
ESC-Leitlinien 2020 für Sportkardiologie und körperliche Bewegung bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Autor:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Dr.Josef Niebauer, MBA
Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation
Vorsitzender der Sektion Sportkardiologie European Association of Preventive Cardiology European Society of Cardiology
Universitätsinstitut für präventive und rehabilitative Sportmedizin
REHA Zentrum Salzburg
Forschungsinstitut für molekulare Sport- und Rehabilitationsmedizin
Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg
Institut für Sportmedizin des Landes Salzburg
Sportmedizin des Olympiazentrums Salzburg-Rif
Betriebliche Gesundheitsförderung der Salzburger Landeskliniken
Ludwig Boltzmann Institut für digitale Gesundheit und Prävention
E-Mail: j.niebauer@salk.at
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Auf der Jahrestagung 2020 der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC), die Covid-19-bedingt ausschließlich online stattfand, wurden die ESC-Leitlinien 2020 für Sportkardiologie und körperliche Bewegung bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen (HKE) präsentiert und parallel dazu im „European Heart Journal“ sowie auf der ESC-Website publiziert.1 Unter der Leitung von Antonio Pelliccia und Sanja Sharma wurden die Leitlinien von der Sektion für Sportkardiologie, deren Vorsitzender ich bin, sowie weiteren internationalen Experten verfasst.
Keypoints
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Die neue ESC-Leitlinie bietet alltagstaugliche Hilfe bei Fragen des Sporttreibens von Patienten und Sportlern bei einem breiten Spektrum an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
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Ziel ist es, Patienten und Sportlern verantwortungsvoll, individuell und an das jeweilige Risiko angepasst das Sporttreiben zu ermöglichen.
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Keiner soll einem ungerechtfertigten Risiko ausgesetzt werden, der gesundheitliche Nutzen des Sports soll aber keinem vorenthalten werden.
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Die Möglichkeit der gemeinsamen Entscheidungsfindung („shared decision making“) soll intensiver genutzt werden.
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Analysieren, Abwägen und Beraten sowie Akzeptieren individueller Patientenwünsche sind Voraussetzung, damit die Patienten Sport mit der Intensität und auf dem Niveau, das diesen wichtig ist, nachgehen können.
Hintergrund zur Erstellung der Leitlinien
In diesen Leitlinien haben wir die aktuelle Literatur zu körperlicher Aktivität und Sport bei einem breiten Spektrum von HKE kritisch evaluiert und praktische Empfehlungen für den klinischen Alltag davon abgeleitet. Dabei wurde die zugrundeliegende Literatur gemeinsam bewertet und in Abhängigkeit von deren Stärke und Aussagekraft wurden Empfehlungen von „wird empfohlen oder ist indiziert“ bis hin zu „wird nicht empfohlen“ gegeben. Im Falle von fehlender wissenschaftlicher Evidenz wird darauf hingewiesen, dass die Empfehlung eben nicht auf Publikationen, sondern lediglich auf der Erfahrung der Autoren beruht. Zu einem Schließen dieser Lücken wird wiederholt aufgerufen.
Auch bei chronischen Erkrankungen ist kein Sport keine Option
Die Leitlinie wird inmitten einer seit Jahrzehnten andauernden und sich ungebremst ausbreitenden Pandemie der körperlichen Inaktivität publiziert.
Tatsächlich ist unbestritten, dass Bewegungsmangel ursächlich mitverantwortlich für die kardiovaskulären Risikofaktoren Übergewicht, Diabetes mellitus Typ 2, arterielle Hypertonie und Hypercholesterinämie ist, in deren Konsequenz es zu Herzerkrankungen und vorzeitigem Tod kommt. Auch ist bekannt, dass mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit der stärkste Prädiktor für kardiovaskuläre, aber auch Gesamtmorbidität und Mortalität ist. Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass in diesen Leitlinien eine Trendwende weg von restriktiven Empfehlungen oder gar Sportverbot hin zu verantwortungsvollen, aber dennoch eher großzügigen, individuellen Trainingsempfehlungen vollzogen wurde.
