© Juan Barreto AFP

Psychiatrie unter Beschuss

«Vor dem Krieg gab es 61 psychiatrische Kliniken - heute ist jede Sechste zerstört»

Rundherum tobt Krieg, doch sie muss ihre Abteilung am Laufen halten. Prof. Dr. med. Irina Pinchuk leitet das Institut für Psychiatrie an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew. In einer SGPP-Keynote schockierte sie mit Einblicken in die äussere Verwüstung des Landes – und die im Inneren ihrer Mitmenschen. Eine Momentaufnahme nach 21 Monaten Krieg.

Prof. Pinchuk, wie haben Sie den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 in Erinnerung?

I. Pinchuk: Dieser Tag hat mein Leben verändert. Ich wurde von einem Anruf geweckt, weil Freunde aus dem Westen der Ukraine wissen wollten, was in Kiew passiert. Eigentlich hätte der 24. Februar mein letzter Arbeitstag vor dem Urlaub sein sollen. Ich hatte einen Flug nach Frankfurt gebucht, denn mein Mann und ich wollten für die Geburt unseres Enkels zu unserer Tochter reisen. Den Geburtstag unseres Enkelkindes am 26. Februar verbrachten wir in einem Luftschutzbunker, in der Hoffnung, dass wir ihn eines Tages sehen würden.

Am Tag des Kriegsausbruchs, am 24. Februar, hätte ich eine Vorlesung für Studierende halten sollen. Stattdessen beschloss ich mit Mitarbeiter:innen des Instituts für Psychiatrie die Hotline «Stop Panic» sofort wieder aufzunehmen – die Initiative war bereits während der Covid-19-Pandemie erfolgreich. Wir teilten unsere Handynummern in den sozialen Medien und erhielten augenblicklich die ersten Anrufe. Rund um die Uhr läutete das Telefon. Aus den Fenstern meiner Wohnung sah ich Explosionen und Brände. Ich packte eine Notfalltasche mit Dokumenten, einem Laptop, Wasser, Brot und Kleidung. Dann brachten mein Mann und ich uns in einem der Bunker in Sicherheit, wo wir die meiste Zeit in den ersten zwei Wochen des Krieges verbrachten.

Homestory «ohne Home»

In unserem Journal stellen wir in jeder Ausgabe ein wegweisendes Projekt, eine Einrichtung oder Praxis vor.
Diesmal möchten wir die Rubrik «Homestory» der Bevölkerung eines ganzen Landes widmen: den Ukrainerinnen und Ukrainern. Welche Sorgen treiben sie um? Was bedeutet Krieg für die Psyche? Und können psychiatrisch Kranke in der Ukraine noch versorgt werden?

Wir teilen die Eindrücke von Prof. Dr. med. Irina Pinchuk, die in Kiew die Stellung hält.

Seitdem sind 21 Monate vergangen. Wie sieht heute ein «normaler» Arbeitstag für Sie aus?

I. Pinchuk: Im Grossen und Ganzen ist der Arbeitstag wie früher, aber es gibt einige Besonderheiten. Manchmal bringen Raketen- oder Drohnenangriffe den Tagesablauf durcheinander. Dann werden der Unterricht und Sitzungen ausgesetzt. Insgesamt arbeiten wir heute flexibler und wechseln je nach Situation zwischen offline- und online-Arbeit.

Können Sie das Trauma der Ukrainer:innen für uns zusammenfassen?

I. Pinchuk: Mittlerweile hat Russland 18 Prozent des Territoriums der Ukraine besetzt. Die anhaltenden Kämpfe bringen verschiedene traumatischen Faktoren mit sich. Einer der wesentlichen ist die anhaltende Belastung, die durch das Massentrauma «Krieg» auf die Menschen wirkt. Wir sind ständig umgeben von traumatischen Informationen, die in den Medien und auf sozialen Plattformen geteilt werden. Dazu kommt die Belastung auf der persönlichen Ebene, weil Familien auseinandergerissen wurden und der Krieg Millionen von Menschen zu Binnenvertriebenen und Flüchtlingen machte.

Lassen sich solche Erlebnisse in Zahlen ausdrücken?

I. Pinchuk: Natürlich sind es individuelle Erfahrungen, aber eine nationale Untersuchung im Oktober 2022 ergab, dass der Krieg damals bereits über 32 Mio. Menschen direkt oder indirekt betraf – das sind drei Viertel der Einwohner:innen unseres Landes.

7,8 Mio. Familien mussten sich trennen. 6,4 Mio. Familien erlebten, dass ihr Wohnort besetzt wurde, 6 Mio. verloren Ersparnisse oder Eigentum, 5,3 Mio. ihr Zuhause und 1,1 Mio. hungerten. Etwa 100 000 Menschen betrauerten zum damaligen Zeitpunkt verstorbene Verwandte oder Freund:innen. 20,8 Mio. Menschen verloren ihr Einkommen, fast die Hälfte davon hatte keinen Zugang zu lebenswichtigen Gütern.

