Biomechanische Laufanalyse

<p class="article-intro">Auffälligkeiten im Bewegungsablauf haben einen Einfluss auf die Entstehung von Überlastungsbeschwerden, die Laufökonomie und somit auf die individuelle Laufleistung. Die 3D-Laufanalyse ermöglicht einen einzigartigen Einblick in die Biomechanik des kompletten Bewegungsapparates und liefert wichtige Informationen für Sportler, Physiotherapeuten oder Ärzte.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Zur Verbesserung der Lauftechnik sowie zur Pr&auml;vention und Therapie von &Uuml;berlastungsbeschwerden ist eine 3D-Laufanalyse zwingend notwendig.</li> <li>3D-Laufanalysen bilden die Komplexit&auml;t und Interaktionen der Gelenkbewegungen des Bewegungsapparates ab.</li> <li>Zus&auml;tzlich sollten Einschr&auml;nkungen in Beweglichkeit und Kraftf&auml;higkeit identifiziert werden, um Auff&auml;lligkeiten im Bewegungsablauf zu erkl&auml;ren.</li> <li>Neuerdings stehen Breitensportlern spezialisierte Bewegungslabore zur Verf&uuml;gung, die unabh&auml;ngige 3D-Laufanalysen in Kombination mit klinisch- funktionellen Untersuchungen anbieten.</li> </ul> </div> <p>In der Schweiz laufen 700&nbsp;000&ndash;800&nbsp;000 Personen regelm&auml;ssig, was etwa 10 % der Bev&ouml;lkerung entspricht. Es ist allgemein bekannt und wissenschaftlich bewiesen, dass Laufen positive Auswirkungen auf den menschlichen Bewegungsapparat und das Herz-Kreislauf-System hat, wie z. B. die Verbesserung des Cholesterinstoffwechsels, die Senkung der Blutfettwerte oder die Reduzierung des K&ouml;rpergewichtes. Jedoch ist das Laufen oftmals mit Verletzungen und &Uuml;berlastungsbeschwerden behaftet, wodurch es zu Trainingsreduktionen, Motivationseinbussen oder gar Trainingsabbr&uuml;chen kommen kann. Trotz jahrzehntelanger klinisch- biomechanischer Forschung konnte bis dato die Zahl der j&auml;hrlichen &Uuml;berlastungsbeschwerden nicht reduziert werden. Studien zeigen, dass j&auml;hrlich etwa ein Drittel aller L&auml;ufer an einer &Uuml;berlastungsbeschwerde vor allem an der unteren Extremit&auml;t leidet.<br /> Ursachen und Entstehungsmechanismen von &Uuml;berlastungsbeschwerden sind zwar bekannt und identifizierbar, setzen sich aber verletzungsspezifisch und individuell aus klinischen, biomechanischen und trainingsbedingten Risikofaktoren zusammen. Bewegungseinschr&auml;nkungen von H&uuml;ft-, Knie- oder Sprunggelenken sowie eine verminderte muskul&auml;re Dehnf&auml;higkeit geh&ouml;ren zu den klinischen Faktoren. Zu den biomechanischen Risikofaktoren z&auml;hlen unter anderem die Instabilit&auml;t des Sprunggelenks (&Uuml;berpronation), hohe Aufprallkr&auml;fte sowie Beinachsen- und Beckeninstabilit&auml;t. Trainingsspezifische Ver&auml;nderungen, wie eine zu schnelle Steigerung der Laufumf&auml;nge oder eine ver&auml;nderte Streckenf&uuml;hrung, gelten als finaler Ausl&ouml;ser einer &Uuml;berlastungsbeschwerde. Zudem erh&ouml;hen ein Trainingspensum von &uuml;ber 60 km die Woche und eine vorangegangene &Uuml;berlastungsbeschwerde das Risiko einer (erneuten) Beschwerde signifikant.