
©
istockphoto.com/vgajic
Begleitverletzungen bei Beckenringfrakturen
Jatros
Autor:
Dr. Markus Gregori
E-Mail: markus.gregori@meduniwien.ac.at
Autor:
Assoc. Prof. Priv-Doz. Dr. Stefan Hajdu
Klinische Abteilung für Unfallchirurgie<br> Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie<br> Medizinische Universität Wien
30
Min. Lesezeit
07.05.2020
Weiterempfehlen
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
<p class="article-intro">Durch den Nahebezug intraabdomineller Organe und großer Gefäße zum knöchernen Becken müssen Begleitverletzungen bei Beckenringfrakturen ausnahmslos unverzüglich diagnostiziert bzw. ausgeschlossen werden, um schwere Folgeerkrankungen/-schäden bei den meist ohnehin bereits schwer traumatisierten Patienten zu verhindern. Durch die Beachtung typischer Verletzungszeichen und standardisierter Zusatzuntersuchungen, wie Urethrozystografie und digitale rektale Untersuchung, können selbst selten vorkommende Verletzungen des Urogenitalsystems und des Anorectums detektiert werden.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die Häufigkeit von Beckenringfrakturen wird in der Literatur mit 3–8 % angegeben.<sup>6, 11, 15, 18, 24, 31,33</sup> Insbesondere instabile Beckenfrakturen und Beckenringzerreißungen sind in der Regel die Folge eines Hochrasanztraumas.<sup>31</sup> Während sich stabile Beckenringfrakturen (OTA Typ A) in 60 % der Fälle als isolierte Verletzung präsentieren und vor allem beim geriatrischen Patienten auftreten, werden instabile Beckenringfrakturen (OTA Typ B/C) nur in 5 % der Fälle als isolierte Verletzung diagnostiziert.<sup>31</sup> Dies verdeutlicht die Tatsache, dass die Inzidenz an Begleitverletzungen also bei instabilen Beckenringfrakturen viel höher ist als bei stabilen Beckenfrakturen.<br /> In einem Zeitraum von 10 Jahren wurden an der Klinischen Abteilung für Unfallchirurgie der Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie (Anm.: ehemalige Universitätsklinik für Unfallchirurgie) des AKH Wien 308 Patienten mit instabilen Beckenringfrakturen von Typ B (n=145) und C (n=163) behandelt. Das Durchschnittsalter lag bei 41,8 Jahren. Männer waren mit 57 % häufiger betroffen als Frauen mit 43 % . 75 % aller Patienten waren polytraumatisiert (ISS ≥16). Die häufigsten Unfallursachen waren Sturz aus großer Höhe (<3 m) in 36 % und Verkehrsunfälle in 37 % der Fälle, gefolgt von Überrolltraumata (10 % ), Sturz aus geringer Höhe (<3 m) (6 % ), Freizeitunfällen (5 % ), Einklemmungstraumata (4 % ) und anderen seltenen Mechanismen (2 % ). Begleitverletzungen der Extremitäten waren bei 57 % der Patienten vorhanden. In Bezug auf andere Körperregionen waren Thoraxverletzungen in 45 % der Fälle am häufigsten zu finden, gefolgt von Schädel-Hirn-Traumata in 33 % und Abdominalverletzungen in 28 % der Fälle. Die oben genannten Werte lassen sich auch mit den angegebenen Häufigkeiten in der Literatur vergleichen.<sup>3, 4, 30, 31</sup> 28 % unserer Patienten wiesen Verletzungen an der Wirbelsäule auf. Sollte sich anamnestisch als Unfallursache ein Sturz oder Sprung aus großer Höhe ergeben, so ist besonders auf die Verletzungskombination Beckenringfraktur, Fraktur am thorakolumbalen Übergang und Fersenbeinfraktur zu achten. Diese Verletzungskombination konnte bei insgesamt 9,5 % unserer Patienten (n=308) nachgewiesen werden. Bei mehr als einem Fünftel (21,6 % ) der Patienten nach Sturz aus großer Höhe war diese Verletzungskombination zu finden. Trotz fortgeschrittener Diagnoseverfahren und moderner Behandlungsmöglichkeiten sind Beckenringfrakturen auch heute noch mit hohen Mortalitätsraten verbunden. In der Literatur werden diese zwischen 5 und 16 % angegeben.