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Einsatzmöglichkeiten eines Ganglabors in der orthopädischen Rehabilitation
Jatros
Autor:
Mag. Harald Penasso
Klinikum Theresienhof, Frohnleiten<br> E-Mail: penasso@theresienhof.at
Autor:
David Moser, BSc
Autor:
Mag. Mario Opresnik
Autor:
Prim. Univ.-Doz. Dr. Klaus Engelke
30
Min. Lesezeit
13.07.2017
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<p class="article-intro">Modern ausgerüstete Ganglabors sind in der Lage, wesentliche Kenngrößen der Bewegung zu erheben, die mit freiem Auge nicht zu erkennen sind. Diese Daten dienen dazu, Ärzte und Therapeuten in ihren Aufgaben zu unterstützen, wodurch Rehabilitations-, Therapie- und – in Spezialfällen – auch Operationsziele bestmöglich umgesetzt werden sollen.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die gleichzeitige Dokumentation von Krankheitsverläufen und Behandlungen ermöglicht gezielte Adaptierungen in der Planung und Durchführung von Therapiemaßnahmen. Analysen objektiv erfasster Daten können Hinweise auf Ursache- Wirkungs-Beziehungen sichtbar machen.<sup>1</sup> Dabei besteht die Leistungsfähigkeit apparativ gestützter Ganglabors darin, objektive Kennwerte zu liefern, die z.B. durch Sichtanalysen nicht reliabel erfasst werden können. Die hier eingesetzten modernen Messverfahren ermöglichen Analysen von Bewegungen nicht nur in Ruhe, sondern auch während des gesamten dynamischen Bewegungsablaufs.<sup>2</sup> Im Idealfall dienen die gewonnenen Informationen dazu, Intensität, Umfang und Dichte der Interventionen im Rahmen der medizinischen Trainingstherapie auf die Bedürfnisse der Patienten abzustimmen.<sup>3</sup> Ebenso wichtig für eine erfolgreiche Rehabilitation ist die Motivation der Patienten, die sich bei entsprechender Kommunikation steigern lässt, z.B. durch das Erreichen messbarer, nachvollziehbarer Zwischenziele (z.B. Steigerung der Schrittlänge).<sup>4</sup><br /> Mit den modernen technischen Möglichkeiten in unserem Ganglabor kann die menschliche Bewegung mittels Motion- Capture-Verfahren exakt erfasst werden. Biomechanische Modelle verarbeiten die erhaltenen Trajektorien der Körperteile und erlauben invers dynamische Analysen (z.B. C-MotionVisual 3D<sup>5</sup>) oder Bewegungssimulationen, die u.a. die mechanische Funktion der Muskulatur berücksichtigen (z.B. OpenSim<sup>6</sup>, AnyBody™<sup>7</sup>). Somit lassen sich Drehmomente bzw. Gelenkbelastungen abschätzen, die im Inneren des Körpers liegen und ohne Modellierung dem menschlichen Auge prinzipiell verborgen sind.</p> <h2>Das Ganglabor im Rehabilitationsprozess</h2> <p>Um die Einsatzmöglichkeiten eines Ganglabors bestmöglich zu nutzen, sollte dieses möglichst früh in den Rehabilitationsprozess eingebunden werden. Nach Erstaufnahme und Anamnese durch Ärzte und Physiotherapeuten erlaubt der Erstbefund des Ganglabors die erste detaillierte Beurteilung des Gangbildes, für die schnell einsetzbare und aussagekräftige Systeme herangezogen werden. Die dabei generierten Informationen beeinflussen den weiteren Rehabilitationsablauf maßgeblich, da sich somit orthopädietechnische, physiotherapeutische und sportwissenschaftliche Maßnahmen gezielt auf die Bedürfnisse der Patienten abstimmen lassen. Entsprechend werden Einlagen- und Orthesenversorgungen, apparativ gestützte Trainingseinheiten im Ganglabor (z.B. Feedback-Training) und/oder detailliertere Analysen bei speziellen Fragestellungen in die Wege geleitet. Darüber hinaus werden Trainingsziele für Physiotherapie und Gangtraining formuliert und kommuniziert. Das Ganglabor ist daher ein wesentlicher Bestandteil des Rehabilitationsprozesses und dient routinemäßig als Knotenpunkt und Anlaufstelle für die verschiedenen Fachbereiche.</p> <h2>Analytische Methoden im Ganglabor</h2> <p>Die Messmethoden der Biomechanik sind prinzipiell in kinematische und kinetische Verfahren zu unterteilen. Diese werden oft durch Elektromyografie zur tiefer gehenden Analyse unterstützt.