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_lo_ortho_1901_s10_abb1.jpg" alt="" width="800" height="372" /></p> <h2>Grundlagen des Laufens</h2> <p>Zur Charakterisierung eines Laufschrittes unterscheidet man zwischen Standoder St&uuml;tzphase und Schwungphase. Des Weiteren l&auml;sst sich die Standphase in eine Lastaufnahme- und eine Abdruckphase einteilen. Die Lastaufnahmephase beginnt direkt mit dem ersten Bodenkontakt, der &uuml;ber den R&uuml;ck-, Mittel- oder Vorfuss erfolgen kann. Sie dient der passiven Stossd&auml;mpfung und somit der Kompensation der Aufprallkr&auml;fte &ndash; distal beginnend mit der Pronation (Nach-innen-Kippen des Fersenbeins) und Dorsalextension des Sprunggelenks, gefolgt von einer Schienbein- Innenrotation, Knieflexion sowie H&uuml;ftadduktion und H&uuml;ftextension. Die Lastaufnahmephase entspricht dabei etwa 50 % der gesamten Standphase, w&auml;hrend der der K&ouml;rperschwerpunkt absinkt. Dabei hat der Fuss kurz nach dem Aufsetzen vollst&auml;ndigen Kontakt zum Boden und beginnt nach vorne abzurollen. Mit Verlassen der Ferse beginnt der aktive zweite Teil der Standphase, die Abdruckphase. Hierbei wird der K&ouml;rperschwerpunkt durch den Abdruck &uuml;ber den Vorfuss, die Plantarflexion im Sprunggelenk sowie Knie- und H&uuml;ftextension nach oben bewegt, bevor der Fuss den Boden verl&auml;sst. Die darauffolgende Schwungphase l&auml;sst sich ebenso in verschiedene Phasen einteilen, die allerdings f&uuml;r die verletzungspr&auml;ventive Laufanalyse nicht sonderlich von Interesse sind. In Bezug auf die Lauf&ouml;konomie ist es dennoch wichtig zu sehen, wie sich der Fuss w&auml;hrend der fr&uuml;hen Schwungphase vom Boden l&ouml;st und in der mittleren Schwungphase nach vorne gef&uuml;hrt wird. Die sp&auml;te Schwungphase, in der sich der Fuss wieder in Richtung Boden bewegt, beschreibt dabei den letzten Teil der Schwungphase.</p> <h2>Technische Umsetzung</h2> <p>Die Kinematik, also die Bewegung der Gelenke und K&ouml;rperteile, kann mittels Videosystem aufgenommen und ausgewertet werden. Es werden zwei Methoden zur kinematischen Analyse der Lauftechnik eingesetzt: 2D-Hochgeschwindigkeitskameras und 3D-Bewegungsanalysesysteme.<br /> 2D-Systeme erm&ouml;glichen eine rein visuelle Analyse der Bewegung. Bei qualifizierter Anwendung erm&ouml;glichen sie die Identifikation von groben Auff&auml;lligkeiten oder Asymmetrien im Bewegungsablauf. Es wird lediglich eine Bewegungsebene abgebildet, wobei es zu optischen Verzerrungen und folglich zu Fehlinterpretationen kommen kann. Zudem unterliegt die Interpretation der Aufzeichnungen dem subjektiven Empfinden des Untersuchers, weshalb dessen Erfahrung von grosser Bedeutung ist. Derartige 2D-Analysen werden zumeist in Laufshops oder Physiopraxen angeboten.<br /> Um die gesamte Tiefe, Komplexit&auml;t und Interaktionen der Gelenkbewegungen abzubilden und diese in Bezug zu m&ouml;glichen Entstehungsmechanismen von &Uuml;berlastungsbeschwerden zu bringen, sind 3D-Analysen absolut notwendig. So erm&ouml;glicht die 3D-Technologie die detaillierte Untersuchung aller drei Bewegungsebenen (sagittal: Flexion und Extension; frontal: Abduktion und Adduktion; transversal: Innen- und Aussenrotation).<br /> Ein 3D-System besteht aus 6 bis 12 infrarotbasierten Kameras und einem Computer mit entsprechender Software, welche die zweidimensionalen Informationen in einen dreidimensionalen Datenraum konvertiert. Die Sportler werden hierf&uuml;r mit Reflexmarkern ausgestattet, die an vorbestimmten anatomischen Landmarken befestigt werden und w&auml;hrend des Laufens das ausgesendete infrarote Licht reflektieren. Dadurch werden die Bewegungen der einzelnen K&ouml;rperteile in Relation zur Umwelt, aber auch in Relation zu den Nachbarsegmenten berechnet. Die Auswertung ist sehr aufwendig, erlaubt aber