiche.</p> <h2>Analytische Methoden im Ganglabor</h2> <p>Die Messmethoden der Biomechanik sind prinzipiell in kinematische und kinetische Verfahren zu unterteilen. Diese werden oft durch Elektromyografie zur tiefer gehenden Analyse unterst&uuml;tzt.<br /> Idealerweise erfassen kinematische Methoden die Bewegung des K&ouml;rpers und seiner Segmente im dreidimensionalen Raum (Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung). Die eingesetzten Motion-Capture- Analysesysteme beziehen ihre Daten entweder aus 3D-Rekonstruktionen von zweidimensionalen Bildern mehrerer zusammenkalibrierter Kameras (z.B. Vicon, Qualisys) oder direkt aus an den Extremit&auml;ten angebrachten Tr&auml;gheitssensoren (IMU, Inertial Measurement Unit), die nach Kalibrierung ihre r&auml;umliche Lage zueinander und zum Erdschwerefeld erkennen (z.B. Xsens, Delsys<sup>&reg;</sup> Triango&trade;). Die Extraktion von Lagedaten aus Kamerabildern kann durch Verfahren wie Silhouetten- Tracking<sup>8</sup> oder Tracking von passiven (reflektieren Signal) oder aktiven (emittieren Signal) Markern erfolgen. Daf&uuml;r kommen Standardkameras, aber auch andere mit speziellen Sensoren/Filtern ausger&uuml;stete Kameras, die z.B. das Infrarotspektrum des Lichts nutzen, infrage.<br /> Die Kinetik erfasst die Ursache von r&auml;umlichen Lage&auml;nderungen. Diese liegt im Wirken von Kr&auml;ften, die mittels Dehnmessstreifen, piezoelektrischer Sensoren, Hall-Effekt-Sensoren<sup>9</sup>, Kraft- (z.B. Kistler, AMTI) und Druckmessplatten (Kapazitivund Halbleitersensoren) erfasst werden k&ouml;nnen. Je nach Sensorkonfiguration werden 1 bis 3 Dimensionen des dreidimensionalen Kraftvektors abgebildet. Kraftmessplatten sind in unserem Ganglabor so konfiguriert, dass sie die korrekte Richtung und L&auml;nge des auf die Gelenke wirkenden Bodenreaktionskraftvektors, z.B. im Gehen, mittels piezoelektrischer Sensoren pr&auml;zise erfassen. Diese Daten lassen sich mit dem Bewegungsanalysesystem synchronisieren und eignen sich daher zur gemeinsamen Verrechnung von kinematischen Daten in biomechanischen Modellen. Somit k&ouml;nnen u.a. &auml;u&szlig;ere Summen-Gelenksmomente berechnet werden. Der Vorteil von Druckmessplatten liegt in der hohen r&auml;umlichen Aufl&ouml;sung in der Sensoren-/ Plattenebene (z.B. Zebris, Pedar<sup>&reg;</sup>). An vielen Punkten wird dabei anhand von kapazitiven oder Leiter-/Halbleitersensoren jeweils eine Kraftkomponente, im Wesentlichen die Vertikalkraft, erfasst.<sup>10</sup> Da die r&auml;umliche Anordnung der Sensoren zueinander bekannt ist, l&auml;sst sich somit der auf einzelne Bereiche des Fu&szlig;es wirkende Druck berechnen.<br /> Zus&auml;tzlich zu mechanischen Messgr&ouml;&szlig;en gibt die Methode der Elektromyografie Aufschluss &uuml;ber die St&auml;rke der neuronalen Muskelaktivierung. Wird mit zwei oberfl&auml;chlichen Ableitungen die Potenzialdifferenz zwischen den Elektroden erfasst, handelt es sich beim erhaltenen Signal um das Summenpotenzial aller sich in den darunter liegenden Muskelzellen ausbreitenden Aktionspotenziale.<sup>11</sup> Die aufwendigere Anwendung von Matrixelektroden mit mehreren Ableitungen erlaubt dar&uuml;ber hinausgehend, &auml;hnlich wie beim Elektroenzephalogramm (EEG), eine r&auml;umliche Auftrennung des Signals, wodurch auch einzelne Aktionspotenziale erfasst werden k&ouml;nnen.