<sup>1, 20, 25, 28, 35</sup> Patienten mit begleitenden peripelvinen Weichteilschäden (definiert als „komplexes Beckentrauma“) weisen eine höhere Letalität auf als Patienten mit „unkomplizierten Beckenfrakturen“.<sup>6, 15, 19, 32</sup> Abhängig von der hämodynamischen Instabilität und den Begleitverletzungen kann die Mortalität sogar über 30 % betragen.<sup>8, 9</sup> Bei traumatischen Hemipelvektomien – der schwersten Form der Beckenringzerreißung – wird die Letalität mit 70 % angegeben.<sup>31</sup> Die Letalität ist abhängig vom Schweregrad der Blutung, den Begleitverletzungen sowie der Behandlungsqualität und dem zeitlichen Management.<sup>31</sup> Von unseren eigenen Patienten verstarben insgesamt 17,2 % . Prinzipiell waren instabile Beckenringfrakturen vom Typ C mit einer höheren Mortalitätsrate verbunden (21,5 % ) als Beckenringfrakturen vom Typ B (12,5 % ).<br /> Im Weiteren soll auf spezielle, besonders beim schweren Beckentrauma vorhandene Begleitverletzungen und deren Folgen eingegangen werden.</p> <h2>Retro-/intraperitoneale Massenblutung</h2> <p>Retroperitoneale Massenblutungen stellen die Haupttodesursache bei Beckenringverletzungen in der frühen Behandlungsphase dar.<sup>2, 31</sup> Schon allein der Retroperitonealraum kann bei instabilen Beckenringfrakturen mehrere (4–5) Liter Blut aufnehmen.<sup>7, 10, 12, 31</sup> Beim Open-Book-Mechanismus kann das Füllungsvolumen des Beckens deutlich zunehmen, wodurch noch mehr Blut extravasal verloren geht. So konnte in einer experimentellen Studie an Leichen gezeigt werden, dass bei einer Diastase der Symphyse um 5 cm eine Zunahme des Beckenvolumens um mehr als 20 % erreicht werden konnte.<sup>2</sup> Häufige Begleitverletzungen – wie Thoraxund Abdominalverletzungen sowie Frakturen langer Röhrenknochen – begünstigen die hämodynamische Instabilität und können bei verzögertem Eingreifen bis zur Exsanguination des Patienten führen. Blutungen aus dem zerrissenen präsakralen und paravesikalen Venenplexus zeigen eine sehr hohe Blutungsdynamik auch ohne Begleitverletzungen arterieller und/oder großlumiger venöser Gefäße.<sup>31</sup> Durch die vorhandenen Kompartmentgrenzen (Faszien, Septen, knöcherne und ligamentäre Begrenzungen) des Beckenbodens sowie des Retroperitoneums kann es zu einer Autotamponade kommen. Dies ist auch häufig der Grund dafür, dass instabile Beckenringfrakturen ohne wesentliche Dislokation oder andere interventionsbedürftige intraabdominelle Begleitverletzungen oftmals erst im Intervall operativ mittels ORIF („open reduction and internal fixation“) versorgt werden, bis das retroperitoneale Hämatom organisiert ist und sich keine aktive Blutungsdynamik mehr zeigt. Im Gegensatz zu offenen Stabilisierungsverfahren im Akutstadium kann der intraoperative Blutverlust dadurch reduziert werden.<br /> Der Effekt der Autotamponade kann durch ein optimales Gerinnungsmanagement und Schließen des Beckenrings bei Open-Book-Frakturen mittels Tuch, Beckengurt, Beckenzwinge oder Fixateur externe begünstigt werden. In manchen Fällen kann es jedoch bei instabilen Beckenringfrakturen auch zu Zerreißungen der Kompartmentgrenzen und zu einem Durchbruch der retroperitonealen Massenblutung nach intraperitoneal bzw. nach extrakorporal über perineale Rissquetschwunden mit sehr hohem Blutverlust und rasch zum hämodynamischen Verfall des Patienten bis zum Tod kommen.