quantitative Analysen bei einer hohen Reproduzierbarkeit. Die Berechnung der Daten ist unabh&auml;ngig von der subjektiven Einsch&auml;tzung des Untersuchers. Jedoch ist f&uuml;r die Interpretation der komplexen Daten und biomechanischen Kopplungsmechanismen eine enorme Erfahrung n&ouml;tig (siehe beispielhaft Abb. 2). Durch die Quantifizierung der Daten ist im Gegensatz zur 2D-Analyse die direkte Vergleichbarkeit mit Referenzwerten, fr&uuml;heren Untersuchungen oder zwischen verschiedenen Laufgeschwindigkeiten gegeben.<br /> Bisher waren derartige 3D-Bewegungsanalysesysteme aufgrund der hohen Anschaffungskosten sowie der Schwierigkeit der Anwendbarkeit und Interpretierbarkeit meist nur an universit&auml;ren Einrichtungen verf&uuml;gbar. Hierbei liegt der Fokus auf wissenschaftlichen Forschungsprojekten oder der &Uuml;berpr&uuml;fung medizinisch-therapeutischer Massnahmen (z. B. pr&auml;- und postoperative Vergleiche). Neuerdings stehen Breitensportlern auch spezialisierte Bewegungslabore zur Verf&uuml;gung, die unabh&auml;ngige 3D-Laufanalysen hinsichtlich der Pr&auml;vention oder Therapie von Laufverletzungen oder der Verbesserung der Lauftechnik anbieten.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_lo_ortho_1901_s11_abb2.jpg" alt="" width="500" height="989" /></p> <h2>Biomechanische Risikofaktoren</h2> <p>Im Hinblick auf die Entstehung laufspezifischer &Uuml;berlastungsbeschwerden ist die kinematische Analyse der Standphase, und hierbei vor allem der Lastaufnahmephase, von speziellem Interesse. Durch den Aufprall ist der K&ouml;rper einer hohen Belastung ausgesetzt und er versucht, diese durch unterschiedliche Mechanismen zu kompensieren.<br /> Die praktische Erfahrung zeigt unterschiedliche Kopplungsmechanismen, die zu Fehlbelastungen und folglich zu &Uuml;berlastungsbeschwerden f&uuml;hren k&ouml;nnen. Ein typischer Mechanismus beginnt bereits mit der Pronation. Sind die Strukturen des Fusses und des Sprunggelenkkomplexes nicht stabil genug, ist eine erh&ouml;hte Pronation oder &Uuml;berpronation die Folge (Abb. 3a) und die Ganglinie verschiebt sich medial. Dementsprechend kann sich die Innenrotation des Schienbeins erh&ouml;hen (Abb. 3b), wodurch das Kniegelenk unter Belastung nach innen wandert (Abb. 3c). Die daraus entstehenden Zugund Torsionsbelastungen auf Fuss, Achillessehne, Unterschenkel und Knie stellen ein erh&ouml;htes Risiko f&uuml;r eine &Uuml;berlastungsbeschwerde wie beispielsweise das iliotibiale Bandsyndrom, das Patellaspitzensyndrom, Achillessehnenentz&uuml;ndungen oder Plantarfasziitis dar. Die Fortsetzung dieser Kopplungsmechanismen nach oben ist theoretisch m&ouml;glich, aber in der Praxis selten zu beobachten. Ausl&ouml;ser dieser dynamischen Instabilit&auml;t sind oftmals Schw&auml;chen oder Dysbalancen der sprunggelenksumgebenden Muskulatur, Koordinationsdefizite oder &Uuml;ber- bzw. Unterbeweglichkeit des Sprunggelenks. In diesem Fall kann gezieltes Stabilisationstraining der sprunggelenksumgebenden wie auch der Oberschenkelmuskulatur oder eine Einlagenversorgung in Kombination mit einem entsprechenden Schuhmodell mittelfristig die L&ouml;sung des Problems sein, sei es pr&auml;ventiv oder therapeutisch.