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Neue ESC-Leitlinien zur Herzinsuffizienz: Das ändert sich für die Praxis
Leading Opinions
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01.09.2016
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<p class="article-intro">Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) hat vier Jahre nach dem letzten Update ihre Leitlinien zum Management bei Herzinsuffizienz erneut aktualisiert. Neu sind unter anderem eine modifizierte Klassifikation und eine neue Doppeltherapie mit Valsartan/Sacubitril. Am Heart Failure Congress in Florenz stellte die ESC gemeinsam mit der Heart Failure Association die überarbeiteten Leitlinien vor, zeitgleich wurden sie im «European Heart Journal» veröffentlicht.<sup>1</sup> Wir sprachen in Florenz mit Prof. Dr. med. Christian Müller, Leitender Arzt Kardiologie am Universitätsspital Basel, und fragten ihn, was er von den wichtigsten Neuerungen hält und welche Konsequenzen sie für die Praxis haben.</p>
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<p class="article-content"><p><strong>Herr Prof. Müller, war nach vier Jahren schon wieder eine Aktualisierung der Leitlinien notwendig?</strong><br /> <strong>Christian Müller:</strong> Ja, auf jeden Fall. In den vergangenen fünf Jahren sind einige neue Studien erschienen, und wir Ärzte müssen wissen, was die neuen Erkenntnisse für unsere Patienten bedeuten und wie wir sie in die Praxis umsetzen sollen. Ein Beispiel ist das neue Kombinationspräparat aus Valsartan und dem Neprilysin-Inhibitor Sacubitril (Entresto®). Die PARADIGM-HF-Studie zeigte, dass diese Kombination bei bestimmten Patienten wirksamer ist als Enalapril.<sup>2</sup> Die Studie bedeutet wirklich einen Paradigmenwechsel. Denn jetzt sollte man Patienten mit bestimmten Kriterien statt ACE-Hemmern oder AT1-Blockern das Kombina-tionspräparat geben: ambulanten Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz mit einer schwer eingeschränkten linksventri-kulären Ejektionsfraktion von ≤35 % (HFrEF), erhöhten Spiegeln an natriuretischen Peptiden, einer glomerulären Filtrationsrate von ≥30ml/min/1,73m2, die eine Therapie mit mindestens 10mg Enalapril pro Tag tolerieren.<br /> <br /><strong> Was haben die Patienten vom neuen Medikament?</strong><br /> Von 8442 untersuchten Patienten hatten diejenigen mit dem Kombinationspräparat weniger Beschwerden, waren körperlich leistungsfähiger, mussten seltener ins Spital und weniger von ihnen starben an Herz-Kreislauf-Krankheiten. Die Studie wurde wegen des guten Ergebnisses sogar vorzeitig abgebrochen.<br /> <br /><strong> Warum wirkt die Kombinationstherapie so gut?</strong><br /> Weil sich die Wirkstoffe optimal ergänzen. Beide wirken durch unterschiedliche Mechanismen vasodilatatorisch und diuretisch. So muss das Herz gegen einen geringeren Widerstand pumpen und wird entlastet. Neprilysin baut diverse endogene vasoaktive Peptide ab, unter anderem natriuretische Peptide, Bradykinin und Adrenomedullin.<sup>3–5</sup> Hemmt man Neprilysin, erhöht sich die Konzentration dieser Substanzen, was der neurohormonalen Überaktivierung bei Herzinsuffizienz entgegenwirkt, die zu Vasokonstriktion, NaCl-Retention und kardialem Remodeling führt.<sup>6, 7</sup> Valsartan blockiert den Angiotensin-II-Rezeptor, was zur Relaxation der Blutgefässe und damit zur Senkung des peripheren Widerstandes führt. Gleichzeitig vermindert es die Ausschüttung von Aldosteron aus der Nebenniere, und es werden weniger Natrium und Wasser retiniert. Es ist aber wichtig, dass man genau schaut, ob der Patient die oben genannten Kriterien erfüllt. Bei Patienten mit erhaltener Auswurffraktion (HFpEF) zum Beispiel ist Valsartan/Sacubitril nicht indiziert.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1604_Weblinks_Seite67.