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Compliance-Problem Osteoporosetherapie: Treat or do not treat!
Jatros
Autor:
Dir. Prim. Priv.-Doz. Dr. Peter Peichl, MSc
Vorstand der internen Abteilungen und ärztlicher Direktor im Evangelischen Krankenhaus Wien<br> E-Mail: p.peichl@ekhwien.at
30
Min. Lesezeit
14.02.2019
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<p class="article-intro">Die epidemiologische Bedeutung von osteoporosebedingten Frakturen von Wirbelkörpern und im Schenkelhalsbereich ist heutzutage unbestritten. Bedingt durch die Zunahme der Lebenserwartung und die Geriatrisierung der Bevölkerungspyramide zeigte sich in den letzten Jahren eine progrediente Zunahme der Inzidenz von osteoporoserelevanten Frakturen. Die volkswirkschaftlichen Folgen sind nicht nur im sozialmedizinischen Bereich enorm. Osteoporose und frakturbedingte Krankenhausaufenthalte sind wesentliche Kostenfaktoren in unserem Gesundheitssystem.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Bei der Osteoporose kommt es neben einem beschleunigten Knochenmasseverlust mit oft mehr als 10 % pro Jahr auch zu strukturellen Veränderungen des Knochengerüstes. Es kommt zu einer Rarefizierung und Vergröberung der Knochenstruktur. Die Mikroarchitektur des Knochens geht unwiderruflich verloren. In weiterer Folge kommt es zum gehäuften Auftreten von Frakturen, vor allem an der Wirbelsäule und im Schenkelhalsbereich. Die häufigsten Frakturereignisse treffen Patienten in der 7. und 8. Lebensdekade und führen zu einer deutlich erhöhten frakturbedingten Mortalität und zu Einschränkungen der Lebensqualität bis hin zur kompletten Hilfsbedürftigkeit und Pflegeheimeinweisung. 42 % aller Frauen ab dem 65. Lebensjahr sind hievon betroffen, aber auch Männer zeigen eine steigende Tendenz von Wirbelkörper- und Schenkelhalsfrakturen. Gemäß einer Studie verursacht die Erkrankung allein in Europa jährlich direkte Kosten in der Höhe von 31,7 Milliarden Euro. Legt man der Erkrankung eine Prävalenz von 30 % zugrunde, sind in Österreich etwa 470 000 Frauen über 50 Jahre gefährdet, eine Osteoporose zu entwickeln.<br /> Obwohl oben beschriebene Problemstellungen allgemein bekannt sind, stellen Therapieindikation, Compliance und die Therapieadhärenz ein enormes Problem dar. Aber nicht nur von Patientenseite, sondern oftmals auch von ärztlicher Seite wird vor allem die präventive frakturvermeidende Therapie vernachlässigt und deren Notwendigkeit unterschätzt. Obwohl nach einem eingetretenen Frakturereignis das Risiko, innerhalb eines Jahres ein neuerliches Frakturereignis zu erleiden, bis um das 8-Fache gesteigert ist, wird häufig auf eine Basistherapie mit Kalzium und Vitamin D sowie eine spezifische Therapie zur Reduktion weiterer Frakturereignisse vergessen. Die sozialmedizinischen Auswirkungen der unmittelbaren und mittelbaren Folgen von osteoporosebedingten Frakturen werden oft sträflich unterschätzt. Von der Prävention bis zur akuten spezifischen Therapie ist ein sehr differenziertes Wissen um die therapeutischen Möglichkeiten Voraussetzung.<br /> Eine Basisdiagnostik wird empfohlen, wenn das geschätzte 10-Jahres-Risiko für Wirbelkörperfrakturen und proximale Femurfrakturen 20 % übersteigt, oder bei unmittelbaren therapeutischen oder diagnostischen Konsequenzen, sofern das Risiko aktuell besteht oder bis vor weniger als 1–2 Jahren bestand.<br /> Die Therapie der Osteoporose muss zwei Ebenen betreffen:</p> <ol> <li>die Therapie in relativ jungen Jahren, die zu einer Verhinderung der Zerstörung der strukturellen Knochenstruktur führt und</li> <li>die Therapie vor allem im höheren Alter, die sich um die Folgen der Osteoporose kümmert und sich in der Vermeidung von Stürzen und in der Reduktion von weiteren Frakturen widerspiegelt.</li> </ol> <p>So gibt es für jede Altersdekade eine optimale Therapieform. Die Auswahl obliegt im Wesentlichen einem geschulten Osteologen, der unter Zuhilfenahme der Knochendichtemessung und der osteologisch relevanten Blutparameter zusammen mit der klinischen Untersuchung und der entsprechenden Anamnese die richtige Therapieform findet. Grundlage und Voraussetzung für jedwede spezifische medikamentöse Osteoporosetherapie sind:</p> <ol> <li>eine ausreichende Vitamin-D3-Zufuhr (400 bis 2000 IE/Tag, alternativ 1x/ Woche 40ggt Vit D<sub>3</sub> oder Vit D<sub>3</sub>K2). Die jahreszeitliche Messung des Vitamin-DSpiegels, vorzugsweise in den Wintermonaten, liefert Hinweise auf die erforderlichen Einheiten. Spiegel über 30ng/ml sollten auf jeden Fall erreicht werden.</li> <li>eine ausreichende Versorgung mit Kalzium oral (additiv 500–1000mg/Tag je nach alimentärer Situation).