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Bedeutung des „Fracture Liaison Service“ in der sekundären Frakturprävention
Jatros
Autor:
Prof. Dr. David Marsh
Prof. em. of Clinical Orthopaedics, University College London<br> E-Mail: d.marsh@ucl.ac.uk<br> Deutsche Übersetzung von Prof. Dr. Gerold Holzer, Universitätsklinik für Orthopädie, Wien<br> E-Mail: gerold.holzer@meduniwien.ac.at
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07.07.2016
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<p class="article-intro">Wer bereits eine osteoporosebedingte Fraktur erlitten hat, hat ein deutlich höheres Risiko für weitere Frakturen im Vergleich zu jenen, die noch keine Fraktur hatten. Daher ist es bei Patienten, die mit einer Fragilitätsfraktur vorstellig werden, unbedingt erforderlich, dass nicht nur die Fraktur behandelt wird, sondern auch begonnen wird, der nächsten vorzubeugen. Um sicherzugehen, dass dies wirklich geschieht, ist eine spezielle Form der klinischen Organisation notwendig, nämlich ein „Fracture Liaison Service“ (FLS).</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Die Behandlung eines Patienten mit einer Fragilitätsfraktur ist nicht abgeschlossen, solange keine Maßnahmen ergriffen worden sind, um die nächste Fraktur zu verhindern.</li> <li>Das „Fracture Liaison Service“ (FLS) ist eine Form einer klinischen Dienstleistung, die sicherstellt, dass sekundäre Prävention nachweisbar durchgeführt wird.</li> <li>Die Schlüsselkomponente eines FLS ist ein Koordinator, wie z.B. eine FL-Schwester.</li> <li>Die meisten Fälle können von einer FL-Schwester alleine entsprechend dem vorgesehenen Protokoll und unter der Anleitung oder Aufsicht eines Osteoporose Experten organisiert werden.</li> <li>Essenziell ist die Einbindung des Allgemeinmediziners, der den Patienten behandelt, sodass eine lebenslange Prävention sichergestellt werden kann.</li> </ul> </div> <p>Weltweit führt die Überalterung der Bevölkerung zur massiven Zunahme der Inzidenz von Fragilitätsfrakturen. In Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum wird für die nächsten Jahrzehnte eine Zunahme der Hüftfrakturinzidenz auf das Sechsfache erwartet. Für Europa wird eine Verdoppelung der Inzidenz prognostiziert. Um diese dramatische Entwicklung bewältigen zu können, müssen die Gesundheitssysteme nicht nur die Effizienz erhöhen, mit der sie solche Fälle managen (durch Innovationen, wie z.B. das orthogeriatrische Komanagement von Patienten), sondern auch danach trachten, die Häufigkeit von Fragilitätsfrakturen durch präventive Maßnahmen zu reduzieren.</p> <h2>Sekundäre Prävention ist kosteneffektiver als die primäre</h2> <p>Ungefähr die Hälfte der Patienten, die mit einer Hüftfraktur vorstellig werden, hat vorher bereits mindestens eine Fragilitätsfraktur erlitten, während in der Gesamtbevölkerung von Frauen über 50 Jahre nur ungefähr 16 % eine Fraktur erleiden (die Zahlen beziehen sich auf Großbritannien). Wenn man sich also für eine Zielgruppe für die Prävention entscheidet, ist es offensichtlich effektiver, diese 16 % zu behandeln, von denen 50 % in der Zukunft eine Hüftfraktur erleiden werden, als die restlichen 84 % , von denen niemand bisher jemals eine Fraktur erlitten hat. Mit anderen Worten: Die sekundäre Prävention ist kosteneffektiver als die primäre.<br /> Außerdem sind bei dieser Strategie geringe Kosten für das „case finding“ involviert, da die Patienten dem Gesundheitssystem wegen der Frakturen, die bereits stattgefunden haben, bekannt sind. Die Patienten haben uns gefunden. Wir müssen uns nicht mehr nach ihnen umsehen.</p> <h2>Wo stehen wir heute? Was können wir erreichen?