<br /> Neben der &Uuml;berpronation gilt der &laquo;mediale Kollaps&raquo;, eine Kombination aus Becken- und Beinachseninstabilit&auml;t, als weiterer Risikomechanismus f&uuml;r die Entstehung von &Uuml;berlastungsbeschwerden. Aufgrund zu schwacher oder unausgeglichener Rumpfmuskulatur kippt das Becken w&auml;hrend der Standphase zur gegenseitigen H&uuml;fte ab (Abb. 3e). Die verminderte Kraftf&auml;higkeit des Oberschenkels f&uuml;hrt zu einer erh&ouml;hten Innenrotation des Oberschenkels sowie zur Adduktion der H&uuml;fte und somit zur Medialisierung des Kniegelenks bzw. zur dynamischen X-Bein-Stellung (Abb. 3c). Im Gegensatz zur Pronation sind hierbei die typischen Beschwerden im Bereich der H&uuml;fte und des Kniegelenks anzufinden. Die distale Fortpflanzung dieser theoretischen Kopplungsmechanismen kann wiederum durch die Praxis nicht belegt werden. Als weitere Ursachen lassen sich die verminderte H&uuml;ftbeweglichkeit und die reduzierte Dehnbarkeit der H&uuml;ftbeuger nennen, die zu Ver&auml;nderungen im Laufbild und folglich zu Fehlbelastungen f&uuml;hren k&ouml;nnen. So ist es immens wichtig, muskul&auml;re Schw&auml;chen oder Dysbalancen zu identifizieren und mittels konzentrischen oder gegebenenfalls exzentrischen Krafttrainings gezielt zu beheben.<br /> Somit ist festzuhalten, dass das Kniegelenk h&ouml;chst anf&auml;llig f&uuml;r laufspezifische Verletzungen ist, da beide beschriebenen Risikomechanismen einen Einfluss auf seine Bewegung und Stabilit&auml;t haben. Es sind meist &laquo;abnormale&raquo; Bewegungen in der Frontalebene (H&uuml;ftadduktion, Pronation, Seitneigung des Oberk&ouml;rpers) und in der Transversalebene (Rotation Ober- und Unterschenkel, Becken, Oberk&ouml;rper), die das Risiko einer &Uuml;berlastungsbeschwerde erh&ouml;hen. Bewegungen der Sagittalebene sind vor allem in Bezug auf Lauftechnik und Lauf&ouml;konomie von Interesse. Aus den genannten Gr&uuml;nden sollten bei einer Laufanalyse alle Bewegungsebenen separat sowie gekoppelt mittels 3D-Videoanalyse betrachtet werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1901_Weblinks_lo_ortho_1901_s12_abb3.jpg" alt="" width="250" height="491" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>In der Praxis zeigt sich, dass die beste Form der Laufanalyse eine Kombination aus qualitativer 2D-Hochgeschwindigkeitsund quantitativer 3D-Bewegungsanalyse ist. So lassen sich einerseits mittels Highspeed- Video Probleme offen und verst&auml;ndlich f&uuml;r den Sportler erkl&auml;ren. Andererseits erm&ouml;glicht die 3D-Technologie einen einzigartigen Einblick in die Biomechanik des kompletten Bewegungsapparates.<br /> Eine klinisch-biomechanische Laufanalyse sollte zudem immer muskul&auml;re Defizite bzw. Dysbalancen sowie Einschr&auml;nkungen in Beweglichkeit und Dehnf&auml;higkeit individuell identifizieren. Nur so k&ouml;nnen Auff&auml;lligkeiten im Bewegungsablauf, die bereits zu Verletzungen gef&uuml;hrt haben oder eventuell in Zukunft zu Verletzungen f&uuml;hren, auf deren Ursachen zur&uuml;ckgef&uuml;hrt werden. Die Unterscheidung zwischen Ursachen und Folgen einer Verletzung steht bei akuten Symptomen nicht im Vordergrund. Vielmehr lassen sich basierend auf den Ergebnissen einer 3D-Laufanalyse spezifische Therapieans&auml;tze zur Verbesserung des Bewegungsablaufs und zur Reduzierung der Fehlbelastungen definieren. Auch in Bezug auf die Pr&auml;vention von &Uuml;berlastungsbeschwerden oder die Verbesserung der Lauftechnik ist eine 3D-Laufanalyse sowohl f&uuml;r Hobby- als auch f&uuml;r Spitzensportler &uuml;beraus hilfreich.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
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