<sup>12</sup></p> <h2>Anwendung und Relevanz objektiver Messgr&ouml;&szlig;en in der Therapie</h2> <p>Durch wiederkehrende Analysen des dynamischen Bewegungsablaufs kann der Effekt von Therapien bzw. die Wirkungsweise von z.B. Versorgungen wie Orthesen oder Schuheinlagen in Hinblick auf die formulierten Rehabilitationsziele w&auml;hrend des Therapieaufenthalts verfolgt und abgeglichen werden. Die Analyse der Fu&szlig;druckverteilung kann Druckstellen oder Fu&szlig;deformit&auml;ten im Stehen und w&auml;hrend des Gehens aufzeigen. Diese Daten sind wertvolle Informationen f&uuml;r &Auml;rzte und Therapeuten, die dabei helfen, Einlagenversorgungen und Therapien bestm&ouml;glich auf die dynamischen Gegebenheiten der Patienten abzustimmen.<br /> Modellbasierte Analysen, die aufgezeichnete kinetische und kinematische Daten ber&uuml;cksichtigen, geben mittels invers- dynamischer Berechnungsverfahren Auskunft &uuml;ber die individuelle Auspr&auml;gungsform von ggf. degenerativen Bewegungsmustern.<sup>13</sup> Die Betrachtung von elektromyografischen Daten zeigt zus&auml;tzlich das Aktivierungsmuster der einzelnen Muskeln auf und tr&auml;gt somit wesentlich dazu bei, Bewegungsanomalien zu verstehen. Durch die gemeinsame Analyse der elektromyografischen und mechanischen Aspekte der Bewegung l&auml;sst sich muskul&auml;res und koordinatives Training planen. So kann z.B. ein Beinachsentraining gezielter durchgef&uuml;hrt werden.<sup>14</sup> Flie&szlig;en diese Daten in Modelle ein, die mittels Modellmuskeln in der Lage sind, auch Muskelkr&auml;fte abzusch&auml;tzen, erhalten die Therapeuten und &Auml;rzte valide Informationen &uuml;ber die Werte der Gelenksbelastungen.<sup>15</sup><br /> Die daraus erhaltenen Verl&auml;ufe der Bewegungsparameter, z.B. Knieextensionswinkel, werden auf den Gangzyklus normiert dargestellt. Diese Verl&auml;ufe k&ouml;nnen mit Gesunden bzw. mit vor und nach einer Intervention gemessenen Daten verglichen werden. Somit lassen sich Auswirkungen von z.B. korrigierten funktionellen Beinl&auml;ngendifferenzen oder Neuversorgungen in der Prothetik auf das Gangmuster beurteilen. F&uuml;r spezielle Fragestellungen ist es auch m&ouml;glich, wichtige Daten f&uuml;r die Endoprothetik zu generieren, wobei z.B. pr&auml;operativ das Zentrum der H&uuml;ftgelenkspfanne bestimmt werden kann.<sup>16</sup><br /> Neben der Datenerfassung und Interpretation k&ouml;nnen im Ganglabor erhobene Parameter auch unmittelbar in die Rehabilitation einflie&szlig;en. Durch Feedback- Training, das von der einfachen grafischen Darstellung von Messwerten bis hin zur Visualisierung komplexer Berechnungsergebnisse reichen kann, sind die Therapeuten in der Lage, gezieltere Anweisungen zu geben. Die generierten sensorischen Informationen unterst&uuml;tzen die Patienten in der Umsetzung von Bewegungsaufgaben und erlauben eine objektive Kontrolle der Bewegungsqualit&auml;t. Das Feedback kann dabei akustisch (z.B. Warnt&ouml;ne beim &Uuml;berschreiten von Gelenkswinkeln, Abspielen einer aus der Bodenreaktionskraft generierten Tonfolge),<sup>17</sup> visuell (z.B. Darstellung von