
Biomechanische Laufanalyse
Leading Opinions
Autor:
Dr. Tobias Hein
Analyz3d by Dr. Tobias Hein, Basel<br> E-Mail: tobias.hein@analyz3d.ch
30
Min. Lesezeit
07.03.2019
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<p class="article-intro">Auffälligkeiten im Bewegungsablauf haben einen Einfluss auf die Entstehung von Überlastungsbeschwerden, die Laufökonomie und somit auf die individuelle Laufleistung. Die 3D-Laufanalyse ermöglicht einen einzigartigen Einblick in die Biomechanik des kompletten Bewegungsapparates und liefert wichtige Informationen für Sportler, Physiotherapeuten oder Ärzte.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Zur Verbesserung der Lauftechnik sowie zur Prävention und Therapie von Überlastungsbeschwerden ist eine 3D-Laufanalyse zwingend notwendig.</li> <li>3D-Laufanalysen bilden die Komplexität und Interaktionen der Gelenkbewegungen des Bewegungsapparates ab.</li> <li>Zusätzlich sollten Einschränkungen in Beweglichkeit und Kraftfähigkeit identifiziert werden, um Auffälligkeiten im Bewegungsablauf zu erklären.</li> <li>Neuerdings stehen Breitensportlern spezialisierte Bewegungslabore zur Verfügung, die unabhängige 3D-Laufanalysen in Kombination mit klinisch- funktionellen Untersuchungen anbieten.</li> </ul> </div> <p>In der Schweiz laufen 700 000–800 000 Personen regelmässig, was etwa 10 % der Bevölkerung entspricht. Es ist allgemein bekannt und wissenschaftlich bewiesen, dass Laufen positive Auswirkungen auf den menschlichen Bewegungsapparat und das Herz-Kreislauf-System hat, wie z. B. die Verbesserung des Cholesterinstoffwechsels, die Senkung der Blutfettwerte oder die Reduzierung des Körpergewichtes. Jedoch ist das Laufen oftmals mit Verletzungen und Überlastungsbeschwerden behaftet, wodurch es zu Trainingsreduktionen, Motivationseinbussen oder gar Trainingsabbrüchen kommen kann. Trotz jahrzehntelanger klinisch- biomechanischer Forschung konnte bis dato die Zahl der jährlichen Überlastungsbeschwerden nicht reduziert werden. Studien zeigen, dass jährlich etwa ein Drittel aller Läufer an einer Überlastungsbeschwerde vor allem an der unteren Extremität leidet.<br /> Ursachen und Entstehungsmechanismen von Überlastungsbeschwerden sind zwar bekannt und identifizierbar, setzen sich aber verletzungsspezifisch und individuell aus klinischen, biomechanischen und trainingsbedingten Risikofaktoren zusammen. Bewegungseinschränkungen von Hüft-, Knie- oder Sprunggelenken sowie eine verminderte muskuläre Dehnfähigkeit gehören zu den klinischen Faktoren. Zu den biomechanischen Risikofaktoren zählen unter anderem die Instabilität des Sprunggelenks (Überpronation), hohe Aufprallkräfte sowie Beinachsen- und Beckeninstabilität. Trainingsspezifische Veränderungen, wie eine zu schnelle Steigerung der Laufumfänge oder eine veränderte Streckenführung, gelten als finaler Auslöser einer Überlastungsbeschwerde. Zudem erhöhen ein Trainingspensum von über 60 km die Woche und eine vorangegangene Überlastungsbeschwerde das Risiko einer (erneuten) Beschwerde signifikant.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_lo_ortho_1901_s10_abb1.jpg" alt="" width="800" height="372" /></p> <h2>Grundlagen des Laufens</h2> <p>Zur Charakterisierung eines Laufschrittes unterscheidet man zwischen Standoder Stützphase und Schwungphase. Des Weiteren lässt sich die Standphase in eine Lastaufnahme- und eine Abdruckphase einteilen. Die Lastaufnahmephase beginnt direkt mit dem ersten Bodenkontakt, der über den Rück-, Mittel- oder Vorfuss erfolgen kann. Sie dient der passiven Stossdämpfung und somit der Kompensation der Aufprallkräfte – distal beginnend mit der Pronation (Nach-innen-Kippen des Fersenbeins) und Dorsalextension des Sprunggelenks, gefolgt von einer Schienbein- Innenrotation, Knieflexion sowie Hüftadduktion und Hüftextension. Die Lastaufnahmephase entspricht dabei etwa 50 % der gesamten Standphase, während der der Körperschwerpunkt absinkt. Dabei hat der Fuss kurz nach dem Aufsetzen vollständigen Kontakt zum Boden und beginnt nach vorne abzurollen. Mit Verlassen der Ferse beginnt der aktive zweite Teil der Standphase, die Abdruckphase. Hierbei wird der Körperschwerpunkt durch den Abdruck über den Vorfuss, die Plantarflexion im Sprunggelenk sowie Knie- und Hüftextension nach oben bewegt, bevor der Fuss den Boden verlässt. Die darauffolgende Schwungphase lässt sich ebenso in verschiedene Phasen einteilen, die allerdings für die verletzungspräventive Laufanalyse nicht sonderlich von Interesse sind. In Bezug auf die Laufökonomie ist es dennoch wichtig zu sehen, wie sich der Fuss während der frühen Schwungphase vom Boden löst und in der mittleren Schwungphase nach vorne geführt wird. Die späte Schwungphase, in der sich der Fuss wieder in Richtung Boden bewegt, beschreibt dabei den letzten Teil der Schwungphase.