
Entscheidungshilfen für die Statintherapie
Bericht:
Dr. med. Christine Adderson-Kisser, MPH
Medizinjournalistin
Wie gut sind klinische Scores und Biomarker? Dieser Frage widmet sich Teil zwei unserer Lipidserie, die basierend auf dem Lipidologie-Kurs der AGLA entstanden ist, der dieses Jahr in der Schweiz zum ersten Mal stattgefunden hat.
Es gibt verschiedene Methoden der Stratifizierung des kardiovaskulären (CV) Risikos. «Vom Prinzip her folgen alle Guidelines zunächst der gleichen Strategie, nämlich der Unterscheidung von Personen, die schon eine manifeste atherosklerotische Erkrankung haben, und denjenigen ohne manifeste atherosklerotische Erkrankung», erklärte Prof. Dr. med. Arnold von Eckardstein vom Institut für Klinische Chemie des Universitätsspitals Zürich. Erstere fallen in den Bereich der Sekundärprävention, wobei kein Unterschied gemacht wird zwischen der Art (STEMI oder NSTEMI, Schlaganfall, PAVK) oder dem Zeitpunkt (akut/alt) des Ereignisses oder ob es sich um eine in der Bildgebung nachgewiesene Atherosklerose handelt – sie alle werden in den Guidelines in einem Block zusammengefasst (Abb. 1) und sollten eine intensive Statintherapie erhalten.
Abb. 1: Prinzipien der kardiovaskulären Risikostratifizierung und des Managements (Quelle: von Eckardstein, nicht publiziert und mit freundlicher Genehmigung)
Anders sieht es bei Personen ohne manifeste atherosklerotische Erkrankung aus, also in der Primärprävention: Bei einem Teil von ihnen ist ein einzelner Risikofaktor ausgeprägt (Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Bluthochdruck, chronische Nierenerkrankung), wodurch schon per se ein moderates bis hohes kardiovaskuläres Risiko vorliegt. Bei den meisten aber ist es laut von Eckardstein nicht ein einzelner, sondern die Summe mehrerer Risikofaktoren, die ausschlaggebend dafür ist, ob ein niedriges, ein moderates oder ein hohes Risiko vorliegt. «Und diese Summe nimmt im Laufe des Lebens zu – und somit auch das kardiovaskuläre Risiko», so der Experte.
Für jede Risikogruppe wurden von der europäischen Kardiologiegesellschaft Zielwerte für das «Low-density lipoprotein»(LDL)-Cholesterin festgelegt, die auch von der AGLA übernommen wurden. Bei sehr hohem Risiko, d.h. nach bereits stattgehabtem kardiovaskulärem Ereignis, bei schwer ausgeprägter Niereninsuffizienz, Diabetes mit Zielorganschäden oder lange bestehendem Typ-1-Diabetes, liegt dieser Zielwert bei 1,4mmol/l. Ein hohes Risiko findet sich bei Diabetikern ohne Organschaden oder bei Personen, die einen einzelnen oder typischen Risikofaktor wie Bluthochdruck haben. Hier gilt der Zielwert 1,8mmol/l. Bei moderatem Risiko (z.B. junge Diabetiker ohne Organschaden) wird als Ziel ein Wert von 2,6mmol/l empfohlen, für die durchschnittliche Bevölkerung ohne Risikofaktoren gilt ein Wert von unter 3,0mmol/l.1
Dass die Risikostratifizierung aber letztlich doch etwas komplizierter ist, zeigte von Eckardstein anhand des Schemas von Visseren et al. auf, in dem das mittels klinischen Scores errechnete CV Risiko zunächst nach Alter stratifiziert bewertet wird, was zu unterschiedlichen Zielwerten bei der LDL-Senkung führt.2 Mit dem Hinzukommen weiterer Risikofaktoren wird das Ziel dann schrittweise strenger definiert. Hier stellt sich nun die generelle Frage: Welche Risikofaktoren sollten als Parameter in die Berechnung des CV Risikos – und damit in klinische Scores – eingehen und ab welchem Wert?
