
Aktuelle Themen und Herausforderungen bei der Behandlung der Epilepsie
Bericht:
Dipl.-Ing. Dr. Manuel Spalt-Zoidl
Die 13. Dreiländertagung der Deutschen und Österreichischen Gesellschaften für Epileptologie sowie der Schweizerischen Epilepsie-Liga stand im Zeichen globaler Kooperation und technologischer Innovation. Internationale Expert:innen präsentierten Erfolge beim Anfallsmonitoring und der Behandlung epileptischer Erkrankungen, thematisierten jedoch auch aktuelle Herausforderungen bei schwer behandelbaren Epilepsiesyndromen und bei der Entwicklung zukünftiger Therapien.
Globale und multidisziplinäre Anstrengungen bei der Epilepsie
Prof. Dr. Helen Cross, Präsidentin der International League Against Epilepsy (ILAE) und Direktorin der UCL Great Ormond Street Institute of Child Health (GOS ICH) am University College in London, eröffnete die Tagung mit einer Übersicht der weltweiten ILAE-Projekte. Die Vereinigung umfasst Mitglieder aus 129 Ländern mit multidisziplinären Gruppierungen wie der Young Epilepsy Section, der Nursing Section und der Pharmacy Section. Die ILAE kommuniziert über Kanäle wie YouTube und Podcasts und ist am Faktencheck bei Wikipedia-Artikeln zum Thema Epilepsie beteiligt.1
Cross stellte einen ambitionierten Intersectoral Global Action Plan (IGAP) vor. Bis zum Jahr 2030 sollen sich 90% aller Menschen mit Epilepsie ihrer Diagnose bewusst sein, 80% sollen Zugang zu einer angemessenen, leistbaren und sicheren anfallssupprimierenden Medikation (ASM) haben und 70% der Behandelten sollten eine angemessene Anfallssuppression erreichen.2 Besonders erfreulich ist, dass sich alle Länder diesem Plan verschrieben haben. Um diese ambitionierten Ziele zu erreichen, stehen Aus- und Weiterbildungen im Bereich der Epileptologie im Vordergrund. Die ILAE Academy bietet ein „Continuing Medical Education“(CME)-zertifiziertes E-Learning-Programm an, welches die Grundlagen der klinischen Epileptologie lehrt. Nach Abschluss der grundlegenden Module steht Lernenden mit der Virtual Epilepsy Academy (VIREPA) ein innovatives und adaptives Programm, welches fortgeschrittene Themen der Epileptologie behandelt, zur Verfügung.3
Wearables – die Zukunft des Epilepsie-Monitorings
Tragbare elektronische Geräte, sogenannte Wearables, stellen für Prim. Univ.-Prof. DI Dr. Christoph Baumgartner, Leiter des Epilepsiezentrums Klinik Hietzing in Wien, die Zukunft des Epilepsie-Monitorings dar. Ziele dieser Technologie umfassen die objektive Dokumentation der Anfallshäufigkeit und -schwere, die Verhinderung des plötzlichen Todes bei Epilepsie (SUDEP) sowie die Vermeidung von Verletzungen oder peinlichen Situationen im sozialen Umfeld durch unerwartete Krampfanfälle.4 Im Vordergrund der derzeitigen Forschung steht die Messung der elektrischen Hirnaktivität, der Muskelaktivität und Bewegungen sowie der Herzaktivität oder Sympathikusaktivität. Wesentliche Qualitätsmerkmale von Wearables umfassen die Sensitivität und die Rate falsch positiver Alarme (FAR).4 Baumgartner stellte in seiner Präsentation eine Reihe dieser Geräte vor (Tab. 1).5–13