Körperliche Aktivität bis hin zu Sport sind wesentliche Bestandteile der Prävention und Rehabilitation nahezu aller chronischen Erkrankungen, sodass KEIN Sport KEINE Option ist (Abb. 1). Bei der durchaus begründeten Sorge, dass Sport beim jeweiligen Sportler/Patienten ein Trigger für Herzinfarkt oder plötzlichen Herztod sein könnte, muss abgewogen werden, ob ein Verzicht auf körperliche Aktivität und Sport das Risiko für ebensolche nicht gleichfalls erhöht.
Abb. 1: Körperliche Aktivität und Sport sind wesentliche Bestandteile der Prävention und Rehabilitation nahezu aller chronischen Erkrankungen (Abbildung aus Pelliccia A et al.1)
Individuelle Empfehlungen und „shared decision making“
Neu ist auch, dass der Autonomie des Patienten bei der jeweiligen Entscheidung ein größerer Stellenwert gegeben wird. Nach Darlegung aller Befunde und wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber auch Berücksichtigung der individuellen Situation und Bedürfnisse des Sportlers/Patienten, wird nach gründlicher und individueller Risikoabschätzung gemeinsam von Arzt und Patient eine Entscheidung getroffen, die in der Akte vermerkt und von beiden Seiten mitgetragen wird („shared decision making“). Diese Art der Entscheidungsfindung ist v.a. bei HKE relevant, für die die wissenschaftliche Evidenz gering ist und für die somit die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, dass die Kollateralschäden eines Sportverbots schwerwiegender sind als das kontrollierte, individuell dosierte Betreiben von Sport.
Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit für einen plötzlichen Herztod beim Sport erfreulicherweise sehr niedrig, sodass eine zu restriktive Handhabung der Sportfreigabe dem Sportler/Patienten nicht gerecht wird. Allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von kardiovaskulären Risikofaktoren bzw. bekannten oder auch unbekannten HKE. Daher auch der einhellige Rat, dass Personen, die völlig inaktiv sind und an fortgeschrittenen Herzerkrankungen leiden, ihren Arzt konsultieren sollten, bevor sie mit dem Sporttreiben beginnen. Ziel ist es, nach gründlicher Diagnostik Art, Umfang und Intensität der körperlichen Aktivität an das individuelle Risiko anzupassen. Wie gesunde Erwachsene jeden Alters sollen auch Patienten mit HKE an 3–7 Tagen der Woche insgesamt mindestens 150 Minuten pro Woche mit moderater Intensität Sport treiben. Moderate Intensität bedeutet, dass es zu einem Anstieg der Atem- und Herzfrequenz begleitet von Schwitzen kommt und man sich in kurzen, nicht aber in langen Sätzen unterhalten kann. Nicht nur Patienten mit Übergewicht, Bluthochdruck oder Diabetes, sondern allgemein allen Personen wird empfohlen, zusätzlich mindestens dreimal pro Woche Krafttraining auszuüben.
Die Leitlinien decken nicht nur ein breites Spektrum an Sport bei unterschiedlichen HKE ab, sondern geben auch Empfehlungen zu körperlicher Aktivität und Sport während der Schwangerschaft oder in großer Höhe oder Tiefe, Kälte oder Hitze ab, worauf hier nicht eingegangen werden kann.
Besondere Aspekte von Sport und Bewegung in speziellen Situationen
Plötzlicher Herztod (SCD)
SCD ist die häufigste sportassoziierte Todesursache bei Sportlern. Während es bei Sportlern <35 Jahren meist angeborene Herzerkrankungen sind, aber auch eine Myokarditis ursächlich sein kann, sind es bei Sportlern >35 Jahre meist erworbene HKE, vor allem die koronare Herzkrankheit (KHK). Die Sporttauglichkeitsuntersuchung vor einer Teilnahme an Freizeit- oder Leistungssport zielt daher auf die Erkennung von Krankheiten im Zusammenhang mit SCD ab und beinhaltet neben dem Ruhe-EKG auch ein Belastungs-EKG (wenn möglich eine Spiroergometrie) und je nach Sportart sowie Trainingsumfang und Trainingsintensität eine Echokardiografie.
