
Vorhersagemodell für Rezidive von venösen Thrombosen
Autor:innen:
Univ.-Prof. Dr. Sabine Eichinger
Univ.-Prof. Dr. Paul A. Kyrle
Univ.-Klinik für Innere Medizin I
Klinische Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie
Allgemeines Krankenhaus Wien
Patienten mit spontaner Venenthrombose haben ein hohes Rezidivrisiko und die Leitlinien empfehlen daher eine langfristige Therapie mit Antikoagulanzien. Allerdings rezidivieren in einem Zeitraum von 20 Jahren etwa 50% der Patienten. D.h., ein Großteil bleibt frei von Rezidiven. Es ist daher wünschenswert, jene Patienten zu identifizieren, die von einer langfristigen Gerinnungshemmung aufgrund ihres niedrigen Rezidivrisikos nicht profitieren würden.
Keypoints
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Das VPM identifiziert Patienten mit einem niedrigen Risiko für Rezidivevenöser Thromboembolien.
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Es erlaubt eine genauere Einschätzung des Rezidivrisikos in der Gruppe von Niedrig-Risiko-Patienten.
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Das VPM erleichtert Therapieentscheidungen im Hinblick auf die Dauer der Antikoagulationstherapie, besonders wenn sich Blutungsrisiko und Rezidivrisiko die Waage halten.
Die Dauer einer Therapie mit Antikoagulanzien nach einer venösen Thromboembolie richtet sich einerseits nach dem Rezidivrisiko und andererseits nach dem Blutungsrisiko. Patienten mit einer Beinvenenthrombose oder Lungenembolie, die spontan, d.h. in Abwesenheit einer zeitlich begrenzten Risikosituation, aufgetreten ist, haben ein hohes Rezidivrisiko (Abb. 1). Sie werden daher entsprechend internationalen Leitlinien langfristig mit Antikoagulanzien behandelt. Dieser einheitliche Therapieansatz bedingt, dass viele Patienten, die wegen ihres geringeren Rezidivrisikos niemals eine Thrombose erleiden würden, den Gefahren und Unannehmlichkeiten einer langfristigen Antikoagulationstherapie ausgesetzt werden.
Abb. 1: Kumulative Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv nach einer ersten spontanen Beinvenenthrombose oder Lungenembolie (nach Kyrle PA et al.: Austrian study on recurrent venous thromboembolism (AUREC), J Thromb Haemost 2016)
Das „Vienna Prediction Model“
In den letzten Jahren wurden Vorhersagemodelle zur Einschätzung des Rezidivrisikos mit dem Ziel entwickelt, die Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko zu identifizieren. Das „Vienna Prediction Model“ (VPM), eines dieser Risikobewertungsmodelle, berechnet das Rezidivrisiko anhand von zwei konstitutionellen Risikofaktoren (Geschlecht und Lokalisation der venösen Thromboembolie) und einem laborbezogenen Risikofaktor (D-Dimer). In einer prospektiven Kohortenstudie mit 800 Teilnehmenden fand sich bei zwei Dritteln dieser Patienten ein Rezidivrisiko von unter 5% innerhalb eines Jahres nach Absetzen der Antikoagulationstherapie.1 Diese Patienten würden aus unserer Sicht von einer langfristigen Antikoagulanzientherapie nicht profitieren und sind daher Kandidaten für eine zeitlich limitierte, nicht länger als 6 Monate dauernde Gerinnungshemmung.
Validierung & Anwendung des VPM
Das VPM wurde mehrfach extern validiert, u.a. in einer großen prospektiven Studie in den Niederlanden.2 Wir selbst validierten das VPM in einer weiteren prospektiven Kohortenstudie, die zwischen 2013 und 2019 an den Medizinischen Universitäten Wien und Graz durchgeführt wurden.3 In diese Studie wurden 520 Patienten mit einer spontanen Beinvenenthrombose oder Lungenembolie und einem mit dem VPM prognostizierten jährlichen Rezidivrisiko von bis zu 5,5% eingeschlossen. Die Patienten wurden im Median vier Monate mit einem Antikoagulans behandelt. Danach kam es innerhalb von zwei Jahren zu 52 Rezidiven. Das kumulative Rezidivrisiko betrug nach einem Jahr 5,2% und nach zwei Jahren 11,2%. Das VPM unterschätzte in dieser Studie das Rezidivrisiko, vor allem im zweiten Jahr und bei Patienten mit einem höheren Risiko, und wurde dementsprechend rekalibriert. Das rekalibrierte VPM identifiziert nicht nur Patienten mit einem niedrigen Rezidivrisiko, sondern ermöglicht auch eine noch genauere Quantifizierung des Rezidivrisikos innerhalb dieser Niedrig-Risiko-Kohorte. Frauen haben, unabhängig von der Lokalisation der Thrombose, ein niedriges Rezidivrisiko, ebenso Männer nach einer Unterschenkelvenenthrombose (Abb. 2). Beide Patientengruppen würden von einer langfristigen Gerinnungshemmung, wie sie die derzeit geltenden Leitlinien vorsehen, nicht profitieren. Männer mit proximaler Venenthrombose oder Lungenembolie haben ein höheres Rezidivrisiko, das abhängig vom D-Dimer zwischen 5% und 8% liegt. Bei diesen Patienten kann das VPM als Grundlage für einen Dialog zwischen Patienten und Arzt im Hinblick auf die individuelle Einschätzung der optimalen Therapiedauer dienen.
Abb. 2: Rezidivrisiko von Frauen und Männern mit einer ersten spontanen Beinvenenthrombose oder Lungenembolie (nach Kyrle PA et al.: Eur Heart J 2024)3
Literatur:
1 Eichinger S et al.: Risk assessment of recurrence in patients with unprovoked deep vein thrombosis or pulmonary embolism: the Vienna prediction model. Circulation 2010; 121(14): 1630-6 2 Geersing GJ et al.: Effect of tailoring anticoagulant treatment duration by applying a recurrence risk prediction model in patients with venous thromboembolism compared to usual care: a randomized controlled trial. PLoS Med 2020; 17: e1003142 3 Kyrle PA et a.: The Vienna Prediction Model for identifying patients at low risk of recurrent venous thromboembolism: a prospective cohort study. Eur Heart J 2024; 45(1): 45-53