</p> <h2>Technische Umsetzung</h2> <p>Die Kinematik, also die Bewegung der Gelenke und Körperteile, kann mittels Videosystem aufgenommen und ausgewertet werden. Es werden zwei Methoden zur kinematischen Analyse der Lauftechnik eingesetzt: 2D-Hochgeschwindigkeitskameras und 3D-Bewegungsanalysesysteme.<br /> 2D-Systeme ermöglichen eine rein visuelle Analyse der Bewegung. Bei qualifizierter Anwendung ermöglichen sie die Identifikation von groben Auffälligkeiten oder Asymmetrien im Bewegungsablauf. Es wird lediglich eine Bewegungsebene abgebildet, wobei es zu optischen Verzerrungen und folglich zu Fehlinterpretationen kommen kann. Zudem unterliegt die Interpretation der Aufzeichnungen dem subjektiven Empfinden des Untersuchers, weshalb dessen Erfahrung von grosser Bedeutung ist. Derartige 2D-Analysen werden zumeist in Laufshops oder Physiopraxen angeboten.<br /> Um die gesamte Tiefe, Komplexität und Interaktionen der Gelenkbewegungen abzubilden und diese in Bezug zu möglichen Entstehungsmechanismen von Überlastungsbeschwerden zu bringen, sind 3D-Analysen absolut notwendig. So ermöglicht die 3D-Technologie die detaillierte Untersuchung aller drei Bewegungsebenen (sagittal: Flexion und Extension; frontal: Abduktion und Adduktion; transversal: Innen- und Aussenrotation).<br /> Ein 3D-System besteht aus 6 bis 12 infrarotbasierten Kameras und einem Computer mit entsprechender Software, welche die zweidimensionalen Informationen in einen dreidimensionalen Datenraum konvertiert. Die Sportler werden hierfür mit Reflexmarkern ausgestattet, die an vorbestimmten anatomischen Landmarken befestigt werden und während des Laufens das ausgesendete infrarote Licht reflektieren. Dadurch werden die Bewegungen der einzelnen Körperteile in Relation zur Umwelt, aber auch in Relation zu den Nachbarsegmenten berechnet. Die Auswertung ist sehr aufwendig, erlaubt aber quantitative Analysen bei einer hohen Reproduzierbarkeit. Die Berechnung der Daten ist unabhängig von der subjektiven Einschätzung des Untersuchers. Jedoch ist für die Interpretation der komplexen Daten und biomechanischen Kopplungsmechanismen eine enorme Erfahrung nötig (siehe beispielhaft Abb. 2). Durch die Quantifizierung der Daten ist im Gegensatz zur 2D-Analyse die direkte Vergleichbarkeit mit Referenzwerten, früheren Untersuchungen oder zwischen verschiedenen Laufgeschwindigkeiten gegeben.<br /> Bisher waren derartige 3D-Bewegungsanalysesysteme aufgrund der hohen Anschaffungskosten sowie der Schwierigkeit der Anwendbarkeit und Interpretierbarkeit meist nur an universitären Einrichtungen verfügbar. Hierbei liegt der Fokus auf wissenschaftlichen Forschungsprojekten oder der Überprüfung medizinisch-therapeutischer Massnahmen (z. B. prä- und postoperative Vergleiche). Neuerdings stehen Breitensportlern auch spezialisierte Bewegungslabore zur Verfügung, die unabhängige 3D-Laufanalysen hinsichtlich der Prävention oder Therapie von Laufverletzungen oder der Verbesserung der Lauftechnik anbieten.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_lo_ortho_1901_s11_abb2.jpg" alt="" width="500" height="989" /></p> <h2>Biomechanische Risikofaktoren</h2> <p>Im Hinblick auf die Entstehung laufspezifischer Überlastungsbeschwerden ist die kinematische Analyse der Standphase, und hierbei vor allem der Lastaufnahmephase, von speziellem Interesse. Durch den Aufprall ist der Körper einer hohen Belastung ausgesetzt und er versucht, diese durch unterschiedliche Mechanismen zu kompensieren.