
©
Getty Images/iStockphoto
Statine in der Primärprophylaxe
Leading Opinions
30
Min. Lesezeit
20.10.2016
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Es gibt Rechner für das kardiovaskuläre Risiko und evidenzbasierte Empfehlungen, wer von einem Statin profitiert. Wichtiger als ein konsequentes Vorgehen nach der Evidenz ist es, gemeinsam mit dem Patienten eine Entscheidung zu treffen. An der Frühjahrsversammlung der SGAIM in Basel erklärte der Internist und Endokrinologe PD Dr. med. Philipp Gerber, wie man in der Praxis am besten vorgeht.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Derart aktuelle Referate hört man selten. PD Dr. med. Philipp Gerber, Oberarzt an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährung am Universitätsspital Zürich, präsentierte an seinem Workshop, in dem es um Cholesterin in der Primärprophylaxe kardiovaskulärer Erkrankungen ging, eine neue Studie, die just an diesem Tag im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden war. In der HOPE-3-Studie von Salim Yusuf und Kollegen hatten 12 705 Probanden ohne kardiovaskuläre Krankheiten, aber mit intermediärem Risiko dafür entweder 10mg Rosuvastatin bekommen oder Placebo. Eingeschlossen wurden Männer über 54 und Frauen über 64 Jahre, die mindestens einen der folgenden Risikofaktoren hatten: zu hohes Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang, zu geringes HDL-Cholesterin, Raucher oder bis vor Kurzem Raucher, Blutzuckerstoffwechselstörungen, koronare Krankheiten in jungen Jahren bei Familienmitgliedern, leichte Niereninsuffizienz. Eingeschlossen wurden auch Frauen über 59, bei denen sich mindestens zwei der genannten Risikofaktoren nachweisen liessen. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten war unter dem Statin signifikant geringer: Der primäre Endpunkt – die Kombination aus Tod aufgrund von kardiovaskulären Ursachen, nicht tödlichem Myokardinfarkt und nicht tödlichem Schlaganfall – trat bei 4,8 % der Probanden in der Placebogruppe auf und bei 3,7 % in der Rosuvastatin-Gruppe (HR: 0,76; 95 % CI: 0,64–0,9; p=0,002). Der zweite kombinierte primäre Endpunkt umfasste zusätzlich Reanimation aufgrund von Herzstillstand, Herzinsuffizienz und Revaskularisation (Abb. 1).<br /> «Man muss aber genau schauen, was die Ergebnisse bedeuten, und nicht gleich jedem Patienten mit mittlerem Risiko unkritisch ein Statin verschreiben», bermerkte Gerber. Er hat ausgerechnet, dass von 1000 Probanden während der im Median 5,6 Jahre dauernden Studie 986 keinen Benefit bezüglich kardiovaskulärer Krankheiten hatten. 3 der 14 Probanden (pro 1000), die profitierten, überlebten dank Rosuvastatin. 38 von 1000 Probanden (3,8 % ) in der Verumgruppe mussten sich einer Kataraktoperation unterziehen gegenüber 3,1 % in der Placebogruppe (p=0,02). «Katarakt ist eine mögliche unerwünschte Wirkung der Statine, die allerdings noch wenig erforscht ist», sagte Gerber. Signifikant mehr Patienten in der Rosuvastatin-Gruppe klagten ausserdem über Muskelschmerzen oder Schwächegefühl in den Muskeln (5,8 % vs. 4,7 % , p=0,005), aber es brachen deshalb nicht signifikant mehr Teilnehmer die Studie ab. Der immer wieder geäusserte Verdacht, Statine könnten einen Diabetes induzieren, wurde nicht bestätigt: In beiden Gruppen wurde ähnlich häufig ein zuvor nicht bekannter Diabetes diagnostiziert (3,9 % vs. 3,8 % , p=0,82). Unabhängig vom Ausgangswert senkte das Statin den LDL-Wert um 20–30 % . Anhand der angegebenen Durchschnittswerte berechnete Gerber das kardiovaskuläre 10-Jahres-Risiko der Studienteilnehmer mittels AGLA-Rechner (www.agla.ch/risikoberechnung/agla-risikorechner) und kam auf einen Wert von etwa 7 % . «Gemäss unseren Kriterien würde man solche Patienten nicht mit einem Statin behandeln», sagte der Referent.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1605_Weblinks_seite65.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>«Man muss genau überlegen, inwiefern ein Patient von einer Primärprophylaxe profitiert.» Man kann das Risiko ausrechnen und evidenzbasiert Medikamente verschreiben. «Wichtig ist aber: Ist der Patient damit einverstanden?», so Gerber. «Und fühlen auch wir uns wohl mit der Entscheidung?» Mit einer Änderung des Lebensstils kann man den LDL-Wert häufig nur wenig senken, maximal um rund 20 % , meistens jedoch deutlich weniger. Zu einer ausgewogenen Ernährung, die das kardiovaskuläre Risiko senken soll, gehört gemäss AGLA-Richtlinien eine genügende Menge an Obst und Gemüse, fettarmen Milchprodukten, Fisch, magerem Fleisch und Vollkornprodukten. Weniger als 35 % der Energie sollte man in Form von Fett aufnehmen und gesättigte Fettsäuren sollten weniger als 10 % der totalen Fettaufnahme ausmachen. Weniger als 5 Gramm Kochsalz pro Tag, keine zuckerhaltigen Softdrinks und Normalgewicht anstreben, täglich 30 Minuten Ausdauersport, nicht rauchen und nur massvoll Alkohol trinken – allein diese Ratschläge lassen Patienten oft gleich auf der Türschwelle der Praxis umdrehen.