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Das Schädelhirntrauma beim Polytraumatisierten
Jatros
Autor:
Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Johannes Leitgeb
Universitätsklinik für Unfallchirurgie,<br> Medizinische Universität Wien<br> E-Mail: johannes.leitgeb@meduniwien.ac.at
Autor:
Anna Antoni
Universitätsklinik für Unfallchirurgie,<br> Medizinische Universität Wien
Autor:
Thomas Heinz
Universitätsklinik für Unfallchirurgie,<br> Medizinische Universität Wien
30
Min. Lesezeit
11.05.2017
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<p class="article-intro">Das Schädelhirntrauma ist die häufigste Todesursache bei Polytrauma. Die Behandlungsergebnisse des Polytraumas sind bei begleitendem Schädelhirntrauma mit einer erhöhten Mortalität und einer erniedrigten Lebensqualität verbunden. Deshalb ist gerade in Zeiten der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin ein zielgerichtetes Management des Schädelhirntraumas bei Polytrauma notwendig.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Prioritätenbezogene Diagnostik und Therapie sowie Vermeidung einer Hypotension unter Einhaltung der Prinzipien der „damage control surgery“ müssen sichergestellt werden, um einen sekundären Hirnschaden zu vermeiden.</li> <li>In Anbetracht des Zeitfaktors und der Ressourcen wird wahrscheinlich auch in Zukunft eine operative Versorgung eines schweren SHT durch zeitnah verfügbare Unfallchirurgen Realität bleiben, um den derzeitigen hohen Standard der neurotraumatologischen Akutversorgung aufrechtzuerhalten.</li> <li>Auf dieser Grundlage sollte für eine adäquate Ausbildung zukünftiger Fachärzte gesorgt werden. Von den Verantwortlichen in Politik und Standesvertretung sollten hierfür auch die Voraussetzungen gesichert werden.</li> </ul> </div> <h2>Epidemiologie</h2> <p>Das Schädelhirntrauma (SHT) ist für bis zu 70 % der Todesfälle bei Polytrauma verantwortlich und damit die Haupttodesursache, gefolgt vom hämorrhagischen Schock. Die Letalität bei Polytrauma mit einem Injury Severity Score (ISS) ab 16 liegt international zwischen 18 und 23 % . Ungefähr 60 % der Polytraumatisierten erleiden ein schweres SHT mit einer Letalität von 46 % . Damit liegt die Letalität bei schwerem SHT im Rahmen des Polytraumas deutlich über der Letalität des isolierten schweren SHT mit ungefähr 30 % .<br /> Eine Untersuchung aller polytraumatisierten Patienten an der Universitätsklinik für Unfallchirurgie der Medizinischen Universität Wien hat für den Zeitraum von 1992 bis 2006 einen Anteil von 56 % mit schwerem SHT ergeben. Polytraumatisierte mit SHT hatten einen höheren mittleren ISS von 36,7 gegenüber 31,7 bei Polytrauma ohne SHT und eine fast doppelt so hohe Letalität (35,2 % vs. 18,9 % ).<br /> Es gibt zahlreiche Definitionen für die Einteilung der Schweregrade eines SHT (Tab. 1). Meist erfolgt sie nach klinischen Kriterien, gemessen an der Glasgow Coma Scale (GCS), oder nach Vorhandensein und Ausprägungsgrad morphologischer Schäden nach der Abbreviated Injury Scale (AIS) in drei Schweregrade. Die Einteilung ist keine starre, da es auch verzögert zu klinischer und radiologischer Befundverschlechterung kommen kann. Bei Einnahme von Antikoagulanzien oder Thrombozytenaggregationhemmern kann sich die Ausprägung des SHT bei Patienten erst spät zeigen oder nach einem Bagatelltrauma entwickeln. Die GCS zur Beurteilung eines SHT ist klinisch etabliert, muss jedoch gerade bei Polytrauma kritisch beurteilt werden, da sie keinen direkten Rückschluss auf die Ursache der Bewusstseinseinschränkung gibt.