Tab. 1: Übersicht über Wearables und deren Sensitivität sowie die Rate falsch positiver Alarme (FAR)
Die klinischen Praxisleitlinien der ILAE empfehlen, Wearables zur Detektion von generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfällen zusätzlich zu einer klinischen Überwachung einzusetzen. Für andere Anfälle wird die Anwendung von Wearables derzeit nicht empfohlen.14
Aktuelles bei Entwicklungs- und epileptischen Enzephalopathien
Im Präsident:innensymposium präsentierte Cross aktuelle Herausforderungen und Therapiemöglichkeiten bei einer Reihe von Entwicklungs- und epileptischen Enzephalopathien (DEE). Die Inzidenz der Epilepsie ist altersabhängig. Die höchste Inzidenz tritt bei Kindern <5 Jahren und bei Erwachsenen >65 Jahre auf und beträgt mehr als 60 pro 100000 Personen. Frühe Epilepsie ist häufiger therapieresistent und hat eine höhere Sterblichkeitsrate. Außerdem verzögert sie die globale Entwicklung bei jedem zweiten Kind mit Epilepsie um etwa zwei Jahre.15 Epilepsiesyndrome bei Neugeborenen und Säuglingen können grob in selbstlimitierende Epilepsien und DEE unterteilt werden. Bei Zweiteren treten Entwicklungsstörungen auf, die mit der zugrunde liegenden Ätiologie, unabhängig von der epileptiformen Aktivität und der epileptischen Enzephalopathie, zusammenhängen.15
Als erstes Beispiel nannte Cross infantile Spasmen, auch bekannt als West-Syndrom. Diese Spasmen treten häufig im ersten Lebensjahr auf. Sie sind durch eine kurze Beugung und Streckung des Halses sowie eine Anhebung und Ausstreckung der Extremitäten gekennzeichnet. Die Diagnose wird über ein Elektroenzephalogramm (EEG) etabliert. Infantile Spasmen sind meist subtil und werden daher häufig übersehen oder falsch diagnostiziert. Dies kann fatale Folgen haben, da selbst eine Behandlungsverzögerung von einer Woche mit einer schlechteren neurologischen Entwicklung assoziiert ist.16 Für die Behandlung des West-Syndroms stehen Steroide wie Prednisolon und Tetracosactid sowie Vigabatrin zur Verfügung. In einer Studie mit 377 Säuglingen stoppte die Kombination aus Vigabatrin plus Steroidtherapie Krampfanfälle bei 72% der Säuglinge, verglichen mit 57% der Säuglinge, die nur eine Steroidtherapie erhielten. Dies entspricht einem Unterschied von 15% (95% CI: 5,1–24,9).17
Bei fokalen Epilepsien, wie sie häufig bei tuberöser Sklerose auftreten, hat die präventive Behandlung mit Vigabatrin keinen Stellenwert. In einer Studie mit 56 Neugeborenen verbesserte die Behandlung mit Vigabatrin die neurokognitiven Symptome über 24 Monate hinweg im Vergleich zu Placebo nicht. Auch die Anzahl der fokalen Anfälle und die Inzidenz therapieresistenter Epilepsie konnte durch Vigabatrin bei tuberöser Sklerose nicht verbessert werden.18 Anders sieht es bei dem „mammalian target of rapamycin inhibitor“ (mTOR-Inhibitor) Everolimus aus. In einer Studie mit 366 Patient:innen im Alter zwischen 2 und 65 Jahren mit therapieresistenten Krampfanfällen aufgrund von tuberöser Sklerose war Everolimus 3–7ng/ml mit einer 2,2-mal höheren Wahrscheinlichkeit einer 50-prozentigen Anfallsreduktion assoziiert als Placebo (95% CI: 1,2–4,2). Bei Everolimus 9–15ng/ml war die Wahrscheinlichkeit sogar 3,9-mal höher (95% CI: 2,1–7,3).19