<sup>7, 19, 36</sup> Wühlblutungen breiten sich aus dem kleinen Becken vor allem entlang der Psoasloge nach kranial sowie durch die Lacuna musculorum und durch die Lacuna vasorum in die Weichteile des Oberschenkels aus.<sup>31</sup> Bei begleitenden Oberschenkelfrakturen, welche ebenso mit einem erheblichen Blutverlust verbunden sind, ist daher auch insbesondere auf die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms (gluteal und femoral!) zu achten.</p> <h2>Gefäßverletzungen</h2> <p>Arterielle Begleitverletzungen bei Beckenringfrakturen sind insgesamt selten und werden mit einer Häufigkeit von 10 bis 20 % angegeben.<sup>11, 12, 13, 17</sup> Dislozierte Frakturen oder Pfählungsverletzungen können zum Anspießen bzw. zu Perforationen von Gefäßen führen. Scherverletzungen führen zu Gefäßeinrissen oder Rupturen.<sup>31</sup> Gefäßverletzungen werden bei instabilen Typ-C-Verletzungen häufiger beobachtet als bei anderen Beckenringfrakturen. Bei der traumatischen Hemipelvektomie sind begleitende Gefäßverletzungen am häufigsten vorzufinden. Betroffen sind hauptsächlich Äste der Iliaca-externa- sowie der Iliaca-interna-Gefäße (A./V. obturatoria, A./V. pudenda int., A./V. glutaea superior, Vasa iliolumbales).<sup>2, 31</sup> Das massive, oft einseitige Hämatom kann zu einem Verdrängen der Harnblase zur kontralateralen Seite führen und somit schon bei der Beckenübersichtsaufnahme mit Zystografie den Verdacht auf eine Gefäßläsion wecken (Abb. 1). In diesen Fällen ist eine enge multidisziplinäre Zusammenarbeit der interventionellen Radiologie und Anästhesie notwendig. Das Thema der Angiografie und Angioembolisation beim schweren Beckentrauma wird immer noch sehr kontrovers diskutiert und muss von Fall zu Fall im interdisziplinären Setting entschieden werden.<sup>13</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Jatros_Ortho_2003_Weblinks_jat_ortho_2003_s36_abb1_gregori.jpg" alt="" width="850" height="262" /></p> <h2>Nervenschäden</h2> <p>Begleitende Nervenschäden bei Beckenringfrakturen werden mit einer Inzidenz bis zu 52 % angegeben und betreffen vor allem den Plexus lumbosacralis und die sakralen Nervenwurzeln.<sup>15, 23, 31, 32, 33</sup> Die Häufigkeit an nervalen Begleitverletzungen steigt mit der Schwere der Beckenverletzung. Bei zentralen oder transforaminellen Sacrumfrakturen ist hauptsächlich mit Schäden der sakralen Nervenwurzeln zu rechnen. Iliosakralsprengungen führen vor allem zu Traktionsschäden des Plexus lumbosacralis. In seltenen Fällen führen laterale Kompressionsfrakturen zu direkten Schäden des Nervus cutaneus femoris lateralis.<sup>31</sup> Viele Patienten mit Beckenringfraktur sind zum Zeitpunkt der Einlieferung bereits intubiert und eine genaue neurologische Untersuchung kann erst zeitversetzt erfolgen. Prinzipiell sollte jedoch so früh wie möglich eine genaue neurologische Diagnostik angestrebt werden. Bei der klinischen Untersuchung ist bei der digitalen rektalen Untersuchung, die bei jedem instabilen Becken schon im Rahmen der Schockraumdiagnostik durchgeführt werden soll, auf einen Tonusverlust des Sphincter ani zu achten.<sup>32</sup></p> <h2>Intraabdominelle Verletzungen</h2> <p>Intraabdominelle Verletzungen werden bei instabilen Beckenringverletzungen relativ häufig diagnostiziert und mit einer Häufigkeit zwischen 16 % und 55 % angegeben.