<br /> Ob man solchen Patienten lieber gleich ein Statin verschreibt oder doch noch einmal das Gespräch sucht, kommt auf den Patienten an. Gerber berichtete von einem 50-jährigen Immobilienmakler aus seiner Sprechstunde, der zu einem Check-up kam. Er fühlte sich gesund und hatte keine Beschwerden. Der Mann trinkt jeden Tag 1–2 Gläser Wein und raucht zehn Zigaretten pro Tag. Sein Vater war mit 75 Jahren an Typ-2-Diabetes erkrankt und nimmt orale Antidiabetika. Die körperliche Untersuchung war bis auf viszeral betontes Übergewicht unauffällig: Der Mann hatte einen BMI von 34,1kg/m<sup>2</sup>, der Blutdruck betrug 140/85 mmHg, Herzfrequenz 60/min, Glukose 5,9mmol/l, Triglyzeride 2,0 mmol/l, HDL 1,21mmol/l, LDL 2,89 mmol/l, Gesamt-Cholesterol 5,01 mmol/l und Kreatinin 97µmol/l. Gemäss AGLA-Rechner beträgt das kardiovaskuläre Risiko des Mannes 4,7 % . «Damit wären wir bei dem Mann noch weit entfernt von einer Statintherapie», sagte Gerner. Die AGLA empfiehlt bei einem Risiko <10 % zunächst eine Optimierung des Lebensstils. «Der AGLA-Rechner berücksichtigt aber bestimmte Risikofaktoren nicht ausreichend, weshalb das effektive Risiko höher sein kann», erklärte Gerber. Dazu gehören ein metabolisches Syndrom und eine in der Bildgebung nachgewiesene klinisch asymptomatische Atherosklerose. Der Mann hatte eindeutig ein metabolisches Syndrom, und der Rechner der American Heart Association (AHA; <a href="http://tools.acc.org/ASCVD-Risk-Estimator/" target="_blank">http://tools.acc.org/ASCVD-Risk-Estimator/</a>) ergab bei dem Mann konsequenterweise ein 10-Jahres-Risiko von 9,2 % . Auf das ganze Leben bezogen, betrug das Risiko sogar 50 % . «Mit einer optimalen Einstellung der modifizierbaren Risikofaktoren liesse sich dieses aber auf 5 % senken», erklärte Gerber. «Es lohnt sich also, den Mann darüber aufzuklären.» Obwohl die AHA-Leitlinien<sup>2</sup> in diesem Fall ein Statin empfehlen (Abb. 2), würde er dem Mann zunächst keines geben. «Ich würde ihn zuerst ermuntern, mit dem Rauchen aufzuhören, sich mehr zu bewegen und abzunehmen. Der Mann war vorher noch nie beim Arzt – vielleicht ist er empfänglich dafür.» In einem halben Jahr werde er den Patienten wieder einbestellen und das Risiko noch einmal berechnen. «Wenn er seinen Lebensstil nicht ändern kann oder will, kann ich ihm dann immer noch ein Statin verschreiben.» <br /> Um den Patienten die Zahlen besser zu verdeutlichen, hat die Mayo Clinic ein spezielles Online-Werkzeug entwickelt (<a href="https://statindecisionaid.mayoclinic.org/" target="_blank">https://statindecisionaid.mayoclinic.org/</a>). «Für jeden Patienten bekommt man hier ein Blatt, auf dem sein individuelles Risiko grafisch dargestellt ist. Solche Visualisierungen können helfen, dem Patienten das Problem vor Augen zu führen und mit ihm gemeinsam eine Entscheidung zu treffen.» Nicht vergessen dürfe man zudem, dass sich das Risiko im Laufe der Zeit ändern könne und man es daher gelegentlich neu berechnen müsse. Gerber ermunterte auch dazu, darüber zu diskutieren, wann man bei älteren Patienten die Statintherapie absetzen könne. «Es hat keinen Sinn, einem multimorbiden Patienten mit einer kurzen Lebenserwartung weiterhin ein Statin zu verschreiben», sagte er. Aber bei einem biologisch jungen, fitten 75-Jährigen könne ein Statin durchaus angezeigt sein, auch wenn die Evidenz in diesem Altersbereich dünner werde. «Egal ob alt oder jung: Wir sollten uns Zeit nehmen, unsere Patienten aufzuklären, und dann mit ihnen gemeinsam eine Entscheidung treffen.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1605_Weblinks_seite66.jpg" alt="" width="" height="" /></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Yusuf S et al; HOPE-3 Investigators: Cholesterol lowering in intermediate-risk persons without cardiovascular disease. New Engl J Med 2016; 374: 2021-31 <strong>2</strong> Stone NJ et al; American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines: 2013 ACC/AHA guideline on the treatment of blood cholesterol to reduce atherosclerotic cardiovascular risk in adults: a report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines. J Am Coll Cardiol 2014; 63: 2889-934</p>
</div>
</p>