Ein weiteres Beispiel für DEE ist das Dravet-Syndrom. Dieses geht mit langen konvulsiven Anfällen und häufigen Hospitalisierungen einher. Bis zu 94% der Neugeborenen mit Dravet-Syndrom müssen mindestens einmal in die Notaufnahme überstellt werden. Eine Notfallmedikation sollte bei Auftreten eines Anfalls sofort angewendet werden. Daher wird empfohlen, individuelle Patient:innenpläne mit entsprechenden Notfallmedikamenten, wie Benzodiazepinen, zu erstellen, die auch von Eltern und Bezugspersonen verabreicht werden können. Bei Kindern ist die Verabreichung von Na+-Kanalblockern zu vermeiden. Als Erstlinienbehandlung empfehlen Leitlinien Valproinsäure. In zweiter Linie können Stiripentol und Clobazam ergänzt werden. Alternativ stehen ab einem Alter von 2 Jahren Cannabidiol und Fenfluramin als Zweitlinienbehandlung zur Verfügung.20
Besonders Fenfluramin zeigte vielversprechende Wirksamkeitsergebnisse zur Behandlung des Dravet-Syndroms bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen, präsentierte Prof. Dr. Bernd Wilken, Klinikum Kassel. So konnten Patient:innen, die in einer doppelblinden randomisierten Phase-III-Studie Fenfluramin 0,2mg/kg/Tag oder 0,7mg/kg/Tag erhielten, im Vergleich zu Placebo eine Reduktion um 49,9% (95% CI: 31,3–63,4) beziehungsweise 64,8% (95% CI: 51,8–74,2) der Häufigkeit ihrer konvulsiven Anfälle pro 28 Tage verzeichnen.21
Auch bei der Behandlung des Lennox-Gastaut-Syndroms bei Patient:innen zwischen 2 und 35 Jahren lieferte Fenfluramin positive Signale. In der randomisierten Zulassungsstudie stürzten Patient:innen in der Placebogruppe signifikant häufiger als jene in der Gruppe mit Fenfluramin 0,7mg/kg/Tag (medianer Unterschied –19,9%; 95% CI: 31,0–8,7).22
Gentherapie zur Behandlung der Epilepsie
Prof. Merab Kokaia, Epilepsy Center der University of Lund, Sweden, präsentierte im Rahmen des Präsident:innensymposiums eine Übersicht über Zell- und Gentherapien als mögliche Behandlungsoptionen der Zukunft. Eine der häufigsten Formen der Epilepsie ist die Frontallappenepilepsie. Diese ist oft therapieresistent und spricht nicht auf herkömmliche ASM an. Mithilfe von Gentherapie könnte hier eine alternative Behandlungsmöglichkeit geschaffen werden. So konnten Kokaia und Kolleg:innen zeigen, dass die Überexpression der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren des Neuropeptids Y (NPY) durch rekombinante adenoassoziierte Virus-Vektoren (rAAC) zu einer anhaltenden Anfallssuppression in Mäusen führte.23 Neben NPY ist auch der „glial cell line-derived neurotrophic factor“ (GDNF) im Zentralnervensystem weit verbreitet. Eine virale vektorbasierte Überexpression von GDNF führte ebenfalls zu einem anfallssupprimierenden Effekt in Tiermodellen.24 Obwohl erste Hinweise auf eine Wirksamkeit von Gentherapien bei Patient:innen mit Frontallappenepilepsie vorliegen, muss diese noch durch randomisierte klinische Studien etabliert werden.