<sup>3, 20, 27, 30, 31, 32</sup> Bei 308 Patienten mit instabilen Beckenringverletzungen, welche an der Universitätsklinik für Unfallchirurgie behandelt wurden, fanden sich in 28 % der Fälle intraabdominelle Verletzungen, wobei Leber- und Milzverletzungen mit 13 % und 11 % am häufigsten vertreten waren, gefolgt von Darm- und Nierenverletzungen mit jeweils 1,6 % . Bei jedem Patienten mit Verdacht auf Beckenringverletzung ist daher immer eine genaue klinische Untersuchung des Abdomens obligat. Druckschmerz, Defense, Zunahme des Bauchumfangs und Prellmarken können erste Hinweise auf ein Viszeraltrauma geben. Je nach lokalen Behandlungsprotokollen oder Verfügbarkeit von Ressourcen sollen unmittelbar ein FAST-Scan oder eine CT nachfolgen, um das Vorhandensein von Organläsionen zu verifizieren. Bei offenen Beckenringfrakturen und vorhandenen Darmverletzungen soll aufgrund der Kontamination und des hohen Infektionsrisikos die Indikation zur Anlage einer Kolostomie großzügig gestellt werden. Im Übrigen sind viszerale Verletzungen gemäß den jeweiligen Richtlinien zur Versorgung der entsprechenden Organläsionen zu behandeln. Oftmals kommen auch hier die Prinzipien der „damage-control surgery“ zum Einsatz und die Beckenverletzung selbst wird im Akutstadium temporär mit einer Beckenzwinge oder einem Fixateur externe stabilisiert. Eine Indikation zur primären definitiven Stabilisierung stellt die Symphysenverplattung beim Rückzug einer Unterbauchlaparotomie dar. Somit bleibt zumindest der ventrale Beckenring geschlossen, was auch die Tamponade und Organisation des retroperitonealen Hämatoms fördert, und eine definitive interne Stabilisierung des hinteren Beckenrings kann im Intervall nachfolgen.</p> <h2>Verletzungen des Anorectums</h2> <p>Beckenringfrakturen mit Verletzungen des Anorectums bzw. perinealen tiefgreifenden Rissquetschwunden sind eigentlich als „offene Beckenringfrakturen“ zu bezeichnen. Viele dieser Verletzungen sind durch Pfählungsmechanismen verursacht. Als weitere Unfallursachen sind vor allen Quetsch- bzw. Einklemmungstraumata und das Überrolltrauma zu nennen. Die Inzidenz anorektaler Begleitverletzungen ist gering, sie wurden bei unseren Patienten (n=308) in 2,3 % der Fälle beobachtet. Offene Wunden bei Beckenfrakturen treten insgesamt selten auf und werden mit einer Inzidenz von 2–5 % angegeben.<sup>5, 7, 9, 25, 36</sup> Aufgrund der hohen Kontaminationsgefahr sowie der Spätschäden, welche das Outcome dieser Patienten stark beeinflussen, sind diese Verletzungen von sehr erfahrenen Unfallchirurgen – bei Bedarf in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Allgemeinchirurgen – zu behandeln. Patienten mit Beckenringfrakturen und perinealen Wunden sind einer höheren Sepsisgefahr ausgesetzt und sind häufiger von ARDS und Multiorganversagen betroffen als Patienten mit „unkomplizierten“ geschlossenen Beckenfrakturen.<sup>7</sup> Okkulte rektale Verletzungen können im Rahmen des Schockraummanagements leicht übersehen werden, daher ist bei jedem Patienten mit instabiler Beckenringfraktur eine digitale rektale Untersuchung durchzuführen. Weitere Hinweise können Blutaustritt aus dem Anus, perineale Hämatome und/oder Rissquetschwunden sowie ein Klaffen des Anus sein. Bei ausgedehnten Beckenringzerreißungen – sowie bei ihrer schwersten Form, der traumatischen Hemipelvektomie – muss wiederum an die oben erwähnten Kompartmentgrenzen gedacht werden, welche bei diesen Verletzungen meist vollständig zerrissen sind. Das Schließen des hinteren Beckenrings und die Versorgung perinealer Wunden sind somit wichtige Bestandteile