</li> </ol> <p>Vitamin D und Kalzium alleine genügen nicht, um eine manifeste Osteoporose zu behandeln!</p> <h2>Multimorbidität</h2> <p>Patienten, die an mehr als zwei Erkrankungen gleichzeitig leiden, sind eine große medizinische Herausforderung. Eine besondere Problemstellung durch Multimorbidität ergibt sich für die Osteoporosetherapie. Mit zunehmendem Alter steigen die Zahl der Erkrankungen und daher auch oft die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie. Nicht weniger als sieben Pillen nehmen über 75-Jährige durchschnittlich pro Tag ein. Laut der Berliner Altenstudie ist dabei aber nur ein Drittel der Senioren therapeutisch richtig eingestellt. Ein gutes Drittel ist medikamentös unter-, ein weiteres Drittel überversorgt. Gerade Letztere gehen damit aber ein erhebliches Risiko ein: Einerseits weisen zahlreiche Arzneimittelgruppen, welche von Senioren besonders häufig konsumiert werden, vielfältige Nebenwirkungen und auch Wechselwirkungen mit anderen Pillen auf. Andererseits sind beim älteren Menschen viele physiologische Kapazitäten reduziert, was die Wirkungsweise der Pillen zusätzlich beeinflusst.</p> <h2>Die größten Risken</h2> <p>Falsch eingenommene oder falsch kombinierte Präparate lassen nicht nur die Gefahr für schwere Stürze deutlich steigen, sie können auch auf andere Weise zur erheblichen Verminderung der Lebensqualität führen: So steigt etwa die Verwirrtheit bisweilen deutlich an. Morbus Parkinson, Harninkontinenz oder schwere Stuhlverstopfungen können gefördert werden, ganz zu schweigen von Bauchweh, starker Müdigkeit und allgemeiner Unlust.</p> <h2>Die häufigsten Fallstricke</h2> <p>Wo wirkt sich unkontrollierter Arzneimittelkonsum am stärksten aus? Speziell Blutdruckmittel, Medikamente gegen hohen Blutzucker, Beruhigungs- und Schlafmittel sowie Schmerz- und Rheumapräparate haben beim älteren Menschen oft erhebliche Wechsel- und Nebenwirkungen. Hauptfehler sind einerseits die Einnahme „falscher“ Arzneimittel (zweifelhaft wirksame Substanzen, nicht sinnvoll kombinierte Präparate), andererseits die falsche Anwendung (richtiges Präparat, falsche Dosierung und Einnahmedauer). Dosierungsempfehlungen auf Beipackzetteln sind nämlich für ältere Menschen nicht immer zutreffend. Beipackzettel orientieren sich üblicherweise an einem „Normmenschen“. Wichtig ist jedoch die individuelle körperliche Verfassung eines Patienten, und die kann am besten ein kompetenter Arzt beurteilen. Dieser kann nicht nur den richtigen Behandlungs- und Dosierungsplan aufstellen, sondern auch über potenzielle Nebenwirkungen und ihre Bewertung aufklären.</p> <h2>Warum weniger oft mehr ist</h2> <p>Ziel muss die Optimierung der Lebensqualität sein. Man kann nicht alles gleichzeitig behandeln, sondern muss sich bei Multimorbidität des Patienten als verantwortungsbewusster Arzt die Frage stellen: Was braucht der Patient am dringendsten, was fallweise und worauf kann und sollte er sogar verzichten?</p> <h2>Individuelle risikobezogene Osteoporosetherapieindikation</h2> <p>Der vor Kurzem erstmals vorgestellte neue WHO-Risiko-Score bedeutet nun eine Abkehr vom reinen T-Score-Pragmatismus der Knochendichte hin zum individuellen „case-finding“. Als Entscheidungsgrundlage für eine therapeutische Intervention wird demnach in Zukunft das individuelle absolute 10-Jahres-Frakturrisiko einer Person herangezogen werden. Dieses errechnet sich einerseits aus dem Knochendichtemessergebnis, andererseits aber auch aus dem Vorliegen oder Nichtvorliegen weiterer Frakturisikofaktoren (Tab. 1).</p> <h2>Schlussbemerkung</h2> <p>Die Osteoporose ist gerade im obigen Kontext oft nur eine Nebendiagnose, aber mit schwerwiegenden Folgen. Erst nach einem Frakturereignis bekommt die spezifische Therapie Relevanz. Neben einer kritischen Hinterfragung der medikamentösen Therapie hinsichtlich Sturzrisiko, Frakturprävention durch Wohnungssanierungsmaßnahmen und Verbesserung der muskulären Koordination und Funktion sind vor allem neue nebenwirkungsarme und in ihrer Applikationsform lang wirksame Medikamente zu bevorzugen. Das Ziel der Behandlung einer manifesten Osteoporose besteht in der weiteren Frakturverhinderung über eine Verbesserung der Knochenqualität, einer adäquaten Schmerzbehandlung sowie der Rehabilitation, um eine altersgemäße soziale Reintegration zu ermöglichen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Ortho_1901_Weblinks_jatros_ortho_1901_s28_abb1-4.jpg" alt="" width="1420" height="1588" /></p></p>
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<p>beim Verfasser</p>
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