Wie klinische Scores funktionieren – und wie gut ihre Aussagekraft ist
Wie in der Diagnostik kann man auch in der Prognostik zur Berechnung einer Wahrscheinlichkeit ROC-Kurven (Receiver Operator Characteristic Curve) einsetzen, in denen Sensitivität mit Spezifität verglichen wird. Je niedriger man den Cut-off-Wert eines Parameters ansetzt, desto wahrscheinlicher ist es, bei einer Person das Risiko z.B. für einen Herzinfarkt richtig vorherzusagen (richtig positiv). Allerdings sagt man bei zunehmend niedrigeren Cut-off-Werten auch bei einem immer grösser werdenden Anteil an Personen, die keinen Herzinfarkt erleiden werden, ein erhöhtes Risiko vorher (falsch positiv). Es gilt also, genau den Cut-off-Wert zu finden, bei dem beide – Sensitivität und Spezifität – möglichst hoch ausfallen. Die ROC-Kurve ist letztlich das grafische Ergebnis aller Wertepaare für Sensitivität und Unspezifität (100 – Spezifität [%]) für jeden einzelnen Cut-off-Punkt. Der ideale Test hätte dann eine AUC («area under the curve»; Fläche unter der Kurve) von 100%, der schlechteste Testwert läge bei 50%. «Die 100% erreicht so gut wie kein Test, aber man nähert sich diesem Wert möglichst an», erläuterte von Eckardstein. «Bei diagnostischen Tests werden mindestens 80% gefordert. Beim hochsensitiven diagnostischen Troponin- Schnelltest beispielsweise sind wir mit 98–99% schon richtig gut. Wenn wir jetzt aber die Test-Aussagekraft einzelner prognostischer Risikofaktoren anschauen, sehen wir, dass keiner die 80% schafft. Selbst der Score für LDL-Cholesterin nicht, bei dem der Wert immerhin schon bei 70% liegt. Für den Body-Mass-Index dagegen sieht es mit nur 55% ganz düster aus. Und das ist nicht verwunderlich, denn hier geht es ja um die Wahrscheinlichkeit, etwas vorauszusagen, das in 10 Jahren passiert. Je kürzer der Vorhersagezeitraum ist, desto genauer wird die Aussage.» Da also einzelne Risikofaktoren keinen besonders guten prognostischen Wert haben, wurde versucht, durch Algorithmen, die mehrere Einzelparameter einbeziehen, aussagekräftigere Scores zu entwickeln.
Lange Zeit war der PROCAM-Score federführend, der auch als Basis des AGLA-Algorithmus diente und in den die Parameter Rauchen, LDL-Cholesterin, Diabetes, HDL-Cholesterin, systolischer Blutdruck, familiäre Belastung und Triglyzeride eingehen. «Anhand dieses Scores konnte ein prognostischer Wert von 82,2% erreicht werden. Allerdings bezieht sich diese Testgüte auf die Population, mit deren Daten der Algorithmus ursprünglich trainiert wurde. In anderen Populationen kann er anders ausfallen. Das kennen wir bereits von dem bekanntesten Algorithmus, dem Framingham-Score, der in verschiedenen Populationen eingesetzt wird und Testgüte-Werte zwischen 60 und 80% liefert.»
Die Qual der Wahl? Welche Scores aktuell zur Verfügung stehen
Je nach Land oder Nation gibt es unterschiedliche Methoden zur Abschätzung des kardiovaskulären Risikos asymptomatischer Menschen, die auf unterschiedlichen Algorithmen beruhen: In der Schweiz wird der AGLA-Algorithmus eingesetzt, mit dem das Risiko eingeschätzt wird, in den nächsten 10 Jahren einen tödlichen oder nicht tödlichen Herzinfarkt zu erleiden. Das Risiko wird als hoch eingestuft, wenn der Schätzwert über 20% liegt (Abb. 2).