in der Akutversorgung, um den Tamponadeeffekt im Retroperitoneum nicht „verpuffen“ zu lassen. (John T, Ertel W., Orthopäde 2005, S. 925)<sup>18</sup> Nach durchgeführter Schockraumdiagnostik ist eine Prokto-/Rektoskopie obligat, um das genaue Ausmaß der Enddarmverletzung festzustellen. Ein penibles Débridement mit nachfolgender Lavage und Drainage der perinealen Rissquetschwunden ist notwendig, um nekrotisches Gewebe zu entfernen und die Kontamination zu verringern. Die Anlage einer Vakuumversiegelung kann von Fall zu Fall in Erwägung gezogen werden. Bei Verletzungen des Anorektums soll die Indikation zur Anlage eines protektiven Kolostomas großzügig gestellt werden.<sup>5, 7, 22</sup> In Bezug auf die Frakturstabilisierung gelten auch hier die Prinzipien der „damage-control-orthopaedics“, wobei auf ausgedehnte interne Osteosynthesen aufgrund der Kontamination verzichtet wird und die temporäre oder definitive Stabilisierung mit dem Fixateur externe – unter gewissen Umständen mit limitierter (perkutaner) interner Stabilisierung – vorzuziehen ist.<sup>5</sup></p> <h2>Urogenitalverletzungen</h2> <p>Die Inzidenz von Urogenitalverletzungen bei Beckenringfrakturen wird mit einer Häufigkeit von 4,6 bis 25 % angegeben.<sup>3, 16, 21, 26, 34</sup> Als Unfallursachen werden hauptsächlich Verkehrsunfälle, Sturz aus großer Höhe oder direkte Traumata wie Quetschverletzungen genannt. Durch laterale Kompression kann es zur direkten Anspießung von Harnblase und Vagina, seltener der Urethra kommen, wobei dieser Verletzungsmechanismus auch immer wieder bei dislozierten Typ-AFrakturen zu finden sind, welche im Normalfall selten mit Begleitverletzungen assoziiert sind.<sup>34</sup> Ein Anpralltrauma kann bei stark gefüllter Harnblase und entsprechender Gewalteinwirkung zu einer Ruptur des Hohlorgans führen.<sup>31</sup> Männer sind von Verletzungen der Harnröhre häufiger betroffen als Frauen.<sup>3, 14, 16, 21, 34</sup> Bei Frauen werden Urethraverletzungen mit einer Inzidenz von weniger als 6 % bei Beckenringfrakturen angegeben.<sup>3, 16, 34</sup> Dieser Geschlechtsunterschied ist bedingt durch die wesentlich kürzere Urethralänge, ihre erhöhte Elastizität, ausschließlich interne Lage und die geringere Ausprägung festhaftender Verbindungen, welche die weibliche Harnröhre am Schambein fixieren.<sup>16, 34</sup> Laut Angaben der Literatur werden 23 % der Urethra- bzw. unteren Harnwegsverletzungen primär übersehen.<sup>21</sup> Dies ist mit schwerwiegenden Spätschäden wie Strikturen, Inkontinenz und Impotenz verbunden.<sup>14, 16, 34</sup> Zeichen dafür können verminderter Harnfluss und Inkontinenz sein.<sup>16</sup> Daher ist bei jedem instabilen Becken – v. a. beim Vorliegen einer Symphysenruptur – sowie bei externen Zeichen, welche den Verdacht auf Verletzung der unteren ableitenden Harnwege wecken, eine retrograde Urethrozystografie durchzuführen.<sup>16, 21, 26, 34</sup></p> <p><strong>Externe Zeichen beim Mann<sup>16, 21</sup> (Abb. 2)</strong></p> <ul> <li>Hämaturie</li> <li>Blutaustritt am Meatus urethrae externus</li> <li>Schwellung</li> <li>Hämatome (Perineum, Penis, Scrotum)</li> <li>Nicht zu ertastende/hoch reitende Prostata bei der digitalen rektalen Untersuchung</li> </ul> <p><strong>Externe Zeichen bei der Frau<sup>16</sup></strong></p> <ul> <li>Hämaturie</li> <li>Blut am Meatus urethrae externus</li> <li>vaginale Blutung</li> <li>Ödem/Hämatom der Labien</li> <li>Urinleak per