<br /> Idealerweise erfassen kinematische Methoden die Bewegung des Körpers und seiner Segmente im dreidimensionalen Raum (Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung). Die eingesetzten Motion-Capture- Analysesysteme beziehen ihre Daten entweder aus 3D-Rekonstruktionen von zweidimensionalen Bildern mehrerer zusammenkalibrierter Kameras (z.B. Vicon, Qualisys) oder direkt aus an den Extremitäten angebrachten Trägheitssensoren (IMU, Inertial Measurement Unit), die nach Kalibrierung ihre räumliche Lage zueinander und zum Erdschwerefeld erkennen (z.B. Xsens, Delsys<sup>®</sup> Triango™). Die Extraktion von Lagedaten aus Kamerabildern kann durch Verfahren wie Silhouetten- Tracking<sup>8</sup> oder Tracking von passiven (reflektieren Signal) oder aktiven (emittieren Signal) Markern erfolgen. Dafür kommen Standardkameras, aber auch andere mit speziellen Sensoren/Filtern ausgerüstete Kameras, die z.B. das Infrarotspektrum des Lichts nutzen, infrage.<br /> Die Kinetik erfasst die Ursache von räumlichen Lageänderungen. Diese liegt im Wirken von Kräften, die mittels Dehnmessstreifen, piezoelektrischer Sensoren, Hall-Effekt-Sensoren<sup>9</sup>, Kraft- (z.B. Kistler, AMTI) und Druckmessplatten (Kapazitivund Halbleitersensoren) erfasst werden können. Je nach Sensorkonfiguration werden 1 bis 3 Dimensionen des dreidimensionalen Kraftvektors abgebildet. Kraftmessplatten sind in unserem Ganglabor so konfiguriert, dass sie die korrekte Richtung und Länge des auf die Gelenke wirkenden Bodenreaktionskraftvektors, z.B. im Gehen, mittels piezoelektrischer Sensoren präzise erfassen. Diese Daten lassen sich mit dem Bewegungsanalysesystem synchronisieren und eignen sich daher zur gemeinsamen Verrechnung von kinematischen Daten in biomechanischen Modellen. Somit können u.a. äußere Summen-Gelenksmomente berechnet werden. Der Vorteil von Druckmessplatten liegt in der hohen räumlichen Auflösung in der Sensoren-/ Plattenebene (z.B. Zebris, Pedar<sup>®</sup>). An vielen Punkten wird dabei anhand von kapazitiven oder Leiter-/Halbleitersensoren jeweils eine Kraftkomponente, im Wesentlichen die Vertikalkraft, erfasst.<sup>10</sup> Da die räumliche Anordnung der Sensoren zueinander bekannt ist, lässt sich somit der auf einzelne Bereiche des Fußes wirkende Druck berechnen.<br /> Zusätzlich zu mechanischen Messgrößen gibt die Methode der Elektromyografie Aufschluss über die Stärke der neuronalen Muskelaktivierung. Wird mit zwei oberflächlichen Ableitungen die Potenzialdifferenz zwischen den Elektroden erfasst, handelt es sich beim erhaltenen Signal um das Summenpotenzial aller sich in den darunter liegenden Muskelzellen ausbreitenden Aktionspotenziale.<sup>11</sup> Die aufwendigere Anwendung von Matrixelektroden mit mehreren Ableitungen erlaubt darüber hinausgehend, ähnlich wie beim Elektroenzephalogramm (EEG), eine räumliche Auftrennung des Signals, wodurch auch einzelne Aktionspotenziale erfasst werden können.<sup>12</sup></p> <h2>Anwendung und Relevanz objektiver Messgrößen in der Therapie</h2> <p>Durch wiederkehrende Analysen des dynamischen Bewegungsablaufs kann der Effekt von Therapien bzw. die Wirkungsweise von z.B. Versorgungen wie Orthesen oder Schuheinlagen in Hinblick auf die formulierten Rehabilitationsziele während des Therapieaufenthalts verfolgt und abgeglichen werden. Die Analyse der Fußdruckverteilung kann Druckstellen oder Fußdeformitäten im Stehen und während des Gehens aufzeigen. Diese Daten sind wertvolle Informationen für Ärzte und Therapeuten, die dabei helfen, Einlagenversorgungen und Therapien bestmöglich auf die dynamischen Gegebenheiten der Patienten abzustimmen.<br /> Modellbasierte Analysen, die aufgezeichnete kinetische und kinematische Daten berücksichtigen, geben mittels invers- dynamischer Berechnungsverfahren Auskunft über die individuelle Ausprägungsform von ggf. degenerativen Bewegungsmustern.<sup>13</sup> Die Betrachtung von elektromyografischen Daten zeigt zusätzlich das Aktivierungsmuster der einzelnen Muskeln auf und trägt somit wesentlich dazu bei, Bewegungsanomalien zu verstehen. Durch die gemeinsame Analyse der elektromyografischen und mechanischen Aspekte der Bewegung lässt sich muskuläres und koordinatives Training planen. So kann z.B. ein Beinachsentraining gezielter durchgeführt werden.<sup>14</sup> Fließen diese Daten in Modelle ein, die mittels Modellmuskeln in der Lage sind, auch Muskelkräfte abzuschätzen, erhalten die Therapeuten und Ärzte valide Informationen über die Werte der Gelenksbelastungen.