Bei entsprechendem Alter und Risikofaktoren kann es zielführend sein, den Kalziumscore der Koronararterien mittels Koronar-CT zu bestimmen. Sofern die Befunde ein geringes Risiko für ein sportassoziiertes kardiales Ereignis ergeben, kann der Sportler/Patient für Freizeit-, aber auch Leistungssport freigegeben werden. Bei Personen mit KHK und einem hohen Risiko für ein sportassoziiertes Ereignis sowie auch bei myokardialer Ischämie (auch aufgrund einer Koronaranomalie) wird Leistungssport nicht empfohlen. Nach einem akuten Koronarsyndrom, aber auch bei chronischer KHK werden eine Rehabilitation sowie regelmäßige Kontrolluntersuchungen empfohlen.
Chronische Herzinsuffizienz
Trainingsprogramme für Patienten mit Herzinsuffizienz verbessern die Belastungstoleranz und Lebensqualität, sollten jedoch erst eingeleitet werden, nachdem die medizinische Therapie optimiert wurde. Eine maximale Ergometrie (möglichst Spiroergometrie) ist die Voraussetzung für die Beurteilung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit, der hämodynamischen Funktion und der Induzierbarkeit von Arrhythmien unter Belastung. Auch sind die Ergebnisse der Ergometrie die Basis für die individuelle Dosierung der Trainingstherapie.
Herzklappenerkrankung
Asymptomatische Patienten mit leichtgradigen Herzklappenerkrankungen können im Allgemeinen am Leistungssport teilnehmen. Asymptomatische Patienten mit mittelschwerer Klappenerkrankung, guter myokardialer und hämodynamischer Funktion und ohne Anzeichen einer Myokardischämie oder von komplexen Arrhythmien während einer maximalen Ergometrie können nach gemeinsamer Entscheidungsfindung durchaus am Leistungssport teilnehmen.
Aortopathie
Personen mit einem Aortenwurzeldurchmesser <40mm haben das geringste Risiko für eine Dissektion. Eine Risikostratifizierung durch Ergometrie und Bildgebung (Computertomografie/kardiale Magnetresonanztomografie) wird vor Beginn des Trainings empfohlen. Sportliche Teilnahme verringert das Risiko von kardiovaskulären Ereignissen und Mortalität. Regelmäßige Kontrollen sind Grundvoraussetzung.
Kardiomyopathien, Myokarditis und Perikarditis
Bei Patienten mit hypertropher Kardiomyopathie sollte eine individuelle Empfehlung für die Teilnahme am Sport gegeben werden. Patienten mit akuter Myokarditis oder Perikarditis dürfen nicht am Sport teilnehmen. Nach Ausheilung einer Myokarditis (meist 3–6 Monate nach Diagnosestellung) oder Perikarditis (je nach Verlauf eher als bei Myokarditis) erfolgt eine umfassende Diagnostik einschließlich einer maximalen Ergometrie (möglichst Spiroergometrie), um das Risiko von belastungsinduzierten Arrhythmien zu beurteilen.
Eine leicht reduzierte linksventrikuläre Ejektionsfraktion (LVEF) mit LV-Dilatation kann eine physiologische Anpassung an das Training sein, aber auch auf eine bestehende Kardiomyopathie hinweisen. Trainingsanamnese (z.B. langjähriger intensiver Ausdauersport), Verlaufskontrollen, Stressechokardiografie und/oder Kernspintomografie möglichst unter körperlicher Belastung sind hier zielführend.