</h2> <p>Studien zu osteoporosespezifischen Medikamenten haben gezeigt, dass die Therapie das zukünftige Frakturrisiko um etwa 50 % reduziert. Wenn also alle Patienten, die bereits Fragilitätsfrakturen erlitten haben, gegen die Osteoporose behandelt werden würden, würde die Inzidenz zukünftiger Hüftfrakturen um 50 % von 50 % reduziert werden – eine 25 % ige Reduktion des Risikos. Deshalb ist es offensichtlich, dass alle Patienten mit Fragilitätsfrakturen hinsichtlich der Osteoporose abgeklärt und, wenn nötig, behandelt werden müssen. Da die meisten Frakturen (ausgenommen vertebrale Frakturen) aus Stürzen resultieren, macht es zusätzlich Sinn, auch Risikofaktoren für Stürze zu identifizieren und gegebenenfalls zu eliminieren. Die Evidenz für die Effizienz in der Sturzprävention ist noch nicht vergleichbar mit derjenigen für die Effizienz der Osteoporoseprävention. Sie nimmt aber ständig zu.<br /> Leider zeigen Überblicksstudien in vielen Ländern immer wieder, dass nur etwa 20 % der Patienten mit Fragilitätsfrakturen auf diese Art und Weise abgeklärt werden, sogar in Krankenhäusern mit gut funktionierender Osteoporose- und Sturzpräventionsbetreuung. Der Unfallchirurg oder der Orthopäde fokussiert seine Behandlung auf die aktuell aufgetretene Fraktur, ohne daran zu denken, warum diese passiert ist. Der auf Osteoporose spezialisierte Arzt hingegen interessiert sich für interessante Fälle und ignoriert damit die größte Gruppe von Patienten, diejenigen mit dem höchsten Frakturrisiko. Deshalb ist unbedingt ein Mechanismus erforderlich, der diese beiden Dienstleistungen zusammenführt: Das Fracture Liaison Service (FLS) kann sicherstellen, dass jeder Patient, der mit einer Fragilitätsfraktur vorstellig wird, wenn nötig bezüglich seines Osteoporose- und Sturzrisikos abgeklärt und behandelt wird.</p> <h2>Wie kann das erreicht werden?</h2> <p>Offensichtlich funktioniert es nicht, wenn man darauf wartet, dass der Arzt, der die Fraktur behandelt, das Risiko des Patienten selbst erhebt oder den Patienten zu einem anderen Arzt zur Abklärung überweist. Dieses System führt gegenwärtig dazu, dass nur einer von fünf Patienten therapeutisch das bekommt, was er wirklich braucht. Die Erfahrungen in verschiedenen Ländern haben klar gezeigt, dass das Schlüsselkriterium für den Erfolg die Anstellung eines Koordinators ist, dessen Hauptrolle darin besteht, den Patienten mit Fraktur mit einem Osteoporose- und Sturzpräventionsdienst zusammenzubringen. In den meisten Fällen ist diese Person eine „Fracture Liaison“-Schwester (FL-Schwester), deren Hauptarbeitsplatz die Station ist, auf der Patienten mit Frakturen behandelt werden. Sie führt unter der Supervision eines Geriaters oder Osteoporosespezialisten ihre Tätigkeit durch. In Abbildung 1 werden die Hauptelemente dieser Position dargestellt. Erstens „findet“ sie die Patienten, indem sie auf der unfallchirurgisch-orthopädischen Station bezüglich Fragilitätsfrakturen screent. Sie nimmt an den Visiten und Besprechungen der Unfallchirurgie teil und achtet auf jeden Patienten über 50 Jahre. Damit sollten die meisten Fälle effizient identifiziert werden können. Um jedoch alle Patienten komplett zu erfassen, sollten zwei weitere Zielgruppen avisiert werden:</p> <ul> <li>Patienten mit Schambein- oder Humerusfrakturen, die auf einer geriatrischen oder internen Station zur konservativen Therapie aufgenommen wurden,</li> <li>Patienten, bei denen Wirbelkörperfrakturen auf einem Röntgenbild, das wegen anderer Ursachen aufgenommen wurde (z.B. aufgrund von pulmonalen Problemen), identifiziert wurden.</li> </ul> <p>Die FL-Schwester stellt sich-er, dass die behandelnden Ärzte über diese Fälle informiert sind, indem sie die Verbindung zwischen den Ärzten auf den Stationen und der Radiologie herstellt.<br /> Die Identifikation von Patienten mit Wirbelkörperfrakturen ist besonders wichtig. Manche dieser Patienten präsentieren sich klinisch mit starken Schmerzen. Bei vielen anderen verlaufen Wirbelkörperfrakturen aber relativ schmerzfrei und können nur radiologisch nachgewiesen werden.<br /> Trotzdem erhöhen die klinisch schmerzlos verlaufenden Frakturen das Risiko für weitere Frakturen genauso wie die stark schmerzhaften. Vom Blickwinkel der sekundären Prävention sind diese beiden gleich wichtig.