Abb. 2: Risiko asymptomatischer Personen (Quelle: von Eckardstein, nicht publiziert und mit freundlicher Genehmigung)
Der klassische Algorithmus in Amerika war bis vor 10 Jahren der Framingham-Algorithmus, der dann durch die Pooled Cohort Equation (PCE) ersetzt wurde, in die ähnliche Risikofaktoren eingehen wie in den PROCAM-Score – plus der Parameter «Ethnizität». Der Endpunkt ist hier mit «tödliche und nicht tödliche kardiovaskuläre Ereignisse» etwas weiter gefasst, und: In den USA wurde die Risikogrenze von 20% auf 7,5% herabgesetzt. «Das muss man auch bedenken: Was als hohes Risiko gilt, wird heute anders beurteilt als noch vor 20 oder 30 Jahren», gab von Eckardstein zu bedenken.
In Europa gab es bis 2021 zunächst den SCORE1 (Systematic Coronary Risk Estimation), der das Risiko nur für tödliche kardiovaskuläre Ereignisse eingeschätzt hatte und daher bereits ab einem Wert von 5% von einem hohen Risiko ausging. Seit 2021 gelten aktuell in Europa – und als Alternative zum AGLA-Score auch in der Schweiz – der SCORE2 (40- bis 69-Jährige) und der SCORE2-OP (70- bis 89-Jährige), deren Endpunkt jetzt ebenfalls das Risiko für tödliche und nicht tödliche kardiovaskuläre Ereignisse umfasst. Was hier ein Novum war: Der Cut-off-Wert für ein erhöhtes Risiko wird jetzt altersabhängig angegeben. Die Risikoschwelle liegt für jüngere Menschen also tiefer als für ältere. Während somit ein unter 50-Jähriger ein niedriges bis moderates CVD-Risiko bei einem Wert von <2,5% aufweist, liegt die Grenze bei >70-Jährigen bei <7,5%.2 «Ich persönlich sehe ein Problem bei der Farbgebung des SCORE2, da der orangefarbene Bereich rein optisch ein moderates Risiko annehmen lässt, was aber nicht stimmt: Denn das tiefe und das moderate Risiko wurden in grüner Farbgebung zusammengefasst und Orange bedeutet bereits, ein hohes Risiko zu haben», betonte von Eckardstein. «Und wenn man sich in der Tabelle anschaut, was für einen Mann mit 65 Jahren gilt, sieht man, dass er auch schon ohne Risikofaktoren wie Rauchen oder Bluthochdruck alleine aufgrund seines Alters ein erhöhtes Risiko hat. Das unterstreicht die Bedeutung des Faktors Alter.»
Beim SCORE2 gibt es zudem für unterschiedliche Länder unterschiedliche Tabellen: In den Tiefrisikoländern Schweiz, Frankreich, Spanien, den Benelux-Ländern, England oder Norwegen gilt eine andere Tabelle als in den Hochrisikoländern Osteuropas, wie Russland, dem Baltikum, der Ukraine oder Weissrussland, aber auch etlichen Ländern auf dem Balkan. Für Mitteleuropa, also Deutschland, Italien oder Österreich, gibt es wiederum andere Tabellen, da hier ein höheres Risiko besteht als z.B. in der Schweiz. Warum ist aber bei gleichem Risikofaktorenprofil das Risiko in der Schweiz versus Deutschland, versus Polen oder versus Russland eigentlich so unterschiedlich? Zum einen, weil nicht alle Lebensstilfaktoren über die in den Score eingehenden Parameter abgebildet werden, wie die Ernährung, die Exposition gegenüber Umweltfaktoren oder der sozioökonomische Status. Zum anderen, weil auch genetische Unterschiede innerhalb Europas letztlich nicht ausgeschlossen werden können, wie aktuelle Arbeiten gezeigt haben. Doch auch hier gebe es laut dem Experten Fälle, die nicht optimal abgedeckt werden, z.B. die Risikoeinschätzung eines Russen, der vor 10 Jahren in die Schweiz gezogen ist – welche Tabelle hier gilt, sei nicht definiert.