<sup>15</sup><br /> Die daraus erhaltenen Verläufe der Bewegungsparameter, z.B. Knieextensionswinkel, werden auf den Gangzyklus normiert dargestellt. Diese Verläufe können mit Gesunden bzw. mit vor und nach einer Intervention gemessenen Daten verglichen werden. Somit lassen sich Auswirkungen von z.B. korrigierten funktionellen Beinlängendifferenzen oder Neuversorgungen in der Prothetik auf das Gangmuster beurteilen. Für spezielle Fragestellungen ist es auch möglich, wichtige Daten für die Endoprothetik zu generieren, wobei z.B. präoperativ das Zentrum der Hüftgelenkspfanne bestimmt werden kann.<sup>16</sup><br /> Neben der Datenerfassung und Interpretation können im Ganglabor erhobene Parameter auch unmittelbar in die Rehabilitation einfließen. Durch Feedback- Training, das von der einfachen grafischen Darstellung von Messwerten bis hin zur Visualisierung komplexer Berechnungsergebnisse reichen kann, sind die Therapeuten in der Lage, gezieltere Anweisungen zu geben. Die generierten sensorischen Informationen unterstützen die Patienten in der Umsetzung von Bewegungsaufgaben und erlauben eine objektive Kontrolle der Bewegungsqualität. Das Feedback kann dabei akustisch (z.B. Warntöne beim Überschreiten von Gelenkswinkeln, Abspielen einer aus der Bodenreaktionskraft generierten Tonfolge),<sup>17</sup> visuell (z.B. Darstellung von Gelenksmomenten),<sup>18</sup> propriozeptiv (z.B. dynamische Interaktion mit einer gesteuerten beweglichen Plattform)<sup>19</sup> oder durch Muskelstimulation (z.B. gezielte, künstliche Verstärkung der Muskelaktivierung in bestimmten Phasen des Gangzyklus)<sup>20</sup> übermittelt werden. Der Einsatz von Unterarmstützkrücken, die mit Kraftmesssensoren ausgerüstet sind, ermöglicht frühe postoperative Therapien, bei denen bestehende Belastungseinschränkungen entsprechend den Vorgaben berücksichtigt werden können.<sup>21</sup> Ist Vollbelastung wieder möglich, kann die Rückmeldung der beim Training erzielten Kraftwerte für die Entlastungsreduktion verwendet werden, wodurch die Abhängigkeit von Hilfsmitteln fortlaufend reduziert wird.<br /> Mit ihren verschiedenen Analysesystemen, die u.a. Fußdruckverteilung, Muskelaktivität, Gelenkswinkel, -momente und -belastungen, erfassen, tragen Ganglabors wesentlich zum Erreichen vereinbarter Rehabilitationsziele bei. Die Durchführung von Feedback-Trainings beschleunigt den Lernprozess, hilft den Patienten beim (Rück-)Erlernen von Bewegungen und ist ein außerordentliches Motivationsinstrument zum Erlernen von Bewegungen oder zum Abtrainieren von Fehlbewegungen. Darüber hinaus können Bewegungsmuster analysiert und verstanden werden und die gewonnenen Informationen können zur Beurteilung und Anpassung von Interventionen genutzt werden.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Lofterød B et al: Acta Orthop 2007; 78(1): 74-80 <strong>2</strong> Briggs MS et al: Phys Ther 2017 [Epub ahead of print] <strong>3</strong> Sutherland DH: Gait Posture 2002; 16(2): 159-79 <strong>4</strong> Roosink M et al: J Neuroeng Rehabil 2015; 12: 2 <strong>5</strong> Kepple TM, Stanhope SJ: Move3D Software. In: Winters JM, Crago PE (Hrsg.): Biomechanics and Neural Control of Posture and Movement. Springer 2000; 659-60 <strong>6</strong> Delp SL et al: IEEE Trans Biomed Eng 2007; 54(11): 1940-50 <strong>7</strong> Rasmussen J et al: Int Congr Biomech - Biomech Man 2002: 270-4 <strong>8</strong> Wang L et al: Pattern Recognit 2003; 36(3): 585-601 <strong>9</strong> Backman DE et al: J Biomech 2017; 51: 118-22 <strong>10</strong> Ramanathan AK et al: Foot Ankle Surg 2010; 16(2): 70-3 <strong>11</strong> Sutherland DH: Gait Posture 2001; 14(1): 61-70 <strong>12</strong> Franceschi M et al: IEEE Trans Haptics 2016; doi: 10.1109/TOH.2016.2618377 <strong>13</strong> Sutherland DH: Gait Posture 2005; 21(4): 447-61 <strong>14</strong> Moeslund TB et al: Comput Vis Image Underst 2006; 104(2-3): 90-126 <strong>15</strong> Zhang X et al: Proc Inst Mech Eng H 2015; 229(7): 477-90 <strong>16</strong> Bouffard V et al: World J Orthop 2012; 3(8): 131-6 <strong>17</strong> Conrad L, Bleck EE: Dev Med Child Neurol 1980; 22(6): 713-8 <strong>18</strong> Leving MT et al: PLoS One 2015; 10(5): e0127311 <strong>19</strong> Gottshall KR, Sessoms PH: Front Syst Neurosci 2015; 9: 106 <strong>20</strong> Meng L et al: Proc Inst Mech Eng H 2017; 231(4): 315-25 <strong>21</strong> Sardini E et al: IEEE Trans Instrum Meas 2015; 64(12): 3369-79</p>
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