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1604_Weblinks_Seite22.jpg" alt="" width="614" height="868" /></p> <h2>Was passiert bei der FLS-Besprechung?</h2> <p>Jeder identifizierte Patient wird eingeladen, an einer sogenannten FLS-Besprechung teilzunehmen, die von der FL-Schwester geleitet wird. Die FL-Schwester geht unter der Aufsicht eines Arztes, der Experte für Osteoporose ist, anhand eines Protokolls vor. Sie klärt bei den Patienten das individuelle Frakturrisiko mittels FRAX oder ähnlicher Methoden, bei welchen die Familienanamnese, frühere Frakturen, Lebensstilfaktoren oder eine Glukokortikoidtherapie berücksichtigt werden. Unter Berücksichtigung der lokalen Richtlinien plant sie auch eine Knochenmineraldichtemessung mittels DXA. Wenn möglich, sollte die DXA-Untersuchung eine seitliche Aufnahme der Wirbelsäule beinhalten. Mit deren Hilfe kann man ältere, bisher nicht bekannte Wirbelkörperfrakturen identifizieren. Sind solche Frakturen zusätzlich zur Indexfraktur vorhanden, ändert sich die Indikation für die Therapie. Die FL-Schwester nimmt auch eine vorläufige Abklärung hinsichtlich des Sturzrisikos vor.<br /> <br /> Die meisten Fälle sind einfach zu beurteilen, und so kann die FL-Schwester dem Allgemeinmediziner entsprechend den Richtlinien Vorschläge für den Therapiebeginn zukommen lassen. In einigen Ländern ist die FL-Schwester auch befugt, Rezepte für Medikamente für den Therapiebeginn, normalerweise Bisphosphonate, auszustellen. Bei komplexen oder ungewöhnlichen Fällen schickt sie den Patienten zu einem Spezialisten oder in eine Osteoporoseambulanz zur weiteren Abklärung. Falls zusätzlich das Sturzrisiko hoch erscheint oder komplex ist, schickt sie den Patienten zur Abklärung des Sturzrisikos an eine entsprechende Ambulanz weiter.<br /> Die wichtigste Aufgabe der FL-Schwester besteht jedoch darin, dass sie den Allgemeinmediziner, der den Patienten mit Fragilitätsfraktur behandelt, über das erhöhte Risiko für weitere Frakturen informiert und eine Therapieempfehlung unterbreitet. Der Punkt ist, dass die Osteoporose bis zum Auftreten der ersten Fraktur eine „stille“ Erkrankung ist, weil die Patienten bis dahin zumeist schmerzfrei sind. Spätestens, wenn sich die erste Fraktur ereignet hat und festgestellt worden ist, dass der Patient fragile Knochen hat und zu Stürzen neigt, sind für den Rest des Lebens des Patienten vorbeugende Maßnahmen notwendig. Dies erfordert die Überwachung und Führung des Patienten durch den Allgemeinmediziner. Aufgrund der großen Zahl betroffener Patienten ist eine lebenslange Überwachung durch Spezialambulanzen oder Krankenhäuser nicht möglich.</p> <h2>Wo gibt es detaillierte Informationen?</h2> <p>Dieser Artikel kann nur einen Überblick darüber geben, wie ein FLS funktioniert. Überall auf der Welt gibt es exzellente Richtlinien, die auf den bisherigen Erfahrungen für die Organisation von effizienten FLS basieren. Zwei gute Beispiele sind das „best practice framework“ der International Osteoporosis Foundation (<a href="http://dx.doi.org/10.1007/s00198-015-3192-0" target="_blank">http://dx.doi.org/10.1007/s00198-015-3192-0</a>) und die „clinical standards“ der UK National Osteoporosis Society (<a href="https://www.nos.org.uk/document.doc?id=1941" target="_blank">https://www.nos.org.uk/document.doc?id=1941</a>). Ein Positionspapier der Europäischen Union für geriatrische Medizin ist gerade im Entstehen.</p> <h2>Über den Autor</h2> <p>Prof. David Marsh, Professor emeritus des University College of London, war der Gründungspräsident des „Fragility Fracture Network“ (FFN) der „Bone and Joint Decade“. Die zentrale Philosophie des FFN lautet: Wenn ein Patient mit einer Fragilitätsfraktur vorstellig wird, sind das multidisziplinäre Management dieser Fraktur und die Prävention der nächsten Fraktur von gleicher Wichtigkeit. Die Vision des FFN ist „eine Welt, wo jeder, der eine Fragilitätsfraktur erleidet, die optimale Wiederherstellung seiner funktionellen Unabhängigkeit und Lebensqualität erzielen kann, ohne weitere Frakturen erleiden zu müssen“.</p></p>