rectum</li> </ul> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Jatros_Ortho_2003_Weblinks_jat_ortho_2003_s37_abb2_gregori.jpg" alt="" width="275" height="215" /></p> <p>Es scheint uns besonders wichtig, zu erwähnen, dass die retrograde Urethrozystografie immer in zwei Ebenen anzufertigen ist und sowohl nach Befüllen mit Kontrastmittel als auch nach Ablassen der KM-Füllung zu beurteilen ist. Kontrastmittelfahnen im Füllungszustand geben ebenso Hinweise auf eine Läsion der unteren ableitenden Harnwege wie das Zurückbleiben von Kontrastmittel im „Ablassbild“. Es ist darauf zu achten, dass sich bei partieller Harnröhrenruptur die Harnblase trotzdem im prall gefüllten Zustand darstellen lassen kann. Dies verdeutlicht wiederum die Notwendigkeit, das Vorhandensein etwaiger Fahnen immer in zwei Ebenen zu beurteilen, um kleine Kontrastmittelaustritte durch Überlagerungen nicht zu übersehen. Das Ignorieren externer Zeichen einer möglichen Harnröhrenruptur und das blinde Katheterisieren können zu weiteren Schäden führen. So kann aus einer partiellen Ruptur ein Totalabriss der Harnröhre werden, Fehllagen des Katheters können zu weiteren Schäden oder verstärkter Blutung führen und Harnröhrenverletzungen werden bei intravesikaler Lage des Katheters bei reiner Zystografie übersehen. Im Falle einer Harnröhrenruptur wird ein suprapubischer Katheter zur Harnableitung ultraschallgezielt angelegt und die operative Versorgung durch den Urologen wird meist im Intervall vorgenommen. Intraperitoneale Harnblasenrupturen müssen aufgrund des Infektionsrisikos im Akutstadium operativ versorgt werden. In diesem Fall wird die definitive Stabilisierung des vorderen Beckenrings (Symphysenverplattung) beim Rückzug nach Unterbauchlaparotomie empfohlen.<sup>34</sup> Genitale Verletzungen im Rahmen eines Beckentraumas treten selten auf. Bei allen Patientinnen mit instabilen Beckenringfrakturen (n=131), welche an unserer Klinik behandelt wurden, wurden Vaginalverletzungen in 1,5 % der Fälle diagnostiziert. Verletzungen des Penis und der Hoden wurden bei lediglich 0,6 % der männlichen Patienten mit instabiler Beckenringfraktur festgestellt.</p> <h2>Morel-Lavallée-Syndrom</h2> <p>Dieser Ausdruck bezeichnet eine subkutane (semizirkuläre) Weichteildécollementverletzung, welche im Rahmen komplexer Beckenringfrakturen vor allem nach Überrolltraumata durch tangentiale Scherkräfte auftritt.<sup>29, 31</sup> Dieses schwere Weichteiltrauma tritt meist einseitig vor allem im Bereich der Gluteal- und Trochanterregion auf und kann weite Flächen des angrenzenden Rückens und Oberschenkels miteinbeziehen.<sup>29</sup> Als knöcherne Verletzung sind häufig Kompressionsfrakturen zu finden, die nicht immer einer operativen Therapie bedürfen.<sup>18</sup> Als primäre Zeichen findet man häufig nur Prellmarken und oberflächliche Schürfwunden, wobei sich im Laufe der Zeit breitflächige Haut- und Fettgewebsnekrosen bilden (Abb. 3). Durch die Scherkräfte zerreißen perforierende subkutane Gefäße, Kapillaren und Lymphgefäße, was zu ausgeprägten subkutanen Flüssigkeitsansammlungen und der Ausbildung von Pseudozysten führt, die den Krankheitsverlauf der Patienten erheblich beeinflussen und verlängern. Nicht selten wird das Morel-Lavallée-Syndrom erst Tage nach dem Unfall als solches erkannt.