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p><strong>Im Therapiealgorithmus (Abb. 1) heisst es, der ACE-Hemmer solle nur bei den Patienten, die nach einer Initialtherapie mit ACE-Hemmern, Betablockern und Aldosteronantagonisten immer noch symptomatisch sind, durch das neue Kombinationspräparat ersetzt werden. Heisst das, dass man erst abwarten muss, ob die anderen Therapien wirken?</strong><br /> Ja, die anderen Medikamente müssen unbedingt zuerst eingesetzt werden. Bei einer neu diagnostizierten Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion führen die drei Standardmedikamente bei rund 10 % aller Patienten sogar zu einer Heilung. Bei etwa 90 % bleibt die Herzinsuffizienz bestehen und viele dieser Patienten qualifizieren im Verlauf für die neue Kombination Valsartan/Sacubitril. Grundlage der Therapie bei Patienten mit reduzierter Auswurffraktion (HFrEF) bleiben also auch künftig ACE-Hemmer – bei Unverträglichkeit AT1-Blocker –, Betablocker und Aldosteronantagonisten. Aber bei jedem Patienten, der im Verlauf seiner Krankheit dann die Kriterien der PARADIGM-Studie erfüllt, sollte man jetzt nach den neuen Erkenntnissen den ACE-Hemmer durch das neue Kombinationspräparat Valsartan/Sacubitril ersetzen. Bei der Umstellung muss man darauf achten, dass nach der letzten Gabe des ACE-Hemmers vor der ersten Einnahme von Entresto® mindestens 36 Stunden gewartet werden muss, um Angioödemen vorzubeugen. <br /> <br /><strong> Eine weitere Neuerung in den Leitlinien ist ein verfeinerter diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf chronische Herzinsuffizienz. Was halten Sie davon?</strong><br /> Den natriuretischen Peptiden wird jetzt mehr Beachtung geschenkt. Es wird jetzt etwas klarer, wie wichtig die Peptide sind. Bei Patienten mit Symptomen, die auf eine Herzinsuffizienz hinweisen, wird die Wahrscheinlichkeit dafür anhand der Anamnese, der körperlichen Untersuchung und des Ruhe-EKGs ermittelt. Findet man eine oder mehrere Auffälligkeiten, etwa eine koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, bilaterale Ödeme oder ein pathologisches EKG, sollte man die natriuretischen Peptide bestimmen. Ist NT-proBNP ≥125pg/ml beziehungsweise BNP ≥35pg/ml, muss man mit einer Echokardiografie schauen, was im Herzen los ist. Je höher BNP/NT-proBNP sind, umso wahrscheinlicher liegt eine Herzinsuffizienz vor. Je niedriger die Werte sind, umso unwahrscheinlicher ist eine Herzinsuffizienz, und man muss dringend nach einer anderen Ursache der Beschwerden suchen. BNP/NT-proBNP helfen also sowohl im «rule-out» als auch im «rule-in» der Herzinsuffizienz. Jeder Patient, bei dem die Herzinsuffizienz mithilfe der natriuretischen Peptide diagnostiziert worden ist, braucht dann eine Echokardiografie, um deren Ursache zu erkennen.<br /> <br /><strong> Warum funktionieren BNP/NT-proBNP zur Diagnose überhaupt?</strong><br /> Die Peptide zeigen uns, wie schlecht es dem Herzen geht. Sie werden ausgeschüttet, wann immer das Herz Stress hat – sei es durch zu viel Druck oder zu viel Volumen. Die Peptide sind deshalb quasi ein quantitativer Parameter der Herzinsuffizienz. Auf dem Kongress wurde immer wieder kontrovers diskutiert: Was darf und soll man Herzinsuffizienz nennen? Ich und einige Kollegen sind dafür, jede Erhöhung von BNP als Herzinsuffizienz zu definieren. Das Herz sezerniert nämlich nur dann BNP, wenn sich zu viel Volumen im Herzen befindet und/oder dort ein zu hoher Druck herrscht. Eine Neudefinition der Diagnose Herzinsuffizienz anhand der Spiegel der natriuretischen Peptide wäre daher nur konsequent. Je genauer und früher wir die Diagnose stellen, desto besser können wir unseren Patienten helfen.<br /> <br /><strong> Andere Faktoren können aber auch zu einer Erhöhung der BNP-Werte führen, zum Beispiel Vorhofflimmern.</strong><br /> Das ist richtig. Aber nehmen wir jemanden, der kurzatmig ist, Vorhofflimmern hat und erhöhte natriuretische Peptide – das ist eine Herzinsuffizienz! Ebenso ein Patient mit Dyspnoe, hypertropher Kardiomyopathie und erhöhten Peptiden: Da ist der Druck im Herzen zu hoch und er hat auch eine Herzinsuffizienz. Alle Erkrankungen, die zu erhöhten natriuretischen Peptiden führen, sind eine Herzinsuffizienz. Ich hoffe, das wird in die nächsten diagnostischen Kriterien zur Herzinsuffizienz aufgenommen.