Ganz neu und erst vor Kurzem online über die ESC nutzbar ist ein eigener Score für Diabetiker, der SCORE2-Diabetes, bei dem noch weitere Grössen eingehen wie das HbA1c und die Nierenfunktion.3 Auch diese Version soll künftig online im AGLA-Score angelegt werden, der bereits in puncto Altersstratifizierung an den SCORE2 angepasst wurde: Das Alter ist nun nicht mehr als Parameter im Score enthalten. Vielmehr dient nach Berechnung des Gesamtrisikopunktwerts auf Basis der verbliebenen Risikofaktoren in einem zweiten Schritt auch hier das Alter – sowie das Geschlecht – zur Einordnung, ob ein erhöhtes Risiko vorliegt, bei dem eine Statintherapie indiziert ist.
Limitationen der Risikoabschätzung: Patientenalter und Methodenabhängigkeit
Die Vorhersagequalität der unterschiedlichen Scores werde zum einen vom Alter der getesteten Person beeinflusst. So sei die Sensitivität der Scores bei jüngeren Menschen niedriger als bei älteren, dafür sei aber die Spezifität bei ihnen höher als bei den Älteren, erklärte von Eckardstein.
Zum anderen hänge die Risikoabschätzung von der verwendeten Methode ab: «Vergleicht man die individuellen Testergebnisse, die man für eine bestimmte Person unter Anwendung verschiedener Scores erhält, miteinander, fällt auf, dass es mitunter deutliche Diskrepanzen in der Einschätzung des Risikoausmasses gibt – was dann unterschiedliche Konsequenzen für die Indikation zur Statinbehandlung haben kann», erläuterte von Eckardstein.
Diese Unterschiede ergeben sich dadurch, dass die Algorithmen der Scores auf verschiedenen Methoden beruhen. In einer bereits 2019 publizierten Arbeit wurden vier Scores miteinander verglichen – Framingham-Score (FRS), PCE, SCORE sowie Reynolds Risk Score (RRS) –, wobei sich nur in einem sehr geringen Prozentsatz eine Übereinstimmung der Risikoeinschätzung in allen Scores zeigte.4 Auch in einer Untersuchung von Mancini et al. von 2024, in der das Risiko von über 7000 modellierten Menschen mit dem FRS, dem PCE und vier Versionen des SCORE2 eingeschätzt wurde, lagen die Übereinstimmungen nur bei 66% bis 79%.5 Nach Rekalibrierung der Scores wurden Werte zwischen 76% und 80% erreicht – was immer noch um die 20% Diskrepanzen ausmacht. «Wenn wir also für den gleichen Patienten hier in der Schweiz einmal den AGLA-Score und einmal den SCORE2 anwenden, können wir unter Umständen zu völlig verschiedenen Risikoeinschätzungen kommen – für einen 65-Jährigen zum Beispiel liegt das Risiko unabhängig vom Raucherstatus beim SCORE2 hoch, beim AGLA-Score dagegen tief –, was dann im einem Fall zur Statingabe führt und im anderen nicht», führte von Eckardstein die Problematik exemplarisch vor Augen.
AGLA-Score und SCORE2 im Vergleich
In der Schweizer CoLaus-Studie wurden 5500 Menschen über 10 Jahre hinsichtlich des Auftretens eines Myokardinfarktes beobachtet und anschliessend die Vorhersagequalität der zuvor bestimmten Werte aus AGLA-Score und SCORE2 miteinander verglichen. Die noch unpublizierten Ergebnisse der Analyse deuten darauf hin, dass der SCORE2 im Hinblick auf die erwartete und beobachtete Herzinfarktwahrscheinlichkeit sensitiver ist, als der AGLA-Score. Gemäss der Risikoeinschätzung des SCORE2 müssten mehr augenscheinlich gesunde Menscheneine Statinbehandlung erhalten, als mit dem AGLA-Score.6Im Pocket-Guide und dem online-Risikokalkulator der AGLA werden deswegen ab 2025 die Risikoschwellenwerte des AGLA-Scores denen von SCORE2 der Europäischen Kardiologie Gesellschaft angepasst.