Diese Situation schlägt sich selbstverständlich auch auf die Psyche nieder: Der Studie zufolge verschlechterte sich der mentale Zustand bei 15,6 Mio. ukrainischen Familien. Heute sind diese ohnehin schon dramatischen Zahlen aller Wahrscheinlichkeit nach noch höher.

Wie schätzen Sie die medizinische Versorgung von Menschen mit psychischen oder psychiatrischen Problemen derzeit ein?

I. Pinchuk: Vor dem Krieg gab es in der Ukraine 61 psychiatrische Kliniken. Jede Sechste ist heute zerstört, teilweise unwiederbringlich. Davon abgesehen leidet die Struktur der psychiatrischen Dienste schwer unter den Kämpfen. Es fehlt an Personal – und das in einer Zeit, in der wir eine grosse Zahl von Krankenhauseinweisungen auf Kriegstraumata zurückführen können.

Zur Personalsituation haben Sie eine Untersuchung veröffentlicht. Was waren die Ergebnisse?

I. Pinchuk: Wir baten die Leiter:innen von 32 stationären psychiatrischen Einrichtungen einen online-Fragebogen über den Zeitraum Januar bis April 2022 auszufüllen. Damals hatte der Krieg bereits jede zehnte Person aus dem medizinischen Personal vertrieben; ein halbes Prozent war verletzt. In einer der Einrichtungen erlitten sogar 46 Prozent des medizinischen Personals Verletzungen. Den Personalmangel verstärkt die zusätzliche Arbeitsbelastung und die Notwendigkeit, Patient:innen und Personal rasch evakuieren zu können. Deshalb war die Personalfrage von Beginn des Krieges entscheidend und ist es auch heute noch.

Welche anderen Sorgen bereitete der Krieg speziell für die Gesundheitsversorgung?

I. Pinchuk: Die Themen ändern sich je nach Kriegsphase. Bei der medizinischen Versorgung stand anfangs die Frage im Zentrum, wie sich Schliessungen auswirken würden. Was, wenn Arzneimittelfabriken zerstört werden oder in den Apotheken die Medikamente fehlen? Diese Punkte wurden vor allem zu Kriegsbeginn besprochen. Mittlerweile haben sich die Diskussionen verschoben, die Situation ist sehr dynamisch.

Inwiefern?

I. Pinchuk: Wenn wir ein Jahr weiter blicken, dann konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die plötzlichen Veränderungen im Alltag und in den Lebensplänen. Zu den vordergründigen Themen zählten nun Verletzungen, Krankheiten und Gewalt, auch kriegsbedingte sexuelle Gewalt. Die Menschen litten darunter, dass sie umsiedeln und sich von Angehörigen trennen mussten. Viele Ukrainer:innen hatten mit dem Verlust von geliebten Personen zu kämpfen, sowie von ihren Wohnungen, ihrem Einkommen oder ihrem Ausbildungsplatz.

Wie ist die Situation heute?

I. Pinchuk: Aktuell diskutieren wir intensiv, wie mit Landminen umgegangen werden soll. Ein Drittel des ukrainischen Territoriums ist mittlerweile vermint. Ausserdem beschäftigt uns, wie und wann Kriegsgefangene zurückkehren können und wie wir mit dem wirtschaftlichen Schaden umgehen sollen. Viele Betriebe wurden zerstört, dazu Wohnraum und Infrastruktur. Im Alltag merken wir das an Unterbrechungen in den Versorgungsketten, sei es für Lebensmittel, Wasser oder Medikamente.

Die Belastungsgrenze vieler Menschen ist weit überschritten. Was bedeutet das für Sie als Psychiaterin?

I. Pinchuk: Laut der WHO ist jede:r vierte Ukrainer:in gefährdet, aufgrund des Konflikts an einer psychischen Störung zu erkranken. Aus einer Publikation der Medizinischen Universität in Kiew geht hervor, dass die Prävalenz von Posttraumatischen Belastungsstörungen, kurz PTBS, und Depressionen zunimmt. Damit steigt auch das Risiko für psychische Probleme bei Kindern, deren Mütter an PTBS leiden. Gleichzeitig nimmt der Drogenkonsum zu, ebenso die somatischen Probleme wie Infektionen, Allergien und Herz-Kreislauf-Probleme.

Die Autor:innen der Studie gehen davon aus, dass wir Psychiater:innen und andere spezialisierte Dienste zusätzlich 1 bis 2 Mio. Menschen mit mittelschweren und schweren psychischen Störungen versorgen werden müssen. Ausserdem erwarten sie zusätzlich 2 bis 3 Mio. Menschen, die an leichten psychischen Störungen erkranken und ebenfalls psychologische Hilfe brauchen. Insgesamt wächst die Risikogruppe für psychische Probleme um 18 Mio. Menschen an, die Plätze in Selbsthilfegruppen brauchen oder Hotlines, bei denen sie sich Unterstützung holen können.