<br /> <br /> <strong>Adrian Voos aus Groningen sagte in Florenz: «The use of natriuretic peptides is recommended for ruling out heart failure, but not to establish the diagnosis.» Warum wurde auf dem Kongress immer wieder betont, dass die Peptide nicht zur Diagnose genutzt werden sollten und wie wichtig die Echokardiografie ist?</strong><br /> Wie gesagt: Ich bin überzeugt, dass die natriuretischen Peptide sich gut für die Diagnose eignen. Ich glaube, die Aussage von Adrian Voos und anderen Kollegen ist enorm wichtig. Sie erinnern uns daran, dass die Echokardiografie obligat ist, sobald mit BNP/NT-proBNP die Diagnose Herzinsuffizienz gestellt ist. Möglicherweise hat seine Aussage auch etwas mit Standespolitik zu tun. Beim Lesen von Leitlinien muss man immer aufpassen: Sie sind eine Kombination von evidenzbasierten medizinischen Empfehlungen und Standespolitik. Bei den Notfallmedizinern haben die natriuretischen Peptide einen ganz anderen Stellenwert. Da haben alle längst akzeptiert, dass die Peptide ein obligater Baustein in der Diagnose der akuten Herzinsuffizienz sind. Bei der chronischen Herzinsuffizienz haben vielleicht manche Kollegen Sorge, ihre Expertise könne verloren gehen. Die Peptide kann jeder bestimmen, auch jeder Hausarzt, aber ein Echokardiogramm kann eben nur ein Kardiologe machen beziehungsweise jemand, der sich damit auskennt. Was aber vollkommen klar ist: Jeder Patient, bei dem man aufgrund von Symptomen, Untersuchung, EKG und erhöhten natriuretischen Peptiden die Diagnose Herzinsuffizienz gestellt hat, braucht ein Echo. Dies, um zu klären, ob die Ejektionsfraktion verringert ist oder nicht, ob der Patient eine Klappenerkrankung hat, damit man dann die beste Therapie auswählen kann. Natriuretische Peptide und Echo sind zwei gleichberechtigte Untersuchungen, die eine sollte die andere natürlich keinesfalls ausschliessen! Natriuretische Peptide sind zum Beispiel vollkommen unbrauchbar, um zu klären, was die Ursache der Herzinsuffizienz ist. <br /> <br /> <strong>Im Algorithmus in den Leitlinien stehen noch zwei weitere Therapieoptionen neben dem Kombinationspräparat, die bei entsprechender Indikation eingesetzt werden können: zum einen die kardiale Resynchronisationstherapie (CRT) durch biventrikuläre Schrittmacherstimulation, zum anderen das Medikament Ivabradin. Wann kommen diese Behandlungen infrage?</strong><br /> Eine CRT wird für Patienten mit einer Auswurffraktion ≤35 % , einer QRS-Dauer ≥130ms und Linksschenkelblock empfohlen. Eine QRS-Dauer <130ms gilt nach den negativen Ergebnissen der EchoCRT-Studie<sup>8</sup> jetzt als Kontraindikation für eine CRT. Wenn bei Patienten mit Sinusrhythmus unter einer Betablockertherapie in optimaler oder maximal verträglicher Dosierung die Ruheherzfrequenz weiterhin ≥70bpm beträgt oder der Betablocker nicht vertragen wird oder kontraindiziert ist, empfehlen die Leitlinien zusätzlich den If-Kanal-Blocker Ivabradin. <br /> Während die Gabe von Valsartan/Sacubitril aber eine ganz klare Empfehlung mit Evidenzgrad I ist, ist nur die CRT bei einer QRS-Dauer ≥130ms ebenfalls eine Grad-I-Empfehlung. Bei einer Dauer von >150ms hat die Empfehlung aber «nur» einen Evidenzgrad von IIa, genau gleich wie die Ivabradin-Therapie. Bei Ivabradin wurde zum Beispiel nicht gezeigt, dass es die Mortalität senkt. Es gibt klare Argumente für diese Behandlungen, aber auch klare dagegen. Im Gegensatz dazu gibt es bei Valsartan/Sacubitril keinen Zweifel: Wenn der Patient die Einschlusskriterien der PARADIGM-Studie erfüllt, sollte man das geben. An diesem Beispiel sieht man, wie sorgfältig die Leitlinienautoren ihre Empfehlungen ausbalancieren müssen. Ob eine Leitlinie akzeptiert wird, hängt ziemlich stark davon ab.