<br /> Die Behandlungsergebnisse bei Polytrauma mit SHT sind deutlich schlechter als die bei Polytrauma ohne begleitendes SHT. Gross et al zeigten, dass für 71 % der überlebenden Polytraumapatienten mit schwerem SHT selbstständiges Leben möglich war, im Vergleich zu 95 % der überlebenden Polytraumapatienten ohne SHT.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s32_tab1.jpg" alt="" width="686" height="1304" /></p> <h2>Sekundäre Schäden vermeiden</h2> <p>Therapieziele bei Schwerstverletzten mit SHT dienen der Vermeidung sekundärer Schäden durch zerebrale Hypoperfusion mit Verschlechterung der primären Schäden und Ausbildung eines Hirnödems. Hypotonie beeinflusst die Letalität des SHT bei Polytrauma maßgeblich, mit einer Verdoppelung der Mortalität durch eine einzige Episode von systolischem Blutdruck unter 90mmHg. Weiters beeinflusst Hypoxie das Behandlungsergebnis negativ, weshalb eine Sauerstoffsättigung >90 % und Sauerstoffpartialdruckwerte >60mmHg empfohlen werden. Ein direkter Einfluss extrakranieller Verletzungen auf das schwere SHT konnte bisher nicht nachgewiesen werden.<br /> Neben dem Blutdruck als wichtigstem Kennwert soll ein kranieller Perfusionsdruck (CPP) >70mmHg angestrebt werden (CPP = mittlerer arterieller Druck – intrakranieller Druck). Für den systemischen Blutdruck muss ein Mittelweg gewählt werden, da auch Hypertonie zu einer Volumenzunahme intrakranieller Blutungen führen kann. Weiters müssen immer eine Gerinnungsoptimierung und/ oder Antidotgabe bei prädisponierenden Grunderkrankungen und bekannter Antikoagulation oder Thrombozytenaggregationshemmung in Betracht gezogen werden.</p> <h2>Faktor Zeit</h2> <p>Zur Verhinderung eines sekundären Hirnschadens und erhöhter Mortalität soll ein Zeitverlust bis zur operativen Versorgung vermieden werden. Hier kann nach derzeitiger Studienlage eine Grenze von 4 Stunden als kritische Marke der Zeit zwischen Unfall und operativer Versorgung angegeben werden. Daher empfehlen zahlreiche Guidelines eine Vermeidung von zeitaufwendigen Transporten und einen direkten Transport in eine Versorgungseinheit mit neurotraumatologischer Kompetenz.<br /> Im Rahmen der Akutversorgung herrscht das Prinzip „Treat first what kills first“, weshalb die Durchführung eines Schädel-CT und gegebenenfalls neurotraumatologische Intervention erst nach der Sicherung und Stabilisierung der Vitalfunktionen erfolgen sollten. Die Kenntnis der „damage control surgery“ und damit der Indikationsstellung für neurotraumatologische Operationen unter Miteinbeziehung der Prognose ist hierbei essenziell.</p> <h2>Versorgungsstrategien</h2> <p>Zahlreiche Studien beschreiben herrschende Versorgungsengpässe durch einen Mangel an Neurochirurgen. International wird deshalb Neurotraumatologie auch von anderen Fachdisziplinen als der Neurochirurgie durchgeführt. Rezente Studien aus Europa, Asien und Australien konnten vergleichbare Ergebnisse für die operative Versorgung durch andere Fachdisziplinen als die Neurochirurgie zeigen. Die Guidelines der Neurosurgical Society of Australasia empfehlen für das Management des Neurotraumas in ländlichen Regionen daher beispielsweise die operative Versorgung durch alternative Fachärzte, wenn eine Zeitverzögerung von mehr als zwei Stunden bis zu einer Versorgung durch Neurochirurgen absehbar ist. Auch eine schwedische Untersuchung kam zu dem Schluss, dass man neurotraumatologische Operationen, welche aufgrund von erwarteten langen Transportzeiten verzögert