Unter diesen 18 Mio. Menschen finden sich verschiedenste Personengruppen mit eigenen Bedürfnissen. Gibt es bereits spezifische wissenschaftliche Untersuchungen?

I. Pinchuk: Mein Team beschäftigt sich zum Beispiel intensiv mit der Versorgungsstruktur von Patient:innen mit einer Substanzgebrauchsstörung. Über den Zugang zu Substitutionstherapien haben wir im August vergangenen Jahres eine Studie veröffentlicht.

Auch über die psychische Gesundheit der Menschen, die ins Ausland geflohen sind, gibt es mittlerweile wissenschaftliche Publikationen. So beschrieben Buchcik et al. kürzlich, dass geflüchtete Frauen in Deutschland von einer signifikant höheren psychischen Belastung betroffen sind, sowie von depressiven Symptomen und Angstzuständen.

Im ukrainischen Militär sind Angstsymptome und Depressionen mit über 40 Prozent ebenfalls häufig und 12 Prozent der Soldaten leiden unter Schlaflosigkeit. Diese Symptome sind interessanterweise bei den territorialen Verteidigungskräften deutlicher ausgeprägt als in der regulären Armee in aktiven Kriegsgebieten.

Neben diesen Arbeiten können wir frühere Publikationen aus der Region Donezk heranziehen. Sie zeigen zum Beispiel, dass sich bei Jugendlichen das Risiko erhöht, PTBS, schwere Angstzustände oder Depressionen zu entwickeln.

Wo können Interessierte mehr über die Situation erfahren, besonders in Hinblick auf die psychiatrische Versorgung?

I. Pinchuk: In zwei zentralen Artikeln, die aus der neunten Jahreskonferenz der Ukrainischen Psychiatrischen Vereinigung am 24. Februar 2023 hervorgingen: «The Price of Peace in Our Time» veröffentlicht in World Psychiatry, und «Ukraine: resilience and reconstruction» in The Lancet Psychiatry. Ausserdem arbeitet eine Gruppe von Kommissionsmitgliedern derzeit in der Ukraine an der Erstellung eines Berichts über die psychische Gesundheit und die Zukunft der Psychiatrie in der Ukraine. Die Ergebnisse könnten für uns von strategischer Bedeutung sein, um ein neues Modell der psychiatrischen Versorgung zu schaffen, das auf evidenzbasierten Interventionen und dem Schutz der Rechte der Menschen beruht.

Welche Unterstützung wünschen Sie sich von Schweizer Ärzt:innen?

I. Pinchuk: Das Wichtigste für uns ist, nicht allein gelassen zu werden. Wir haben eine schreckliche, aber einzigartige Erfahrung gemacht. Sie können uns helfen, aus dieser Erfahrung zu lernen und sie weltweit zu verbreiten, um die psychiatrische Versorgung in Notfallsituationen zu verbessern.

Prof. Pinchuk, Sie erleben Unvorstellbares. Vielen Dank, dass Sie Ihre Eindrücke mit uns geteilt haben. Zum Schluss möchten wir noch fragen, wofür Sie in diesen schweren Zeiten besonders dankbar sind?

I. Pinchuk: Ich bin dankbar für die Tatsache, dass ich noch am Leben bin und es mir gut geht. Für meinen Enkel, den ich zwei Monate nach seiner Geburt zum ersten Mal besuchen konnte. Und natürlich für die mentale Stärke und die Einigkeit der Ukrainer:innen in dieser dunklen Zeit sowie die internationale Unterstützung, ohne die wir nicht mehr existieren würden.

Wir danken für das Gespräch!

Unsere Identität kann man uns nicht nehmen

«In der Ukraine tragen wir traditionell bestickte Hemden. Sie sind für uns nicht nur Kleidung, sondern unsere Identität. Auf diesen Fotos sind sechs Generationen meiner Familie in solchen Hemden zu sehen: meine Urgrossmutter, meine Grosseltern, mein Vater, ich, meine Tochter und mein Enkel. In der ukrainischen Stickerei hat jede Farbe eine eigene Bedeutung: Rot symbolisiert Liebe, Freude und das Fortbestehen. Gelb steht für die Sonne, für Gesundheit und Reichtum; Blau für das Wasser. Für mich sind diese Fotos ein Beweis für die Existenz der Ukrainer:innen. Unser Volk ist keine Erfindung. Wir waren, sind und werden sein.»

© privat

Interview basierend auf eine Symposium beim SGPP-Kongress 7.–8. September 2023, Bern

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