<sup>29</sup> Daher ist es auch besonders wichtig, im Rahmen der chirurgischen Versorgung von Rissquetschwunden auf die subkutane Ausdehnung der Verletzungen genau zu achten, um frühzeitig eine Behandlungsstrategie aufstellen und den weiteren Verlauf abschätzen zu können. Ein großzügiges Débridement bereits livide verfärbter Hautareale sowie von Fettgewebsnekrosen mit ausgiebiger Lavage unter antibiotischer Abschirmung als auch die Weiterbehandlung und Führung des Patienten obliegen den Erfahrungen und Kenntnissen sehr versierter Kollegen.<sup>29</sup> Neben komprimierenden Verbänden werden oftmals Vakuumversiegelungen eingesetzt, die in subkutanen Wundhöhlen oder nach Abtragen von Hautnekrosen angelegt werden. Sekundäre rekonstruktive Eingriffe mit Hauttransplantationen können oft erst nach vielen Revisionsoperationen durchgeführt werden. Die Hauptkomplikationen dieser Verletzung, welche den Krankheitsverlauf der Patienten bestimmen, sind schwerwiegende Störungen des Flüssigkeits-/Elektrolythaushalts, Verlust an Proteinen und bakterielle Ansiedelungen sowie das mögliche Auftreten eines Crushsyndroms, einer Sepsis und eines Multiorganversagens. Die Behandlung dieser Patienten ist eine große Herausforderung für das behandelnde Ärzte- und Pflegeteam. Die klinischen Endergebnisse werden aufgrund des verlängerten Krankenhausaufenthaltes, der multiplen operativen Eingriffe und der verspäteten Mobilisierung stark negativ beeinflusst.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Jatros_Ortho_2003_Weblinks_jat_ortho_2003_s37_abb3_gregori.jpg" alt="" width="400" height="351" /></p> <p><br /><em>Anmerkung: Herzlichen Dank für die Bereitstellung des Bildmaterials für Abbildung 3 an Ass. Prof. OA Dr. Wolfgang Machold.</em></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Bakhshayesh P et al.: Factors affecting mortality and reoperations in high-energy pelvic fractures. Eur J Orthop Surg Traumatol 2018 Oct; 28(7): 1273-82 <strong>2</strong> Baqué P et al.: Anatomical consequences of “open-book” pelvic ring disruption. A cadaver experimental study. Surg Radiol Anat 2005; 27(6): 487-90 <strong>3</strong> Bjurlin MA et al.: Genitourinary injuries in pelvic fracture morbidity and mortality using the National Trauma Data Bank. J Trauma 2009; 67(5): 1033-9 <strong>4</strong> Bryceland JK, Keating JF. Laparotomy and unstable pelvic fractures. Injury 2008; 39(8): 853-7 <strong>5</strong> Chen L et al.: Percutaneous limited internal fixation combined with external fixation to treat open pelvic fractures concomitant with perineal lacerations. Orthopaedics 2011; 34(12): 827-31 <strong>6</strong> Culemann U et al.: Beckenringverletzung. Diagnostik und aktuelle Behandlungsmöglichkeiten. Chirurg 2003; 74: 687- 700 <strong>7</strong> Duchesne JC et al. Open-book pelvic fractures with perineal open wounds: A significant morbid combination. Am Surg 2009; 75(12): 1227-33 <strong>8</strong> Duchesne J et al.: The effect of hemorrhage control adjuncts on outcome in severe pelvic fracture: A multi-institutional study. J Trauma Acute Care Surg 2019; 87(1):117-24 <strong>9</strong> Durkin A et al.: Contemporary management of pelvic fractures. Am J Surg 2006; 192(2): 211-23 <strong>10</strong> Frakes MA, Evans T: Major pelvic fractures. Crit Care Nurse 2004; 24(2):18-30 <strong>11</strong> Fu CY et al.: Angioembolization provides benefits in patients with concomitant unstable pelvic fracture and unstable hemodynamics. Am J Emerg Med 2012; 30(1): 207-13 <strong>12</strong> Giannoudis PV et al.: Percutaneous fixation of the pelvic ring: an update. J Bone Joint Surg Br 2007; 89(2): 145-54 <strong>13</strong> Hak DJ: The role of pelvic angiography in evaluation and management of pelvic trauma. Orthop