Bei nachgewiesener arrhythmogener Kardiomyopathie ist Leistungssport kontraindiziert, da dieser nachweislich zu einem akzelerierten Krankheitsverlauf mit frühzeitigem Tod führen kann.
Arrhythmien und Kanalopathien
Drei Prinzipien sind wesentlich:
Verhinderung lebensbedrohlicher Arrhythmien während des Trainings,
Symptommanagement und
Verhindern eines sportinduzierten Fortschreitens des arrhythmogenen Substrats.
Bei Athleten mit supraventrikulärer Tachykardie (SVT) sollte eine Präexzitation ausgeschlossen und möglichst eine kurative Katheterablation in Betracht gezogen werden. Bei professionellen Leistungssportlern mit asymptomatischer Präexzitation wird eine elektrophysiologische Untersuchung und nach Risikoabschätzung gegebenenfalls eine Ablation empfohlen.
Bei Patienten/Sportlern mit rezidivierendem symptomatischem Vorhofflimmern, die keine Medikamente einnehmen möchten oder diese nicht vertragen, wird eine Katheterablation empfohlen. Während einer Antikoagulation ist von Kontaktsportarten abzusehen.
Bei Vorhofflattern sollte ebenfalls eine Ablation in Betracht gezogen werden.
Patienten/Sportler mit ventrikulären Rhythmusstörungen müssen auf zugrunde liegende strukturelle oder familiäre arrhythmogene Erkrankungen untersucht werden. Bei Kanalopathien wie Long-QT- oder Brugada-Syndrom wird zur Entscheidungsfindung gegebenenfalls ein Kardiogenetiker und/oder ein Elektrophysiologe hinzugezogen.
Patienten mit Herzschrittmachern sollten unter Berücksichtigung der Grunderkrankung zum Sport ermutigt werden (cave: Kollisionssport).
Dies gilt auch für Patienten/Sportler mit implantierbaren Kardiovertern/Defibrillatoren, bei denen jedoch zusätzlich die Konsequenzen von möglichen Schocks und/oder Synkopen während des Sports sowohl für sie selbst als auch für Beteiligte berücksichtigt werden müssen (z.B. Tauchen, Klettern).
Angeborene Herzerkrankungen
Patienten mit angeborenen Herzerkrankungen sollten nach Möglichkeit zum Sport ermutigt werden. Wesentlich für die Entscheidungsfindung sind: ventrikuläre Funktion, Pulmonalarteriendruck, Aortendurchmesser, ggf. Arrhythmien und Sauerstoffsättigung. Eine Spiroergometrie ist unabdingbar.
Fazit
In Summe gibt die neue Leitlinie alltagstaugliche Hilfestellung für die Entscheidung bei Fragen des Sporttreibens von Patienten und Sportlern bei einem breiten Spektrum an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ziel ist es, Patienten und Sportlern verantwortungsvoll, individuell und an das jeweilige Risiko angepasst das Sporttreiben zu ermöglichen, sodass diese keinem ungerechtfertigten Risiko ausgesetzt sind, ihnen aber auch nicht der gesundheitliche Nutzen des Sports vorenthalten wird. Bisher wurde zu selten die Möglichkeit der gemeinsamen Entscheidungsfindung („shared decision making“) genutzt. Durch Analysieren, Abwägen und Beraten sowie Akzeptieren des individuellen Wunsches des Patienten wird uns für den Alltag ein bisher zu wenig genutztes Instrument an die Hand gegeben, welches uns verantwortungsvoll Partner der Patienten/Sportler sein lässt, damit diese ihrem Sport mit der Intensität und auf dem Niveau, das ihnen wichtig ist, nachgehen können.
Literatur:
1 Pelliccia A et al.: 2020 ESC Guidelines on sports cardiology and exercise in patients with cardiovascular disease: the Task Force on sports cardiology and exercise in patients with cardiovascular disease of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J 2021; 42(1): 17-96
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