würden, durch Allgemeinchirurgen durchführen lassen sollte. Die einzige prospektiv-vergleichende Studie über die operative Versorgung des SHT durch Unfallchirurgen und Neurochirurgen wurde durch die International Neurotrauma Research Organization (INRO) von Leitgeb et al in der Slowakei, Kroatien und Österreich durchgeführt. Bei dieser multizentrischen Studie wurden die Ergebnisse nach Kraniotomien durch Unfall- und Neurochirurgen bei isolierten schweren SHT verglichen. Hierbei zeigten sich keine signifikanten Unterschiede in der Mortalität. Auffallend war das schlechtere Ergebnis, gemessen an der Glasgow Outcome Scale, in der neurochirurgisch versorgten Gruppe, wobei diese Patienten eine höhere Verletzungsschwere aufgewiesen hatten. Postoperative Nachblutungen waren in der Gruppe der unfallchirurgisch versorgten Patienten etwas höher, jedoch wirkten sich diese nicht signifikant auf die Mortalität aus. Insgesamt zeigte die Studie also vergleichbare Ergebnisse bei unfallchirurgisch und neurochirurgisch versorgten SHT.<br /> Es ist zu erwarten, dass die vielerorts bereits bestehenden Versorgungsengpässe durch Fachärztemangel bei Einsparungen in Gesundheits- und Sozialsystemen auch in Mitteleuropa bevorstehen. In Österreich gibt es derzeit 65 unfallchirurgische und 11 neurochirurgische Abteilungen. Dabei besteht ein Verhältnis von ungefähr 1600 unfallchirurgischen Fachärzten zu ungefähr 190 neurochirurgischen. Im Jahr 2000 zeigte eine Studie von Drobetz et al, dass in Österreich 82 % der Patienten mit schwerem SHT von Unfallchirurgen versorgt worden waren. Eine durch die Autoren 2016 in Österreich durchgeführte telefonische Umfrage hat ergeben, dass nur noch 48 % der 65 unfallchirurgischen Abteilungen das schwere SHT auch operativ versorgen. Von diesen Abteilungen gaben 12 % an, nur im Notfall selbstständig zu operieren. Die Zahl der österreichischen unfallchirurgischen Abteilungen, die das schwere SHT routinemäßig operativ versorgen, ist damit mehr als halbiert im Vergleich zum Jahr 2000. Weiters gab der Großteil der Abteilungen, die das schwere SHT nicht operieren, an, auch bei mittelschwerem SHT angebundene neurochirurgische Abteilungen teleradiologisch zu konsultieren. Damit zeigt sich auch in Österreich der international vorherrschende Trend zu interdisziplinärem Management von SHT. Erstaunlich ist hierbei, dass parallel zu den österreichischen Entwicklungen mit zunehmender Spezialisierung in den USA auf dem Boden eines Fachärztemangels die neue Fachdisziplin „Acute Care Surgery“ entstanden ist, welche allgemeinchirurgische und unfallchirurgische Akutversorgung abdeckt. In den USA wird derzeit darüber diskutiert, ob Acute Care Surgery auch operative Neurotraumatologie einschließen soll.</p> <h2>Eine Frage der Ausbildung</h2> <p>Die Ausbildungsordnung des neuen Faches „Orthopädie und Traumatologie“ sieht in erster Linie die Versorgung des Bewegungsapparates vor und beinhaltet darüber hinaus nur noch „allfällige interdisziplinäre Behandlung von Neurotraumata“ mit einer Richtzahl von 10. Damit ist die Ausbildung für eine operative Versorgung eines SHT im Ausbildungskatalog nicht mehr gesichert. Auch die „interdisziplinäre Behandlung von Neurotraumata“ ist allein denjenigen Kollegen vorbehalten, die sich für das Traumatologie-Modul entscheiden. Damit sind eventuelle Versorgungsengpässe für das schwere SHT zukünftig nicht auszuschließen, da die facharztspezifische Aufteilung des Versorgungsauftrages bislang nicht eindeutig festgelegt worden ist.</p></p>