Clin North Am 2004; 35(4): 439-43 <strong>14</strong> Harvey-Kelley KF et al.: Sexual function impairment after high energy pelvic fractures: Evidence today. J Urol 2011; 185(6): 2027-34 <strong>15</strong> Hauschild O et al.: Mortality in patients with pelvic fractures: results from the German pelvic injury register. J Trauma 2008; 64(2): 449-55 <strong>16</strong> Ingram MD et al.: Urethral injuries after pelvic trauma: Evaluation with urethrography. Radiographics 2008; 28(6): 1631-43 <strong>17</strong> Jeroukhimov I et al.: Selection of patients with severe pelvic fracture for early angiography remains controversial. Scand J Trauma Rescusc Emerg Med 2009; 17: 62 <strong>18</strong> John T, Ertel W: Die Beckenringzerreißung beim polytraumatisierten Patienten. Der Orthopäde 2005; 34(9): 917-30 <strong>19</strong> Jones AL et al.: Open pelvic fractures. Orthop Clin North Am 1997; 28(3): 345-50 <strong>20</strong> Küper MA et al.: Associated abdominal injuries do not influence quality of care in pelvic fractures – a multicenter cohort study from the German Pelvic Registry. World J Emerg Surg 2020; 15: 8 <strong>21</strong> Lückhoff C et al.: The diagnosis of acute urethral trauma. Injury 2011; 42(9): 913-6 <strong>22</strong> Lunsjo K, Abu-Zidan FM: Does colostomy prevent infection in open blunt pelvic fractures? A systematic review. J Trauma 2006; 60(5): 1145-1148 <strong>23</strong> Majeed SA: Neurological deficits in major pelvic injuries. Clin Orthop Relat Res 1992; (282): 222-8 <strong>24</strong> Mason WT et al.: Complications of temporary and definitive external fixation of pelvic ring injuries. Injury 2005; 36(5): 599-604 <strong>25</strong> Mi M et al.: Management and outcomes of open pelvic fractures: An update. Injury 2020; doi: 10.1016/j.injury.2020.02.096 <strong>26</strong> Netto FA et al.: Retrograde urethrocystography impairs computed tomography diagnosis of pelvic arterial hemorrhage in the presence of a lower urologic tract injury. J Am Coll Surg 2008; 206(2): 322-7 <strong>27</strong> Parreira JG et al.: The role of associated injuries on outcome of blunt trauma patients sustaining pelvic fractures. Injury 2000; 31(9): 677-682 <strong>28</strong> Pohlemann T et al. Survival trends and predictors of mortality in severe pelvic trauma: estimates from the German Pelvic Trauma Registry Initiative. Injury 2011; 42(10): 997-1002 <strong>29</strong> Powers ML et al.: Morel-Lavallee lesion. Orthopedics 2007; 30(4): 250, 322-3 <strong>30</strong> Ruchholtz S et al.: Free abdominal fluid on ultrasound in unstable pelvic ring fracture: Is laparotomy always necessary? J Trauma 2004; 57(2): 285-7 <strong>31</strong> Rüter A, Trentz O, Wagner M: Unfallchirurgie. Urban & Fischer Verlag 2004; 907-19 <strong>32</strong> Siegmeth A et al.: Begleitverletzungen beim schweren Beckentrauma. Unfallchirurg 2000; 103(7): 572-81 <strong>33</strong> Sugimoto Y et al.: Risk factors for lumbosacral plexus palsy related to pelvic fracture. Spine 2010; 35(9): 963-6 <strong>34</strong> Tauber M et al.: Urogenitale Begleitverletzungen bei Beckenringfrakturen. Unfallchirurg 2007; 110(2): 116-23 <strong>35</strong> Verbeek DO et al.: Pelvic fractures in the Netherlands: epidemiology, characteristics and risk factors for in-hospital mortality in the older and younger population. Eur J Orthop Surg Traumatol. 2018; 28(2): 197- 205 <strong>36</strong> Westhoff J et al.: Die offene Beckenfraktur. Unfallchirurg 2004; 107(3): 189-96</p>
</div>
</p>