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1604_Weblinks_Seite68.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p><strong>Bisher unterschied man zwischen Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion (HFpEF) und Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion (HFrEF). Jetzt schlagen die Autoren neu auch eine mittlere Gruppe (HFmrEF) vor, bei einer Ejektionsfraktion zwischen 40 und 49 % (Tab. 1). Macht das für Sie Sinn?</strong><br /> Wie bei der Herzinsuffizienz mit erhaltener Pumpfunktion sind in der HFmrEF-Gruppe die natriuretischen Peptide erhöht und echokardiografisch lassen sich strukturelle Veränderungen des linken Ventrikels oder eine diastolische Dysfunktion nachweisen. Etwa 10–20 % der Herzinsuffizienzpatienten sollen in diese «Mittelklasse» fallen. In früheren Leitlinien hiess es immer, es gäbe eine «Grauzone» zwischen HFpEF und HFrEF, eben die Patienten mit einer Auswurffraktion zwischen 40 und 49 % . Ich finde die Einführung der neuen Klasse nicht so gut. Es verstärkt die Wahrnehmung noch, dass die Ejektionsfraktion das A und O bei der Herzinsuffizienz sei. Sie ist aber nur ein Parameter, um das Syndrom der Herzinsuffizienz in Schubladen einzuteilen. Wir sollten eher andere Parameter nehmen, um die Patienten weiter zu klassifizieren und mehr Wert auf die rein klinische Phänotypisierung legen: Hat der Patient zum Beispiel primär eine koronare Herzerkrankung, hat er eine hypertensive Herzerkrankung, eine Tachymyopathie oder primär einen Herzklappenfehler oder eine Systemerkrankung wie die Amyloidose?<br /> <br /><strong> Müssen Leitlinien so lang sein, 85 Seiten?</strong><br /> Ja, das ist schon etwas nervig, aber wahrscheinlich unumgänglich. Denn wenn der behandelnde Arzt nachlesen will, auf welchen Studien die Empfehlungen beruhen, muss er das ausführlich nachlesen können. Ausserdem braucht es auch etwas Platz, weil am Ende jeden Kapitels klar gesagt wird, was für Wissenslücken bestehen. Das finde ich sehr gut: Wir wissen zwar viel, aber wir müssen uns auch klarmachen, dass uns zu vielen Punkten die Evidenz noch fehlt – das hilft dem Kliniker, sein Tun auch mal kritisch zu hinterfragen, und spornt die Forscher an.<br /> <br /><strong> Vielen Dank für das Gespräch!</strong></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Ponikowski P et al: 2016 ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure. Eur Heart J 2016; 37: 2129-200 <br /><strong>2</strong> McMurray JJ et al; PARADIGM-HF Investigators and Committees: Angiotensin-neprilysin inhibition versus enalapril in heart failure. N Engl J Med 2014; 371: 993-1004 <br /><strong>3</strong> Cruden NL et al: Neutral endopeptidase inhibition augments vascular actions of bradykinin in patients treated with angiotensin-converting enzyme inhibition. Hypertension 2004; 44: 913-8 <br /><strong>4</strong> Rademaker MT et al: Neutral endopeptidase inhibition: augmented atrial and brain natriuretic peptide, haemodynamic and natriuretic responses in ovine heart failure. Clin Sci 1996; 91: 283-91 <br /><strong>5</strong> Wilkinson IB et al: Adrenomedullin (ADM) in the human forearm vascular bed: effect of neutral endopeptidase inhibition and comparison with proadrenomedullin NH2-terminal 20 peptide (PAMP). Br J Clin Pharmacol 2001; 52: 159-64 <br /><strong>6</strong> Maric C et al: Interactions between angiotensin ll and atrial natriuretic peptide in renomedullary interstitial cells: the role of neutral endopeptidase. Nephron Physiol 2006; 103: 149-56 <br /><strong>7</strong> Kuhn M: Molecular physiology of natriuretic peptide signalling. Basic Res Cardiol 2004; 99: 76-82 <br /><strong>8</strong> Steffel J et al: The effect of QRS duration on cardiac resynchronization therapy in patients with a narrow QRS complex: a subgroup analysis of the EchoCRT trial. Eur Heart J 2015; 36: 1983-9</p>
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