Da der AGLA-Score bei den >70-Jährigen nicht mehr geeignet ist, das Risiko gut einzuschätzen, sollte hier auf den SCORE2 bzw. den SCORE2-OP zurückgegriffen werden», fasste der Experte zusammen.
Indikation zur Statintherapie – reichen die Scores zur Beurteilung aus?
«Zwei Dinge sind wichtig: erstens eine möglichst genaue Berechnung des Risikos des Patienten, in den nächsten 10 oder 20 Jahren ein tödliches oder nicht tödliches kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, und zweitens die Patienten zu identifizieren, die einen möglichst sicheren und hohen Nutzen von einem Statin haben», erläuterte Prof. Dr. med. Christian Müller vom Universitären Herzzentrum Basel. «Hier gibt es zwar eine grosse Überlappung, aber es ist nicht das Gleiche – das eine ist eine Risikoeinschätzung, das andere eine evidenzbasierte Entscheidung zu einer Intervention.»
In die Prognose-Scores geht allerdings eine Vielzahl an Faktoren, die zu einem erhöhten CV Risiko beitragen, gar nicht ein. Dazu gehören Faktoren, von denen wir schon wissen, dass sie zum Risiko beitragen, wie Lärmbelästigung, Luftverschmutzung, Hitze oder Armut, aber auch noch unbekannte Faktoren, die einen nicht unerheblichen Anteil des Risikos ausmachen – wie bereits daran ersichtlich ist, dass das Risiko von Personen mit den gleichen bekannten Risikofaktoren variiert, je nachdem, in welchem Land sie leben. «Zum Teil um den Faktor 3, was wirklich beachtlich ist! Und dieser Bereich der Unsicherheit – dass wir eben so viele Faktoren noch gar nicht kennen – erklärt auch unsere Unsicherheit bei der Frage, wer einen Nutzen von der Statintherapie hat und wer nicht.»
Anschauliche Konzepte der Risikoeinschätzung: «kumulative LDL-Exposure» und «lifetime cardiovascular models»
«In der Kardiologie der letzten Dekaden ist es zunehmend zu einem Umdenken hin zur präventiven Kardiologie gekommen, bei der die Verhinderung oder das Hinauszögern von kardiovaskulären Erkrankungen immer wichtiger wird – gemäss dem Prinzip der Ideal Cardiovascular Health», erläuterte Müller. Hier ist das LDL-Cholesterin einer der am besten untersuchten Faktoren in Bezug auf die Plaquebildung in Gefässen. Mit der «kumulativen LDL-Exposure» wird der Schwellenwert in mg/Jahren angegeben, ab dem so viele Plaques entstanden sind, dass ein Herzinfarkt mit einer Wahrscheinlichkeit von 1% auftritt. So kann man je nach Höhe des LDL-Cholesterin-Wertes einer Person das Alter abschätzen, in dem diese Schwelle erreicht wird und somit das CV Risiko steigt. «Bis zum Erreichen des Schwellenwertes haben wir eine lineare Kurve für das Risiko, ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, ab da wird sie dann aber exponentiell – deshalb ist es sehr erstrebenswert, den Zeitpunkt des Erreichens der Hemmschwelle möglichst weit nach hinten zu schieben. Und wurde sie schon erreicht, ist das umso mehr Grund, den LDL-Wert durch eine Statintherapie zu senken.» Der Nutzen der Statintherapie hängt zudem von der Behandlungsdauer ab, egal wie stark ausgeprägt das Ausmass der LDL-Senkung ist – mit jedem weiteren Jahr wird das Risiko für CV Ereignisse stärker gesenkt. «Dieses Konzept macht das Risiko für den einzelnen Patienten ganz individuell greifbar und in Form der LDL-Werte mit oder ohne Statintherapie auch abschätzbar. Die Statineinnahme wird von den Patienten dann auch eher als eine Massnahme der Prävention denn als zusätzliche Belastung empfunden.»