<br /> Die praktische Erfahrung zeigt unterschiedliche Kopplungsmechanismen, die zu Fehlbelastungen und folglich zu Überlastungsbeschwerden führen können. Ein typischer Mechanismus beginnt bereits mit der Pronation. Sind die Strukturen des Fusses und des Sprunggelenkkomplexes nicht stabil genug, ist eine erhöhte Pronation oder Überpronation die Folge (Abb. 3a) und die Ganglinie verschiebt sich medial. Dementsprechend kann sich die Innenrotation des Schienbeins erhöhen (Abb. 3b), wodurch das Kniegelenk unter Belastung nach innen wandert (Abb. 3c). Die daraus entstehenden Zugund Torsionsbelastungen auf Fuss, Achillessehne, Unterschenkel und Knie stellen ein erhöhtes Risiko für eine Überlastungsbeschwerde wie beispielsweise das iliotibiale Bandsyndrom, das Patellaspitzensyndrom, Achillessehnenentzündungen oder Plantarfasziitis dar. Die Fortsetzung dieser Kopplungsmechanismen nach oben ist theoretisch möglich, aber in der Praxis selten zu beobachten. Auslöser dieser dynamischen Instabilität sind oftmals Schwächen oder Dysbalancen der sprunggelenksumgebenden Muskulatur, Koordinationsdefizite oder Über- bzw. Unterbeweglichkeit des Sprunggelenks. In diesem Fall kann gezieltes Stabilisationstraining der sprunggelenksumgebenden wie auch der Oberschenkelmuskulatur oder eine Einlagenversorgung in Kombination mit einem entsprechenden Schuhmodell mittelfristig die Lösung des Problems sein, sei es präventiv oder therapeutisch.<br /> Neben der Überpronation gilt der «mediale Kollaps», eine Kombination aus Becken- und Beinachseninstabilität, als weiterer Risikomechanismus für die Entstehung von Überlastungsbeschwerden. Aufgrund zu schwacher oder unausgeglichener Rumpfmuskulatur kippt das Becken während der Standphase zur gegenseitigen Hüfte ab (Abb. 3e). Die verminderte Kraftfähigkeit des Oberschenkels führt zu einer erhöhten Innenrotation des Oberschenkels sowie zur Adduktion der Hüfte und somit zur Medialisierung des Kniegelenks bzw. zur dynamischen X-Bein-Stellung (Abb. 3c). Im Gegensatz zur Pronation sind hierbei die typischen Beschwerden im Bereich der Hüfte und des Kniegelenks anzufinden. Die distale Fortpflanzung dieser theoretischen Kopplungsmechanismen kann wiederum durch die Praxis nicht belegt werden. Als weitere Ursachen lassen sich die verminderte Hüftbeweglichkeit und die reduzierte Dehnbarkeit der Hüftbeuger nennen, die zu Veränderungen im Laufbild und folglich zu Fehlbelastungen führen können. So ist es immens wichtig, muskuläre Schwächen oder Dysbalancen zu identifizieren und mittels konzentrischen oder gegebenenfalls exzentrischen Krafttrainings gezielt zu beheben.<br /> Somit ist festzuhalten, dass das Kniegelenk höchst anfällig für laufspezifische Verletzungen ist, da beide beschriebenen Risikomechanismen einen Einfluss auf seine Bewegung und Stabilität haben. Es sind meist «abnormale» Bewegungen in der Frontalebene (Hüftadduktion, Pronation, Seitneigung des Oberkörpers) und in der Transversalebene (Rotation Ober- und Unterschenkel, Becken, Oberkörper), die das Risiko einer Überlastungsbeschwerde erhöhen. Bewegungen der Sagittalebene sind vor allem in Bezug auf Lauftechnik und Laufökonomie von Interesse. Aus den genannten Gründen sollten bei einer Laufanalyse alle Bewegungsebenen separat sowie gekoppelt mittels 3D-Videoanalyse betrachtet werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_lo_ortho_1901_s12_abb3.jpg" alt="" width="250" height="491" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>In der Praxis zeigt sich, dass die beste Form der Laufanalyse eine Kombination aus qualitativer 2D-Hochgeschwindigkeitsund quantitativer 3D-Bewegungsanalyse ist. So lassen sich einerseits mittels Highspeed- Video Probleme offen und verständlich für den Sportler erklären. Andererseits ermöglicht die 3D-Technologie einen einzigartigen Einblick in die Biomechanik des kompletten Bewegungsapparates.<br /> Eine klinisch-biomechanische Laufanalyse sollte zudem immer muskuläre Defizite bzw. Dysbalancen sowie Einschränkungen in Beweglichkeit und Dehnfähigkeit individuell identifizieren. Nur so können Auffälligkeiten im Bewegungsablauf, die bereits zu Verletzungen geführt haben oder eventuell in Zukunft zu Verletzungen führen, auf deren Ursachen zurückgeführt werden. Die Unterscheidung zwischen Ursachen und Folgen einer Verletzung steht bei akuten Symptomen nicht im Vordergrund. Vielmehr lassen sich basierend auf den Ergebnissen einer 3D-Laufanalyse spezifische Therapieansätze zur Verbesserung des Bewegungsablaufs und zur Reduzierung der Fehlbelastungen definieren. Auch in Bezug auf die Prävention von Überlastungsbeschwerden oder die Verbesserung der Lauftechnik ist eine 3D-Laufanalyse sowohl für Hobby- als auch für Spitzensportler überaus hilfreich.</p></p>
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