Quelle:
13. Dreiländertagung der Deutschen und Österreichischen Gesellschaften für Epileptologie und der Schweizerischen Epilepsie-Liga, 26.–29.3.2025, Salzburg
Literatur:
1 https://www.ilae.org/about-ilae/structure-and-working-groups/commissions-and-sections, letzter Zugriff am 7.4.2025 2 Strategic plan 2022–2026. International Bureau for Epilepsy; Verfügbar online: https://www.ibe-epilepsy.org/wp-content/uploads/2022/04/IBE-Strategic-Plan-22-FINAL.pdf, letzter Zugriff am 7.4.2025 3 Blümcke I et al.: A structured, blended learning program towards proficiency in epileptology: the launch of the ILAE academy level 2 program. Epileptic Disord 2022; 24(5): 737-50 4 Surges R.: Wearables in Epilepsien. Klin Neurophysiologie 2021; 52(1): 29-38 5 You S et al.: Semi-supervised automatic seizure detection using personalized anomaly detecting variational autoencoder with behind-the-ear EEG. Comput Methods Programs Biomed 2022; 213: 106542 6 Swinnen L et al.: Accurate detection of typical absence seizures in adults and children using a two-channel electroencephalographic wearable behind the ears. Epilepsia 2021; 62(11): 2741-52 7 Japaridze G et al.: Automated detection of absence seizures using a wearable electroencephalographic device: a phase 3 validation study and feasibility of automated behavioral testing. Epilepsia 2023; 64(Suppl 4): S40-6 8 Beniczky S et al.: Automated real-time detection of tonic-clonic seizures using a wearable EMG device. Neurology 2018; 90(5): e428-34 9 Jeppesen J et al.: Seizure detection based on heart rate variability using a wearable electrocardiography device. Epilepsia 2019; 60(10): 2105-13 10 Casanovas Ortega M et al.: Electrodermal activity response during seizures: a systematic review and meta-analysis. Epilepsy Behav 2022; 134: 108864 11 Onorati F et al.: Prospective study of a multimodal convulsive seizure detection wearable system on pediatric and adult patients in the epilepsy monitoring unit. Front Neurol 2021; 12: 724904 12 Vakilna YS et al.: Reliable detection of generalized convulsive seizures using an off-the-shelf digital watch: a multisite phase 2 study. Epilepsia 2024; 65(7): 2054-68 13 Shah S et al.: Prospective multicenter study of continuous tonic-clonic seizure monitoring on Apple Watch in epilepsy monitoring units and ambulatory environments. Epilepsy Behav 2024; 158: 109908 14 Beniczky S et al.: Automated seizure detection using wearable devices: a clinical practice guideline of the international league against epilepsy and the international federation of clinical neurophysiology. Clin Neurophysiol 2021; 132(5): 1173-84 15 Zuberi SM et al.: ILAE classification and definition of epilepsy syndromes with onset in neonates and infants: position statement by the ILAE Task Force on Nosology and Definitions. Epilepsia 2022; 63(6): 1349-97 16 Hussain SA et al.: Recognition of infantile spasms is often delayed: the ASSIST study. J Pediatr 2017; 190: 215-21.e1 17 O’Callaghan FJ et al.: Safety and effectiveness of hormonal treatment versus hormonal treatment with vigabatrin for infantile spasms (ICISS): a randomised, multicentre, open-label trial. Lancet Neurol 2017; 16(1): 33-42 18 Bebin EM et al.: Early treatment with vigabatrin does not decrease focal seizures or improve cognition in tuberous sclerosis complex: the PREVeNT trial. Ann Neurol 2023; doi: 10.1002/ana.26778 19 French JA et al.: Adjunctive everolimus therapy for treatment-resistant focal-onset seizures associated with tuberous sclerosis (EXIST-3): a phase 3, randomised, double-blind, placebo-controlled study. Lancet 2016; 388(10056): 2153-63 20 Cross JH et al.: Dravet syndrome: treatment options and management of prolonged seizures. Epilepsia 2019; 60(Suppl 3): S39-48 21 Sullivan J et al.: Fenfluramine in the treatment of dravet syndrome: results of a third randomized, placebo-controlled clinical trial. Epilepsia 2023; 64(10): 2653-66 22 Knupp KG et al.: Efficacy and safety of fenfluramine for the treatment of seizures associated with lennox-gastaut syndrome: a randomized clinical trial. JAMA Neurol 2022; 79(6): 554-64 23 Ledri LN et al.: Translational approach for gene therapy in epilepsy: model system and unilateral overexpression of neuropeptide y and y2 receptors. Neurobiol Dis 2016; 86: 52-61 24 Mikroulis A et al.: GDNF increases inhibitory synaptic drive on principal neurons in the hippocampus via activation of the Ret pathway. Int J Mol Sci 2022; 23(21): 13190
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