Ein ähnliches Konzept des quantifizierbaren Risikos verfolgen die ESC-Guidelines. Mit den «lifetime cardiovascular models» wird berechnet, wie viele Lebensjahre ohne CV Ereignisse ein Mensch pro Absenken des LDL-Cholesterins um 1mmol/l gewinnt. «Die Anzahl der Jahre, um die der Herzinfarkt oder Schlaganfall nach hinten verschoben wird, ist den Patienten meist sehr viel anschaulicher erklärbar als eine Wahrscheinlichkeit für einen 10-Jahres-Zeitraum wie bei den Scores – und lässt sie der Einnahme eines Statins, das dazu noch ein so gut dokumentiertes Sicherheitsprofil aufweist, deutlich positiver gegenüberstehen.»
Individuelle Risikobestimmung: Biomarker
Um den individuellen kardiovaskulären Status quo einer Person für die Risikoberatung einschätzen zu können, muss man zunächst einige Parameter bestimmen, die in den Scores gar nicht abgebildet werden. Dazu gehören das proBNP und das hochsensitive kardiale Troponin T und/oder I (hs-cTn), aber auch die eGFR, evtl. auch das Lipoprotein a. «Das hs-cTn als quantitativer Marker für eine Herzmuskelzellschädigung kann das Risiko für kardiovaskulären Tod – weniger für den Myokardinfarkt – viel genauer vorhersagen, als es die Scores tun, wie Studien zeigen konnten. Allerdings zeigt sein Wert nicht an, worin die Ursache liegt, und er führt daher nicht direkt zu einer therapeutischen Konsequenz», erklärte Müller. Anders beim proBNP, das sehr gut geeignet sei, um den hämodynamischen Stress und die Herzinsuffizienz zu quantifizieren, und somit nicht nur einen guten Risikobiomarker, sondern auch einen guten diagnostischen Marker mit therapeutischer Konsequenz darstelle. «Das Lipoprotein a eigne sich dagegen nur im Bereich sehr hoher Werte als Risikoprädiktor, in den niedrigeren Bereichen sei seine Aussagekraft dagegen gering», schloss Müller.
Quelle:
Vortrag «Kardiovaskuläre Risikostratifizierung mittels klinischer Scores und Algorithmen» von Prof. Dr. med. Arnold von Eckardstein und Prof. Dr. med. Christian Müller; 1.AGLA-Kurs Klinische Lipidologie, 18.–19. Januar 2024, Zürich
Literatur:
1 Mach F et al.: 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J 2020; 41: 111-88 2 Visseren FLJ et al.: 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur Heart J 2021; 42: 3227-337 3 SCORE2-Diabetes Working Group and the ESC Cardiovascular Risk Collaboration: SCORE2-Diabetes: 10-year cardiovascular risk estimation in type 2 diabetes in Europe. Eur Heart J 2023; 44: 2544-56 4 Pennells L et al.: Equalization of four cardiovascular risk algorithms after systematic recalibration: individual-participant meta-analysis of 86 prospective studies. Eur Heart J 2019; 40: 621-31 5 Mancini GBJ et al.: Recommendations for statin management in primary prevention: disparities among international risk scores. Eur Heart J 2024; 45: 117-28 6 Singh A et al.: Cardiovascular risk and statin eligibility of young adults after an MI: Partners YOUNG-MI Registry. J Am Coll Cardiol 2018; 71: 292-302