Gelenksmomenten),<sup>18</sup> propriozeptiv (z.B. dynamische Interaktion mit einer gesteuerten beweglichen Plattform)<sup>19</sup> oder durch Muskelstimulation (z.B. gezielte, k&uuml;nstliche Verst&auml;rkung der Muskelaktivierung in bestimmten Phasen des Gangzyklus)<sup>20</sup> &uuml;bermittelt werden. Der Einsatz von Unterarmst&uuml;tzkr&uuml;cken, die mit Kraftmesssensoren ausger&uuml;stet sind, erm&ouml;glicht fr&uuml;he postoperative Therapien, bei denen bestehende Belastungseinschr&auml;nkungen entsprechend den Vorgaben ber&uuml;cksichtigt werden k&ouml;nnen.<sup>21</sup> Ist Vollbelastung wieder m&ouml;glich, kann die R&uuml;ckmeldung der beim Training erzielten Kraftwerte f&uuml;r die Entlastungsreduktion verwendet werden, wodurch die Abh&auml;ngigkeit von Hilfsmitteln fortlaufend reduziert wird.<br /> Mit ihren verschiedenen Analysesystemen, die u.a. Fu&szlig;druckverteilung, Muskelaktivit&auml;t, Gelenkswinkel, -momente und -belastungen, erfassen, tragen Ganglabors wesentlich zum Erreichen vereinbarter Rehabilitationsziele bei. Die Durchf&uuml;hrung von Feedback-Trainings beschleunigt den Lernprozess, hilft den Patienten beim (R&uuml;ck-)Erlernen von Bewegungen und ist ein au&szlig;erordentliches Motivationsinstrument zum Erlernen von Bewegungen oder zum Abtrainieren von Fehlbewegungen. Dar&uuml;ber hinaus k&ouml;nnen Bewegungsmuster analysiert und verstanden werden und die gewonnenen Informationen k&ouml;nnen zur Beurteilung und Anpassung von Interventionen genutzt werden.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Lofter&oslash;d B et al: Acta Orthop 2007; 78(1): 74-80 <strong>2</strong> Briggs MS et al: Phys Ther 2017 [Epub ahead of print] <strong>3</strong> Sutherland DH: Gait Posture 2002; 16(2): 159-79 <strong>4</strong> Roosink M et al: J Neuroeng Rehabil 2015; 12: 2 <strong>5</strong> Kepple TM, Stanhope SJ: Move3D Software. In: Winters JM, Crago PE (Hrsg.): Biomechanics and Neural Control of Posture and Movement. Springer 2000; 659-60 <strong>6</strong> Delp SL et al: IEEE Trans Biomed Eng 2007; 54(11): 1940-50 <strong>7</strong> Rasmussen J et al: Int Congr Biomech - Biomech Man 2002: 270-4 <strong>8</strong> Wang L et al: Pattern Recognit 2003; 36(3): 585-601 <strong>9</strong> Backman DE et al: J Biomech 2017; 51: 118-22 <strong>10</strong> Ramanathan AK et al: Foot Ankle Surg 2010; 16(2): 70-3 <strong>11</strong> Sutherland DH: Gait Posture 2001; 14(1): 61-70 <strong>12</strong> Franceschi M et al: IEEE Trans Haptics 2016; doi: 10.1109/TOH.2016.2618377 <strong>13</strong> Sutherland DH: Gait Posture 2005; 21(4): 447-61 <strong>14</strong> Moeslund TB et al: Comput Vis Image Underst 2006; 104(2-3): 90-126 <strong>15</strong> Zhang X et al: Proc Inst Mech Eng H 2015; 229(7): 477-90 <strong>16</strong> Bouffard V et al: World J Orthop 2012; 3(8): 131-6 <strong>17</strong> Conrad L, Bleck EE: Dev Med Child Neurol 1980; 22(6): 713-8 <strong>18</strong> Leving MT et al: PLoS One 2015; 10(5): e0127311 <strong>19</strong> Gottshall KR, Sessoms PH: Front Syst Neurosci 2015; 9: 106 <strong>20</strong> Meng L et al: Proc Inst Mech Eng H 2017; 231(4): 315-25 <strong>21</strong> Sardini E et al: IEEE Trans Instrum Meas 2015; 64(12): 3369-79</p> </div> </p>
Back to top